Textilkünstlerin Sonnhild Kestler: Wandbild statt Textildesign für neue UPK-Klinik
Die preisgekrönte Textilkünstlerin Sonnhild Kestler hat für die 2019 eröffnete, neue Klinik der Kinder- und Jugendpsychiatrie in Basel ein Wandbild realisiert. Ihre Handschrift ist so unverkennbar wie einzigartig. Ihre Sujets reden eine universelle Sprache und funktionieren überraschenderweise auf rohem Beton genauso gut wie auf Seide, Baumwolle oder Wolle.
Quelle: zvg
Die Textildesignerin Sonnhild Kestler auf neuen Wegen: Sie hat für die Klinik der Kinder- und Jugendpsychiatrie in Basel ein Wandbild entworfen.
Ich hatte Nullkommanull Briefing, keinerlei Vorgaben und hundert Prozent freie Hand», sprudelt es aus Sonnhild Kestler hervor. Bessere Voraussetzungen und einen grösseren Vertrauensvorschuss kann sich eine Künstlerin für eine Auftragsarbeit nicht wünschen. Die 58-jährige Designerin, die 2010 vom Bundesamt für Kultur mit dem auf 40 000 Franken dotierten Grand Prix Design für ihr Lebenswerk ausgezeichnet wurde, gerät ins Schwärmen, wenn sie von ihrem Auftrag erzählt, «irgendetwas» mit dem Foyer der damals noch im Bau befindlichen Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie zu «machen».
Nach zwei Brainstorming-Sitzungen und einem Besuch in ihrem Zürcher Atelier waren sich der stille Mäzen, der Klinikdirektor und Chefarzt Alain di Gallo, sowie das Team von BUR-Architekten und die Künstlerin einig: Die beiden ineinander verwachsenen raumhohen Beton-Zylinder im Eingangsbereich, welche in ihrem Inneren die gesamte Haustechnik beherbergen, sollten als Wandbild gestaltet werden. Die drei Meter hohen Körper mit 8,5 beziehungsweise neun Meter Umfang fungieren als Raumteiler und laden mit einer umlaufenden Sitzbank die Patienten zum Verweilen ein.
Die jungen Menschen sind allesamt in einer Extremsituation: Wer sich in der Klinik befindet, hat zuvor den Boden unter den Füssen und den Halt verloren. Die teils mehrmonatige stationäre Unterbringung ist stets die letztmögliche der Massnahmen, die man zum Wohlergehen von Kindern und Jugendlichen, aber auch für ihre Familien trifft.
Umso wichtiger ist es, dass sie sich in der freundlich und hell gestalteten Klinik von Anbeginn geborgen und willkommen fühlen. So ergänzen zwei von Sonnhild Kestler gestaltete 3,5 und fünf Meter grosse eiförmige Wollteppiche das freudig aufgeladene Wandbild im Foyer. Zur Zeit des Entwurfs wusste sie selber noch nicht, wie die Teppiche mit dem Bild korrespondieren werden. «Ich habe für sie ein aus-laufendes Streifenmuster entworfen, das optisch eine feine Bewegtheit erzeugt – wie wenn man zum Beispiel auf eine vom Wind gekräuselte Wasseroberfläche oder ein Feld schaut. Die Teppiche habe ich bewusst viel ruhiger gestaltet als das Wandbild mit seinen frei fliegenden Elementen, damit das Ensemble nicht zu wild wirkt. Die Wand braucht einen ruhenden Gegenpol.»
Neues Terrain für die Textildesignerin
Die Gestaltung der beiden Zylinder und der unverputzte Beton waren künstlerisch etwas vollkommen Neues für die Textildesignerin, die sich plötzlich mit riesigen Dimensionen und Fragen der Raumgestaltung und Raumwirkung konfrontiert sah. Sonnhild Kestler entwirft ihre Sujets und Muster normalerweise für Tücher, Seiden-Carrés, Kleider, T-Shirts, Kissen und Läufer und denkt eher in Zentimetern als in Metern. Es sind im aufwändigen Siebdruckverfahren gedruckte Kleinstserien, die sie in der Boutique «Thema Selection» im Shop-in-Shop-Prinzip in Zürich verkauft. Bis vor kurzem hat sie die Stoffe in der glarnerischen Textildruckfirma Mitlödi, die 2020 Konkurs anmelden musste und verkauft wurde, noch selber von Hand bedruckt. Heute lässt sie in Como drucken.
