Wiederverwendung von Baumaterial: Angesagte Bauteile von gestern
Wer heute eine schützenswerte Industriehalle aufstockt, tut dies möglichst klimagerecht mit wiederverwendetem Baumaterial. Und wer ein Bürogebäude nachhaltig saniert, geht dabei mit der Bausubstanz sorgsam um. Wie zirkuläres Bauen funktioniert, zeigen zwei Winterthurer Projekte exemplarisch.
Quelle: zvg
Zirkuläres Bauen beginnt mit der Materialsuche: Im Sulzer Werk 1 wurden diverse Kastenfenster gesichert, die nun beim Projekt Atelierhaus K.118 für den Winterthurer Lokalkolorit sorgen.
Im künftigen Atelierhaus K.118 auf dem ehemaligen Sulzerareal erhalten wertige Bauteile aus Gebäudeabbrüchen ein zweites Leben. Derweil haben im sanierten Bürogebäude der Axa-Versicherung an der Römerstrasse 17 aufgefrischte Originalbauteile weiterhin einen glänzenden Auftritt. Die beiden Winterthurer Schauplätze mögen auf den ersten Blick wenig gemein haben. Doch eines verbindet sie: Der Anspruch seitens Planer, Totalunternehmer und Bauherrschaften eine Bestandsliegenschaft mit gebrauchten Bauteilen klimagerecht umzubauen.
Marc Angst vom Baubüro «in situ» weiss, wie dies geht. Er begleitet als Wiederverwendungsexperte den Umbau der früheren Sulzer-Modellschreinerei am Winterthurer Lagerplatz, wo derzeit 1100 Quadratmeter gewerbliche Nutzfläche entstehen. Im Auftrag der Eigentümerin Stiftung Abendrot, die als grosse Schweizer Pensionskasse betont nachhaltig investiert, wird der Kopfbau der Halle 118 mit möglichst wenig neuem Baumaterial um drei Etagen aufgestockt. «Wir treiben bei diesem Pilotprojekt den Wiederverwendungsansatz auf die Spitze», sagt Angst nicht ohne Stolz. «In seiner Radikalität ist es schweizweit einzigartig: Beim Atelierhaus ist letztlich 60 Prozent des infrage kommenden Materialvolumens wieder- oder weiterverwendet.»
Quelle: Gabriel Diezi
Auf dem Winterthurer Sulzerareal wird der Kopfbau einer ehemaligen Industriehalle zum Atelierhaus K.118 aufgestockt – mit 60 Prozent wiederverwendeten Baumaterialien.
Am Anfang steht die Suche
Statt noch während Jahrzehnten nutzbare Bauteile, in denen viel graue Energie steckt, energieintensiv zu recyceln oder gar zu entsorgen, werden diese dank «in situ» sorgsam demontiert, gelagert, aufbereitet und im Atelierhaus K.118 wiederverwendet. «Der CO2-Fussabdruck des Gebäudes wird so quasi halbiert, ohne die Werte bei der Betriebsenergie zu erhöhen», sagt Angst. «Und dies notabene im Vergleich mit den strengen Zielwerten für 2000-Watt-konformes Bauen.» Konkret gelangen beim Atelierhaus-Projekt so rund 500 Tonnen CO2weniger in die Atmosphäre. Zudem erhält man Werte – und dies nicht nur im materiellen Sinn. «Durch die Wiederverwendung von Materialien mit Patina und eigener Geschichte schaffen wir ein Gebäude mit grossem Identifikationspotenzial, das etwas zu erzählen hat», so Angst.
Was er damit meint, zeigt sich im Material-Aussenlager gleich neben der Baustelle. Hier lagern fürs Atelierhaus bestimmte Occasions-Bauteile: Geländer, sanitäre Anlagen, Küchenschränke, Backsteine und Rohre, die allesamt mit einem Lagerpass und eigener Identifikationsnummer versehen sind. Bei der Suche nach Bauteilen helfe ein gutes persönliches Netzwerk, dennoch brauche es bezüglich des Timings immer auch Glück, betont Angst. So wie bei der massiven Eichentreppe aus einem Wohnhaus, die sie erst diese Woche erhalten hätten. «So etwas Hochwertiges findet sich doch heute kaum mehr!»
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«Durch die Wiederverwendung von Materialien mit eigener Geschichte schaffen wir ein Gebäude mit grossem Identifikationspotenzial», sagt Marc Angst, Wiederverwendungsexperte, Baubüro «in situ».
