Was tun wenn Hochwasserschutz-Bauten ihr Lebensende erreichen?
Hochwasserschutzbauten bewahren Menschen und Sachwerte seit
Jahrhunderten vor Schäden.
Quelle: Karl-Heinz Liebisch_Pixelio.de
Wehre sind ein besonderer Blickpunkt im Flusslauf. Doch sie wurden nicht grundlos angelegt und haben eine wichtige Funktion beim Hochwasserschutz.
Die Ereignisse im In- und Ausland haben auch dieses Jahr
wieder offenbart, wie extreme Wetterlagen in kürzester Zeit zu Hochwasser und
starken Überschwemmungen führen können. Im Gebirge sind die Menschen meistens
mit Schutzbauten gewappnet, denn zur Schneeschmelze oder in Regenperioden
verzeichnen die Bäche und Flüsse oft einen erhöhten Pegelstand. Auch Murgänge
und Rutschungen verlegen die Gewässer.
Trotz unzähliger Sicherheitsmassnahmen führten die Unwetter
Ende Juli in der Schweiz zu Hochwasser an den Flüssen und zu Überschwemmungen
an zahlreichen Seen. Mancherorts musste gar die Gefahrenstufe 4 oder 5
ausgerufen werden wie am Thuner-, Neuenburger- und Bielersee sowie am
Vierwaldstättersee.
Doch im Flachland und den Mittelgebirgen sind diese
Naturkatastrophen nicht üblich. Und so waren die Menschen auch nicht
vorbereitet, als am 15. Juli in Rheinland-Pfalz und Nordrhein-Westfalen
innerhalb von 24 Stunden 100 bis 150 Liter Regen pro Quadratmeter fielen. Aus
kleinen Bächen wurden reissende Ströme, die alles mit sich mitrissen. Mehr als
180 Menschen starben, ganze Strassenzeilen wurden von den Wassermassen wie
ausradiert. Die Flut verursachte Sachschäden in Milliardenhöhe.
Extreme Wetterereignisse werden häufiger
Auch weite Teile Belgiens, Frankreichs, der Niederlande,
Luxemburgs und anderen Regionen Europas waren betroffen – und oft nicht
ausreichend geschützt. Expertinnen und Experten rechnen wegen des Klimawandels
mit einer Häufung extremer Wetterereignisse. Vielerorts wird nun der Hochwasserschutz verbessert,
auch länderübergreifende Lösungen sind dringend nötig.
In der Schweiz wurden bereits vor rund 160 Jahren die ersten
offiziellen Schutzbauten errichtet. Im Jahr 1875 wurde der Bau von Schutzbauten
in das Eidgenössische Forstgesetz aufgenommen. Viele der Schutzbauten sind
inzwischen alt, aber trotzdem noch voll funktionstüchtig.
Quelle: epj_pixelio.de
Die einfache Verbauung durch Steinhindernisse ist ein effektives System, um die Erosion im Flussbett und Uferzonen und den damit verbundenen Abtransport von Material zu verhindern.
Enormer Wiederbeschaffungswert
«Der Umgang mit alternden Bauten ist eine Aufgabe, die nicht
nur unsere Generation betrifft, sondern auch in Zukunft von immer grösserer
Bedeutung sein wird», betonte Adrian Schertenleib, Leiter der Sektion
Hochwasserschutz beim Bundesamt für Umwelt (Bafu) an der Tagung «Schutzkonzepte
und ihre Bauten am Lebensende - was nun?». Sie wurde aufgrund des hochbrisanten
Themas von der Kommission für Hochwasserschutz (KOHS) nicht abgesagt, sondern
als digitale Weiterbildung mit virtueller Event-Networking-Plattform und
filmischer Exkursion durchgeführt.
«Es gibt in der Schweiz unzählige Schutzbauten, die genaue
Anzahl ist nicht bekannt. Laut einer Bafu-Studie aus dem Jahr 2009 beträgt der
Wiederbeschaffungswert rund 42 Milliarden Franken. Im Jahr 2021 wurde die
Anzahl nochmals geprüft, der Wert hat sich etwas verringert, aber beträgt immer
noch rund 35 Milliarden Franken», sagt Schertenleib. Es handele sich dabei um
riesige Summen, vor allem aber um eine grosse Verantwortung.
Die Schutzbauwerke unterliegen einem Abnutzungs- und Alterungsprozess und besitzen eine begrenzte Lebensdauer. Mittels kontinuierlicher Unterhaltsarbeiten werden die Anlagen und Bauwerke auf dem notwendigen baulichen Niveau gehalten, um ihre Aufgaben zuverlässig erfüllen und Menschen und Infrastrukturen schützen zu können. Die Verantwortung dafür obliegt den Kantonen.
Gemeinden, Wasserbauträger oder Anlagenbetreiber sind
verantwortlich für die Instandhaltung im Bereich von Siedlungen und
Infrastrukturen. Das Schutzbautenmanagement erfasst den Bestand und Zustand der
Werke, kennt deren Schutzfunktion und übernimmt die Planung und Ausführung
anfallender Unterhaltsarbeiten und Einsatzbauten.
