Wie setzt man nachhaltiges Bauen um?
Der inflationären Verwendung des Begriffs «Nachhaltigkeit» und der damit verbundenen «Beliebigkeit» setzen Holger Wallbaum und Susanne Kytzia ihr eigenes Konzept des «nachhaltigen Bauens» entgegen. Der bestehenden Baupraxis wird ein Modell gegenüber gestellt, das sich am gesamten Lebensweg der Bauwerke orientiert und vorschlägt, sie als Elemente grösserer Systeme zu begreifen.
Quelle: Losinger Construction SA
In Gland VS entsteht die Siedlung Eikentrott, die alle Kriterien der Nachhaltigkeit mehr als erfüllt.
Das Bauwerk selbst ordnet sich in seinen Funktionen den Menschen unter. «Nachhaltiges Bauen» bedeutet also eine neue Ausrichtung der Aufträge an die Entwerfenden und Planenden. Von zentraler Bedeutung ist dabei der Entwurf. Eine nachhaltige Entwicklung muss als Prozess der Suche nach Lösungen für die mittel- und langfristigen Probleme unserer Gesellschaft verstanden werden.
Perspektive auf den gesamten Lebenszyklus eines Bauwerks
Die Idee, ein Produkt mit Blick auf die gesamte Prozesskette seiner Herstellung, Nutzung und Entsorgung zu optimieren, hat seit zwei Jahrzehnten in den gestaltenden Wissenschaften Konjunktur. Umweltwissenschafter, Ingenieure, Architekten und Betriebswirte diskutieren den «Lebensweg eines Produkts» als neue und zukunftsweisende Ausrichtung ihrer Optimierungsanstrengungen und entwickeln unterstützende Instrumente. Je nach Anwendungskontext und Fragestellung unterscheiden sich die Resultate jedoch deutlich.
Die Entwicklung von Lebensweganalysen resultiert aus einem realen Problemdruck. Informatikstrategieberater beispielsweise lancierten in den 1990er-Jahren den Begriff des «Total Cost of Ownership TCO» für die Informationstechnologie IT. Sie lenkten dadurch die Aufmerksamkeit ihrer Kunden auf die Tatsache, dass in der Regel wesentlich mehr Geld für den Betrieb der IT aufgewandt wird, als ursprünglich in ihre Einrichtung investiert wurde. Ein ähnliches Problem trieb auch Bauingenieure bei der Entwicklung von Lebenszykluskostenanalysen für Infrastrukturen.
Die Entwicklung der ökologischen Lebensweganalysen ging von einem ganz anderen Problem aus, nämlich dem fehlenden Einbezug der Herstellungs- und Entsorgungsphase bei der ökologischen Produktoptimierung. Ökologische Produktentwicklung orientiert sich traditionell an den Umweltbelastungen, die während der Nutzung eines Produktes entstehen, beispielsweise dem Schadstoffausstoss während des Betriebs eines Personenwagens.
Beide Ansätze stossen an Grenzen, wenn das «Ownership» für das Produkt – also das Eigentum oder die Verantwortung – sich nicht auf den gesamten Lebensweg erstreckt. In diesem Fall liefern sowohl LCC wie auch LCA mehr Informationen, als die Entscheidungsträger gemeinhin als relevant erachten. Die Forderung nach einem Perspektivenwechsel folgt also nicht nur einer ökonomischen Rationalität, sondern beinhaltet elementar auch die Forderung nach einer umfassenderen Wahrnehmung von Verantwortung für ein Produkt (product responsibility).
Perspektivenwechsel in der ökologischen Betrachtung
Das Instrument der ökologischen Lebensweg-analyse wurde seit den 1970er-Jahren entwickelt. Dabei wurden verschiedene Namen verwendet, unter anderem Lebensweganalyse, Lebenswegbilanz, Ökobilanz, Resource and Environmental Profile Analysis (REPA) oder Produktlinienanalyse. Inzwischen hat sich international der englische Begriff Life Cycle Assessment (LCA) durchgesetzt.