Die demontierten Treppenelemente sind im Lager feinsäuberlich aufgestapelt. Sie werden nun ausgemessen, inventarisiert und katalogisiert. «Danach ist unsere Architektin gefordert, den Glücksfund kreativ ins Atelierhauskonzept zu integrieren», sagt Angst lachend. Bei einem Recyclinghaus kehrt sich der Planungsprozess also um. Er beginnt mit der Materialsammlung und verändert sich mit der voranschreitenden Suche nach unterschiedlichen Bauteilen ständig von neuem. «Dadurch gewinnt die Architektur an Gewicht», ist Angst überzeugt. «Das Fachwissen unseres Teams generiert die Wertschöpfung.»
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Visualisierung des Atelierhauses K.118: Bei einem Recyclinghaus kehrt sich der Planungsprozess um. Er beginnt mit der Materialsammlung, die Architektur integriert die Suchresultate gewinnbringend in den Entwurf.
Kreative Lösungen sind gefragt
Im künftigen Atelierhaus erwartet den Besucher ein Mix aus Alt und Neu. Das Schwergewicht liegt allerdings klar bei ersterem. So erhalten etwa altgediente Stahlträgerstücke als Türstürze eine zweite Chance. Vom konsequenten Wiederverwendungsansatz zeugen aber auch die Occasions-Lüftungsanlage und der Backstein-Mix. «Wir haben bewusst auch grössere Steine verwendet, die bereits in der Halle K 118 eingelagert waren.»
Neu sind hingegen die Wände aus Recycling-Beton, welche die Erdbebensicherheit ressourcenschonend gewährleisten. Um die Problematik des CO2-Treibers Zement zu entschärfen, wurde sogenannter CEM III/B verwendet. Bei dieser Zementart entfällt dank des Einsatzes von Hüttensand als Bindemittel ein Grossteil der energie- und CO2-emissionsträchtigen Klinkerproduktion. Mehr liegt diesbezüglich nicht drin: Auch die Planer eines Recyclinghauses müssen Kompromisse eingehen.
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Ein ungleiches Paar im Erdgeschoss: Altgediente Stahlträger und frisch betonierte Wände, welche die Erdbebensicherheit gewährleisten.
Die Struktur der dreigeschossigen Aufstockung bildet ein 15-jähriges Stahltragwerk aus der ehemaligen Coop-Verteilzentrale in Basel. Dieses wurde aus Brandschutzgründen mit Beton ausgegossen. «Die quadratische Form des Tragwerks bereitete uns zuerst Kopfzerbrechen, wollte es doch deshalb nicht ganz auf das bestehende trapezförmige Gebäude passen», erläutert Angst. «Nun hat die Südseite einfach eine Auskragung erhalten, was mehr gewerbliche Nutzfläche schafft und architektonisch definitiv ein Gewinn ist.»
Erschlossen werden die neuen Geschosse durch einen neuen Innenlift und eine Stahlaussentreppe vom ehemaligen Bürogebäude Orion in Zürich. Granitfassadenplatten vom gleichen Objekt werden zu Gehbelägen für die Balkonlauben umfunktioniert. Eingefasst wird die Gebäudeerweiterung mit gewelltem rotem Fassadenblech aus Aluminium, das von der ehemaligen Ziegler-Druckerei in Winterthur-Grüze stammt. Entstehen wird ein richtiger Hingucker.
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Die künftige Aussenhaut der Gebäudeerweiterung beim K.118: Die roten Fassadenbleche aus gewelltem Aluminium stammen von der ehemaligen Ziegler-Druckerei in Winterthur-Grüze.
Lokalkolorit dank Kastenfenstern
Bei der Entscheidung, ob auf neues oder gebrauchtes Material zurückgegriffen wird, gilt es immer abzuwägen. Denn nicht alles, was technisch demontierbar ist, ist auch ökonomisch. «Kostentreiber bei der Wiederverwendung von Bauteilen ist die dafür eingesetzte Arbeitskraft – und nicht etwa die Lagerung oder der Transport», betont Angst. Austauschbare Primärbaumaterialien wie Gipsplatten und Leichtbauwände wiederzuverwenden, lohne sich deshalb nicht. «Wir konzentrieren uns auf Bauteile, in denen hochwertige Arbeit steckt. Dazu gehören insbesondere Holzelementdecken und -böden aber auch Fenster und Türen»
Tatsächlich finden sich in den Geschossen der Erweiterung abgedunkelte Holzdecken mit charakteristischen Nagellöchern genauso wie hochwertige Aluminium-Isolierfenster aus verschiedenen Abbruchobjekten. Auch dreissig Jahren nach der Herstellung müssen sich letztere mit ihren Leistungswerten nicht verstecken.