«Als die Anfrage fürs Klinikprojekt kam, konnte ich zum Glück bereits auf erste Erfahrungen mit stark vergrösserten Dessins und ihrer Wirkung im Raum zurückblicken», berichtet Kestler. Für das Restaurant «Solheure» mit Bar und Lounge in Solothurn durfte sie nämlich die Möbelbezüge entwerfen, darunter befand sich auch ein 15 Meter langes Sofa. Es war eine Zusammenarbeit mit der Innenarchitektin Jasmin Grego. Unumwunden gibt sie zu: «Ohne dieses Projekt hätte ich mich wohl kaum getraut, den Auftrag für die Klinik anzunehmen.»
Sonnhild Kestler ist nach eigenem Bekunden ein eher vorsichtiger Mensch, der sich zunächst an neue Herausforderungen herantasten muss. Marketing in eigener Sache ist nicht ihr Ding. «Bei Auftragsarbeiten und Gemeinschaftsprojekten brauche ich den Schutz oder die Fürsprache von anderen und stehe selber nicht gerne im Vordergrund.» Dahinter steckt auch die Angst, künstlerisch Kompromisse eingehen zu müssen. Sie arbeitet deshalb seit 33 Jahren lieber allein und für ihre eigenen Projekte.
Die Fürsprache, die sie als schützenden Kokon und Freiraum für ihre Arbeit braucht, hat sie auch beim Klinikprojekt erfahren. «Eingefädelt hat das Ganze nämlich Anne Uhlmann von BUR-Architekten, die zusammen mit ihrem Mann Urs Birchmeier und Carlos Rabinovich das Klinikprojekt realisiert hat», erzählt Sonnhild Kestler, «ich bin mit den dreien befreundet und Anne zählt zu meinen langjährigen und treuen Kundinnen, wie interessanterweise viele Architektinnen. Offenbar fühlen sie sich von meiner Formensprache angezogen.»
Intuitiv verständliche Formen
Auch zwischen dem Bau und dem Wandbild scheint eine Art Seelenverwandschaft zu existieren. Es sind klare, einfache, reduzierte und verständliche Formen, in denen man sich wiederfinden kann und die dennoch offen genug sind, um eine persönliche Interpretation zuzulassen. Einem Kind und Jugendlichen mag das flache zweistöckige, schnörkellose Klinikgebäude mit seinen stilisierten Ecktürmchen wie das Legoschloss aus seinem vertrauten Kinderzimmer erscheinen. Auch Sonnhild Kestlers lose schwebenden Sujets fangen den Blick der Haltlosen ein und lassen sie Vertrautes sehen. Der Zugang ist freundlich, fröhlich und unmittelbar.
«Die Sujets habe ich übrigens eigens für dieses Projekt entwickelt. Meine ganze Formen- und Bildsprache hat etwas Neues, etwas Comichaftes bekommen. Man kann in den Formen fliegende Häuser, Roboter, Kassetten mit Augen, ein Märchenschloss erkennen», sagt Sonnhild Kestler über ihre Arbeit. «Der fliegende Eindruck ergibt sich aus den Dimensionen und den verschiedenen Ebenen.» Den notwendigen Zusammenhalt der frei fliegenden «Individuen» schaffen konventionelle Formen, wie Punkte oder Sterne, die die Einzelteile miteinander verbinden und aus ihnen ein Muster, ein Bild machen. Vielleicht mögen die jungen Patienten aus Sonnhild Kestlers Wandbild Erkenntnisse für ihr eigenes Dasein herauslesen und die Gewissheit gewinnen, dass sie nicht allein sind. Dies alles geschieht natürlich intuitiv.