Perspektivenwechsel in der ökonomischen Betrachtung
Der Begriff der Lebenszykluskosten ist eng verbunden mit der Forderung nach ganzheitlicher Planung. Bei der Planung von Gebäuden und Infrastrukturen werden traditionell die Baukosten optimiert, während die Betriebs- und Nutzungskosten erst während der Betriebsphase ins Blickfeld rücken. Bauökonomen fordern seit vielen Jahren, dass man Betriebs- und Nutzungskosten bereits während der Planungsphase kennen und als Zielgrösse in die Optimierung einbeziehen sollte. Sie argumentieren, dass in der Planungsphase die zentralen Weichen für die im Lebensweg eines Gebäudes anfallenden Kosten gestellt werden. Daher sollten in dieser Phase die notwendigen Informationen zur Verfügung stehen.
Perspektivenwechsel in der sozialen Betrachtung
Die meisten Vertreter des nachhaltigen Bauens betonen die Bedeutung der sozialen Dimension der Nachhaltigkeit für Bauprojekte. Mit dem Entwickeln methodischer Ansätze für den besseren Einbezug dieser Dimension in die Projektentwicklung und das Facility Management tut man sich allerdings eher schwer. Daher ist es nicht möglich, eine einzige entsprechende Methode vorzustellen. Es wird daher mit einem Mix von Methoden/Ansätzen gearbeitet, der den verschiedenen Phasen des Lebenszyklus zugeordnet wird: Bauprozess, Nutzung, Instandsetzung/Entsorgung.
Planen mit der Perspektive auf den Lebenszyklus
Planung mit einer Perspektive auf den Lebensweg von Gebäuden und Infrastrukturen wird in Bauökonomie und Baubetriebslehre unter dem Begriff «Life Cycle Management» diskutiert. Zwei Fragen prägen diese Diskussion:
- Wie kann man bereits in frühen Phasen der Projektentwicklung den gesamten Lebenszyklus einer Immobilie berücksichtigen?
- Wie erreicht man eine fortwährende Optimierung der im Laufe des Lebenswegs einer Immobilie erbrachten Leistungen? LCA und LCC richten sich vor allem an der ersten Frage aus. Durch Anwenden dieser Instrumente versucht man, den Planenden möglichst alle relevanten Informationen zu liefern. Dabei steht die Projektentwicklung – aus planerischer Sicht – im Zentrum des Objektlebenszyklus.
Denken in Systemen
Die Forderung nach einem «Denken und Planen in Systemen» ist nicht nur ein methodischer Vorschlag zur Problemlösung, sondern sie ist ein Programm. Im Kern dieses Programms steht ein ganzheitlicher (holistischer) Zugang zum Erkennen und Verstehen.
Ein «Denken in Systemen» verbindet drei Aspekte. Als Erstes versucht man die wichtigsten Eigenschaften des untersuchten Objektes/Subjektes zu erfassen. Als Zweites versucht man, diese Eigenschaften zu beschreiben, durch eine Analyse der wichtigsten Elemente des Untersuchungsgegenstands und ihrer Beziehungen. Als Drittes verallgemeinert man diese Beschreibung des Untersuchungsgegenstands als «System» und versucht daraus möglichst viel zu lernen über mögliche Zustände des Systems und die Möglichkeiten, seine Veränderung zu beeinflussen. Dadurch gelingt eine Verbindung zwischen einem ganzheitlichen und einem analytischen Zugang zum Erkennen und Verstehen.