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Ein interessanter Material- und Stilmix: Die Kleingewerbler und Start-up-Unternehmer werden im Atelierhaus K.118 definitiv in keinen auswechselbaren Räumen arbeiten.
Besonders angetan haben es Angst aber die Kastenfenster, die aus dem ehemaligen Werk 1 des Sulzerareals stammen: «Hintereinander montiert bilden je zwei Exemplare ein vierfachverglastes Fenster mit Lokalbezug. Von den Spuren der Schwerindustrie sind die Rahmen mit einer Intensivreinigung befreit worden. Nun wirken sie schon fast wie eloxiert.»
Ansonsten dominieren bei der Fassade nachwachsende Baustoffe wie Holz und Stroh. Zwei Holzbauer einer Winterthurer Zimmerei montieren im obersten Geschoss gerade die letzten vorgefertigten Elemente, die mit Stroh gedämmt sind und später mit Lehm verputzt werden. Mit dem Atelierhaus K.118 geht es also voran, und das ist auch notwendig. Bereits Anfang 2021 sollen die Kleingewerbler und Start-up-Unternehmer ihre neuen Werkstätten und Ateliers beziehen.
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Bei der Sanierung des Axa-Bürogebäudes an der Winterthurer Römerstrasse wurde der Bausubstanz Sorge getragen. Auch die originalen Fassadenplatten aus Gussaluminium blieben erhalten.
Saniert und doch ursprünglich
Ins Bürogebäude der Axa-Versicherung an der Römerstrasse 17 in Winterthur sind die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter schon letzten März zurückgekehrt. Nach Abschluss der umfassenden Erneuerung war es für viele von ihnen wohl eine Überraschung, im charakteristischen Bau aus den 60er-Jahren wieder so viel Bekanntes vorzufinden. Der Grund dafür: Das Sanierungskonzept von Moka Architekten und der Losinger Marazzi AG sah den maximalen Erhalt der Bausubstanz vor.
«Mit einem herkömmlichen Sanierungsansatz hätten wir das von der Bauherrin Axa vorgegebene Budget nicht erreicht», sagt Cyrille Veron, der bei der Totalunternehmung Losinger Marazzi für das Renovations- und Umbauprojekt verantwortlich zeichnete. «Dank der Wieder- und Weiterverwendung wertiger Bauteile haben wir jedoch massive Kosteneinsparungen erzielt und gezeigt, dass sich zirkuläres Bauen rechnet.»
Das Primat der Re-Use-Strategie zeigt sich bereits im Eingangsbereich. Hier liegen immer noch die gleichen Bodenplatten aus Tessiner Granit wie vor den baulichen Eingriffen, die unter anderem eine Drehung der Innenlifte umfassten. Und auch die schwarzen Schieferplatten, die im ganzen Gebäude als Wandverkleidung anzutreffen sind, haben ihren Platz im Gebäude behauptet.
Gleiches gilt für die Lüftungsanlage, wie Veron ausführt. «Ursprünglich hätte diese ersetzt werden sollen. Bei der Evaluation eines neuen Systems haben wir jedoch die potenziellen Energieeinsparungen mit der grauen Energie für dessen Herstellung verglichen – und uns bewusst für die Beibehaltung der alten Monoblock-Anlage entschieden.» Auch wenn diese beim Aufstarten wie ein Helikopter töne, halte sie sicher nochmals zwanzig Jahre, zeigt sich Veron überzeugt.
Quelle: Gabriel Diezi
Seit der Sanierung ist die denkmalgeschützte Wendeltreppe aus Mahagoni freigespielt. Nun geniesst sie endlich die Beachtung, die ihr schon immer zugestanden hätte.
Schreinerarbeiten mit Ausstrahlung
Ein Blickfang ist die denkmalgeschützte Wendeltreppe aus Mahagoni, die sich hinter der Vereinzelungsanlage majestätisch in die Höhe windet. Das kreisförmige Oberlicht respektive ein sogenannter Canon de Lumière im Stile von Le Corbusier, der von einer ringförmigen LED-Lichtdecke umrahmt wird, inszeniert das Prachtstück und sorgt für freundliche Lichtverhältnisse im Gebäudeinneren.