«Angesichts der grossen Anzahl müssen wir Prioritäten setzen. Es müssen Mittel bereitgestellt werden, mit denen das Schutzniveau und die Wirkung aufrechterhalten und auf einem akzeptablen Stand gehalten werden können», so Schertenleib. Der Alterungsprozess der Schutzbauten werde durch die Instandhaltung verlangsamt, dennoch sei die Lebensdauer begrenzt.
Zudem spielen
weitere Faktoren bei der Planung und Instandhaltung eine Rolle. «Heute bestehen
höhere Anforderungen an Schutzbauten als früher, da grössere und konzentrierte
Werte zu schützen sind. Zudem stehen den Technikern bessere technische
Hilfsmittel zur Verfügung», sagt der Experte.
Quelle: PantaRhei_CC BY-SA 4.0
Künstlich angelegte Wehre halten das Wasser zurück, ermöglichen die Regulierung des Wasserstands und können so vor Überschwemmungen schützen.
Zehn Fallbeispiele aus der Schweiz
Zur Hilfestellung wird momentan eine Praxishilfe für den
«Umgang mit alternden Schutzsystemen» mit Beispielen und Vorgehensweise erstellt,
die ein standardisiertes Arbeiten bei der Bewertung und für nachhaltige
Vorsorgemassnahmen ermöglichen soll, berichtet Geografin Catherine Berger vom
geowissenschaftlichen Büro Geo7 aus Bern.
Im Auftrag des Bafu untersuchte Geo7 den aktuellen Wissensstand
zum Zusammenhang zwischen Klimawandel und gravitative Naturgefahren in der
Schweiz. Die Ergebnisse liegen in Form des Berichts «Naturgefahren und
Klimawandel Schweiz» sowie einem Faktenblatt vor.
Das Büro liefert die notwendigen Grundlagen für ein vorausschauendes
Naturgefahrenmanagement, hilft unter anderem dabei, Gefahrenprozesse zu
erkennen, zu beurteilen und somit Schäden zu begrenzen. Geo7 ist unter anderem
auf die Entwicklung und Anwendung von Modellen und Simulationen von
Naturgefahrenprozessen spezialisiert und begleitet die Umsetzung der
Schutzmassnahmen.
«Wir möchten die Grundlage schaffen, um nachvollziehbare,
begründete und akzeptierbare Entscheidungen treffen zu können», sagt die
Naturgefahren-Expertin. In zehn Fallbeispielen aus dem Alpenraum der Schweiz
werden Projekte mit unterschiedlichen Facetten angeführt. Sie wurden aus
verschiedenen Kantonen an kleinen und grossen Wildbächen ausgewählt. «Die dabei
gemachten Erfahrungen und Stolpersteine sollen helfen, dass sich gleiche Fehler
nicht wiederholen und dadurch falsche Entscheidungen getroffen werden.»
Quelle: Norbert Kirchhoff_CC BY-SA 3.0
Die Technik wurde bereits von den Vorfahren eingesetzt. Mechanische Wehre regulieren Wasserstand und -verlauf. An den Bächen wurden sie auch für die Wasserumleitung zu Mühlen genutzt.
Jedes Schutzsystem ist einzigartig
Alte Schutzsysteme müssten systematisch betrachtet werden.
Sie sind historisch gewachsen, jeder Wildbach mit seinem Schutzsystem ist
einzigartig. Dabei sind verschiedene Lösungen möglich, betont Catherine Berger.
Doch die Funktionsfähigkeit der Schutzanlagen sinkt mit dem Alter. Bei der
Instandsetzung sei zu entscheiden, ob dieses System auch weiterhin sinnvoll ist
oder angepasst beziehungsweise ersetzt werden muss.
Die Entscheidungen basieren auf dem expliziten Wissen aus
der Analyse von Fallbespielen und aus Studien, bei denen die Schutzsysteme und
der komplette Verbund, aber auch der Naturraum, das Einzugsgebiet sowie
besondere Vorkommnisse wie Murgänge und Überschwemmungen und der
gesellschaftliche Aspekt einbezogen werden. Beachtung finden müssen zudem die
Rahmenbedingungen, die zum Bau des Schutzsystems führten.
Die Schutzsysteme müssen über einen längeren Zeitraum
untersucht und ihre funktionelle Bedeutung genau analysiert werden. Dazu werden
auch Dokumente aus den Archiven herangezogen. Die älteste Unterlagen und Pläne
zum Bau von Schutzanlagen stammen aus den Jahren 1880/1890. Wird entschieden,
auf ein neues System umzustellen, sind massgeschneiderte Lösungen gefordert.
Sicherheit gewährleisten
Die Schutzbauteninfrastrukturen gegen die Naturgefahr Wasser
sind in der Schweiz für Besiedlung und Bewirtschaftung des Raumes essenziell.
Gemäss Art. 2 WBG [04] ist es die Aufgabe der Kantone, diesen Schutz zu
gewährleisten. Der Bund ist mit der Aufsicht betraut und subventioniert die
Kantone bei der Durchführung von Hochwasserschutzmassnahmen, insbesondere bei
der Errichtung sowie Instandstellung von Schutzbauten.