Denken in Szenarien
Entscheide, die sich an einer nachhaltigen Entwicklung orientieren, zwingen Entscheidungsträger dazu, sich mit Unsicherheit auseinander zu setzen. Unsicherheit über die zukünftige Entwicklung, da man langfristig denkt, beispielsweise die Leistungen im gesamten Lebensweg von Gebäuden und Infrastrukturen optimiert, der über 50 Jahre dauern kann. Ausserdem besteht eine Unsicherheit über die Veränderung der Wertsysteme in der Zukunft. Diesem Problem kann man nicht mit Modellrechnungen begegnen, die Prognosen für die Zukunft liefern. Szenarioanalysen können aber auch ohne formale Modelle angewandt werden. Sie basieren dann auf qualitativen Systemanalysen, und man entwickelt so genannte Szenariogeschichten, um mögliche Zustände in der Zukunft zu beschreiben. Sie schaffen so konkretere Vorstellungen von Optionen der zukünftigen Entwicklung.
Verantwortung wahrnehmen
Das Konzept der nachhaltigen Entwicklung appelliert grundsätzlich an unser Verantwortungsbewusstsein. Wir sind heute mehrheitlich keine verantwortungslosen Menschen. Im Gegenteil, in einer bürgerlichen Gesellschaft sind wir stolz darauf, Verantwortung zu übernehmen. Dies kann aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Normen unserer Gesellschaft – ausgedrückt unter anderem in unserer Gesetzgebung – vor allem durch zwei Prinzipien geprägt sind: (1) der persönlichen Freiheit und (2) dem Eigentum.
Diese Prinzipien stossen in einer nachhaltigen Entwicklung an Grenzen. Man darf mit natürlichen Ressourcen wie Wasser, Boden oder Luft eben nicht machen, «was man will», sondern trägt dafür Verantwortung, dass diese Güter auch anderen Menschen – der gleichen wie der nächsten Generation – zur Verfügung stehen. Damit werden automatisch unsere Verfügung- und Nutzungsrechte eingeschränkt; zu Ungunsten unserer persönlichen Freiheit.
Eine neue Rolle für den Planer
«Nachhaltiges Bauen findet in den Köpfen der Planenden statt.» Dabei ist die Komplexität dieser Aufgabe im letzten Jahrhundert erheblich gestiegen. Wir leben in einem sehr dicht besiedelten Land, und die Umgestaltung der gebauten Umwelt führt zu Umverteilungen von Werten (materiellen wie immateriellen). Damit haben Bauprozesse heute immer eine soziale, wirtschaftliche und ökologische Relevanz. Gleichzeitig schafft und zerstört die Entwicklung der gebauten Umwelt das Kapital unserer Gesellschaft. Es ist daher selbstverständlich, einen langfristigen Planungshorizont zu wählen.
Nachhaltiges Bauen bedeutet hier: Die Planenden befähigen, die Komplexität der gestellten Aufgabe zu bewältigen. Dafür gibt zwei Ansätze:
- System- und Szenarioanalysen als grundlegende analytische Ansätze, um die Komplexität zielorientiert zu reduzieren und Entwurfsprozesse zu unterstützten. Diese Ansätze ermöglichen einerseits eine Fokussierung auf wesentliche Zusammenhänge. Andererseits unterstützen sie die Zusammenarbeit in einem interdisziplinären Planungsteam ebenso wie den Dialog mit anderen Interessengruppen.
- Ein Anpassen der Aufgabenteilung im Kontext der Planung und im Planungsprozess, sodass ein Lernprozess gefördert wird – im Sinne einer kontinuierlichen Verbesserung der gebauten Umwelt. Dies betrifft einerseits die Planung und Entwicklung von Bauwerken in ihrem Lebensweg; es betrifft aber auch den Umgang mit Risiken beziehungsweise der Übernahme von Verantwortung für die Bauwerksentwicklung. (Holger Walbaum, Susanne Kytzia)
* Holger Wallbaum, Assistenzprofessor für Nachhaltiges Bauen an der ETH Zürich und Mitglied diverser internationaler Gremien (wie CIB, IISBE, DGNB, ESC) /Susanne Kytzia, Professorin für Nachhaltigkeit im Bauwesen, Leiterin der Fachstelle Umweltingenieurwesen, Hochschule für Technik, Rapperswil (HSR)