Vor dem Umbau sahen die meisten Axa-Mitarbeiter und Kunden die Mahagoni-Treppe im Normalfall gar nicht. Das lag einerseits daran, dass sie gleich beim Portier in einen der drei Aufzüge verschwanden. Andererseits verbarg sich die tolle Treppe aus brandschutztechnischen Gründen hinter Milchglaswänden. Dank des Drehs in der Erschliessung und der Ausdehnung des Brandschutzbereichs auf den Korridor geniesst sie nun endlich die Beachtung, die ihr zusteht. «Obwohl die Wendeltreppe die aktuellen Sicherheitsnormen nicht ganz erfüllt, bot die Denkmalpflege Hand zu deren originalem Erhalt», sagt Veron. Eine entscheidende Rolle habe dabei der Umstand gespielt, dass die Treppe künftig wohl kaum von Kindern benutzt werde.
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Dank der Wieder- und Weiterverwendung von Bauteilen haben wir massive Kosteneinsparungen erzielt.
Cyrille Veron, Losinger Marazzi AG
Cyrille Veron, Losinger Marazzi AG
In den Obergeschossen säumen ebenfalls alte Bekannte die Erschliessungszonen. Die wertigen Wandschränke aus Ulmenholz, die im Rahmen des Umbaus systematisch beschriftet, inventarisiert und eingelagert wurden, sind im Originalzustand an ihren neuen Bestimmungsort zurückgekehrt. «Auch unsere Leute haben so etwas noch nie gemacht», gibt Veron offen zu. Doch der grosse Aufwand hat sich gelohnt. Der ursprüngliche Charakter des Gebäudes ist erhalten geblieben und dies trotz der kräftigen Eingriffe in die kleinteilige Zellenstruktur des Bürobaus.
Ein Hauptanliegen der Bauherrin Axa beim Umbau war nämlich, die Räume zu öffnen und so flexiblere Arbeitsmodelle zu ermöglichen. Beim sogenannten Flexwork-Konzept haben nun die Mitarbeitenden keinen fixen Platz mehr, was eine effizientere Nutzung der Liegenschaft erlaubt und letztlich den Energieverbrauch im Betrieb senkt. Die enge Zusammenarbeit zwischen Bauherrin und Losinger Marazzi ermöglichte zudem, dass der Axa-Hauptsitz in Winterthur mit seinen fünf Gebäuden im Mai 2019 das Label «2000-Watt-Areal in Transformation» erhielt.
Quelle: Gabriel Diezi
Die Architektur der 60er-Jahre wurde respektiert: So sind etwa die wertigen Wandschränke aus Ulmenholz im Originalzustand ins renovierte Bürogebäude zurückgekehrt.
Sanierung mit Fingerspitzengefühl
Alles andere als transformiert hat sich das Äussere der Römerstrasse 17 präsentiert, als das Gebäude wieder ausgepackt und die Gerüste abgebaut waren. «Viele Nachbarn haben sich wohl gefragt, was wir die ganze Zeit über so gemacht haben», sagt Veron mit einem Schmunzeln. Denn die charakteristischen Fassadenplatten aus Gussaluminium, die Georg Fischer in Schaffhausen hergestellt hatte, mussten nicht neuen Elementen weichen. Die Fassade blieb unberührt und auch die Fenster wurden auf Geheiss der Bauherrin nicht ausgetauscht, obwohl diese die neusten Strahlenschutznormen nicht mehr erfüllen. «Bei den wenigen Hitzetagen im Jahr, hätte sich ein Ersatz der Fenster unter dem Aspekt des CO2-Ausstosses nicht rechtfertigen lassen», erklärt Veron.
Er ist stolz darauf, dass es gelungen ist, die Bauherrin vom zirkulären Ansatz zu überzeugen. Diese sei in ihrem Bestreben, Bauteile zu erhalten, sogar einige Male weiter gegangen, als sie dies im Planerteam ursprünglich angedacht hätten. «Wir sind bei der Umsetzung unseres Konzepts konsequent gewesen und haben gleichzeitig innerhalb des Budgetrahmens das Maximum für die Nutzer herausgeholt», so Verons Fazit nach drei Jahren Arbeit. «Und die Bauherrin hat geschätzt, dass wir bei der Sanierung die Architektur von Ende der 60er-Jahre respektiert haben.»
Quelle: zvg
Ein sogenannter Canon de Lumière im Stile von Le Corbusier, der aber von einer ringförmigen LED-Lichtdecke umrahmt wird, sorgt für freundliche Lichtverhältnisse im Gebäudeinneren.