Mit dem Inkrafttreten des revidierten Wasserbaugesetzes am 1. Januar 2020 entsteht eine neue Aufgabenverteilung. Der Wasserbau und der bauliche Gewässerunterhalt an allen öffentlichen Gewässern liegen in der alleinigen Aufgaben- und Finanzkompetenz der Kantone.
Auch der betriebliche
Gewässerunterhalt wie Räumungsarbeiten, Erhalt und Pflege der Ufervegetation
oder der Unterhalt von Wegen für den Gewässerunterhalt ist an grösseren
öffentlichen Gewässern in kantonalen Verantwortung. Die Gemeinden übernehmen
den betrieblichen Unterhalt aller übrigen, kleineren Gewässer.
Die neue Wasserbaugesetzgebung legt die Verantwortung für
den baulichen Gewässerunterhalt fest. Die Kantone müssen das geforderte
Sicherheitsniveau gewährleistet. «Um die Zuverlässigkeit der Systeme zu
beurteilen, müssen wir wissen, wo welche Werke stehen, wie ihr Zustand ist und
welche Bedeutung sie für die Bevölkerung haben», sagt Marco Achermann,
Projektleiter Risikomanagement der Abteilung Naturgefahren, Dienststelle
Verkehr und Infrastruktur des Kantons Luzern. Darauf aufbauend könnten gesetzliche
und finanzielle Grundlagen geschaffen werden. Er stellte das
Schutzbautenkataster und –management im Kanton Luzern vor.
Quelle: bigmama_pixelio.de
Wehranlage an einem Fliesgewässer
Datenbank fürs Management
Ein Grossteil der Siedlungen und Hauptverkehrswege im Kanton
Luzern liegt im Einflussbereich von Naturgefahren. Das Risiko ist durch die
Ausdehnung der Siedlungsgebiete in den letzten Jahrzehnten noch gestiegen. Bei
den Erhebungen für das Schutzbautenkataster war zur Bestandaufnahme die
Begehung der Wasserläufe nötig, gleichzeitig wurden vorhandene Unterlagen in
Archiven gesichtet. Bei der Inspektion wurden Schutzklassen und Zustandsklassen
festgelegt und entschieden, ob die Schutzbauten im Detail erhoben oder im
Schutzbautenkataster archiviert werden.
Das Modul Portfolio bündelt Wissen und Erfahrung. «In ihm
sind alle massgeblichen Informationen zur Zuverlässigkeit der Systeme und zur
Erhaltungsstrategie festlegen», so Achermann. Es beinhaltet alle vorhandenen
Fakten zu den Schutzbauten, die Bewertung der Risiken und des Zustands der
Bauten sowie die zu erwarteten, tolerierbaren beziehungsweise nicht
tolerierbaren Entwicklungen. Es dient als Entscheidungshilfe für notwendige
kurz- und langfristige Erhaltungsmassnahmen.
Mit dem Modul Bewirtschaftung werden die Schutzbauten zwecks
der optimalen Nutzungsdauer regelmässig überwacht und auf ihre Zuverlässigkeit
überprüft. Bei Bedarf sind Massnahmen einzuleiten, gegebenenfalls können Bauten
aus dem Schutzbautenmanagement gestrichen werden. Das Modul Verwaltung stellt
einen reibungslosen Ablauf der massgeblichen Prozesse der Instandhaltung
sicher, definiert die finanziellen Mittel und stellt diverse Werkzeuge sowie
Hilfsmittel für das Schutzbautenmanagement zur Verfügung.
Der Schutzbautenkataster umfasst alle wesentlichen Werke und
dient als zentrale Informationsquelle als Datenbank, Dokumentenverwaltung und
GIS-Anwendung. Die Ergebnisse stehen zur Verfügung und lassen sich abfragen.
Das erstellte Kataster ermöglicht einen guten Überblick über die 39 690
Luzerner Schutzbauwerke. Es umfasst 26 606 punktuelle und 13 084 lineare
Bauwerke. 16 060 Bauten weisen Schäden auf, deren Instandsetzung mithilfe des
Schutzbautenmanagements koordiniert vorangetrieben werden kann.
Weitere Referenten stellten Schutzsysteme in Chamoson VS, im
Aargauischen Bünztal und an der Töss ZH vor. Aufgrund der Corona-Massnahmen
musste die vorgesehene halbtägige Exkursion, die sich im Normalfall an die
Tagung anschliesst, abgesagt werden. Sie wurde als Film gestaltet und bildete
den Abschluss der digitalen Veranstaltung. In den Aufzeichnungen gaben Experten
an vier Standorten der Gürbe BE Auskunft über die hier getroffenen
Hochwasserschutzmassnahmen.
Der Film gibt Auskunft über die verschiedenen Verbauungskonzepte,
welche seit 160 Jahren an der Gürbe umgesetzt werden. Eine grosse Rutschung
hatte im Februar 2018 mehrere Betonsperren und Holzverbauungen stark
beschädigt. Dies gab Anlass, die jahrzehntealte Schutzstrategie neu zu
überdenken.