«Ich habe weder mit irgendeinem Konzept gearbeitet», erzählt die Künstlerin, «noch habe ich mich in die Thematik eingelesen. Aber ich interessiere mich seit Jahrzehnten für die Art Brut und habe einen nahen Zugang dazu, obwohl ich selber nie in der Psychiatrie war. Ich kann mir sehr gut vorstellen, wie man sich fühlt, wenn man aus sich selbst gefallen ist. Beim Entwerfen meiner Sujets bin ich einfach von meinem Gefühl ausgegangen und von der ganz normalen Wahrnehmung. Es geht mir um die Fantasie.» Deshalb glaubt Sonnhild Kestler auch nicht daran, dass ihre Figuren auf die Patienten beängstigend wirken könnten.
Farbauftrag mit Negativschablonen
So neu die riesigen Dimensionen bei diesem Projekt für Sonnhild Kestler waren, so macht es für sie jedoch von der Arbeitsweise her keinen grundsätzlichem Unterschied, ob sie ein Tuch oder eine Wand gestaltet. Sie entwirft ihre Kompositionen immer flach, also auf dem Papier und setzt die Sujets in der Art einer Collage zusammen. Wie dann das Bild in der Bewegung und Geschmeidigkeit des Textils tatsächlich wirkt, ist jedes Mal auch für sie selbst eine Überraschung. So hat Kestler die Sujets fürs Wandbild zunächst ganz normal aus farbigem Papier geschnitten, dann in einem verkleinerten Massstab die ganze Komposition entworfen, eingescannt und dann aufs Dreifache vergrössert und probeweise an die Zylinder geklebt, um zu testen, ob das Arrangement überhaupt im Raum funktioniert.
Für die eigentliche Umsetzung wurde dann die Firma Arni Siebdruck GmbH aus Basel engagiert. Der Beton stellte mit seiner von Natur aus körnigen Oberfläche, den Sandlöchern sowie den dunkleren und helleren Stellen eine besondere Herausforderung an das sehr aufwändige Verfahren mit Negativschablonen, Folien und mehreren Farbschichten, die immer wieder zuerst trocknen mussten, bevor die nächste aufgetragen werden konnte. Die ganze Arbeit dauerte, immer wieder von Wartezeiten unterbrochen, zirka ein Jahr, zumal auch die Bauarbeiten im Gange waren.
Sonnhild Kestler lacht: «Bei der Eröffnungsfeier im September 2019 waren wir mit der Rückseite noch nicht fertig.» Für Kestler war die Zusammenarbeit mit der Firma Arni eine sehr erfreuliche Erfahrung: «Die sind richtig, richtig gut. Das sind Vollprofis.» Schnell waren sich Künstlerin und Drucker einig, dass man den Beton nicht mit einer weissen Farbe verputzen, sondern ihm nur eine transparente Grundierung geben wolle, ähnlich wie eine Lasierung. Nach etlicher Tüftelei an einem Betonstück im Keller konnten sie dann endlich einen Farbton bestimmen, der für die Sujets und Sonnhild Kestlers Farbwelt nicht zu gelb und nicht zu kalt wirkt.
Quelle: Petra Orosz
Akribische Handarbeit: Hier drückt die Textildesignerin mit der Holzrakel die Farbe durch das Sieb. Die Rakel wird mehrmals hin und her bewegt.
Die Ideen findet sie überall
Sonnhild Kestler arbeitet oft mit starken Grundfarben und mit Mustern und Formen, die etwas Volksnahes, Archaisches oder Ethno-Artisanes an sich haben: «Es geht um etwas elementar Einfaches und Alltägliches, so wie wenn ich ein Haus schmücke, um ihm einen Zauber zu geben. Das ist etwas Universelles, das alle verstehen. Genau dieses Allumfassende, das universal Menschliche ist meine Sprache und das, was ich ausdrücken will.»
Assoziationen werden wach zu Textilien, Teppichen und Objekten des täglichen Bedarfs, die man der Volkskunst Südosteuropas, Zentralasiens oder Indiens zuordnet. Die gedeckteren Farben hingegen – das von ihr abgemischte Gelb, Grün, Blau und Rosa – haben eine ausgebleichte Anmutung und erinnern an Verfallenes, Vergangenes, Verblasstes und Stehengelassenes, so wie es Sonnhild Kestler jeweils in den Familienferien in Wismar an der Ostsee in der ehemaligen DDR, aus der ihre Eltern Anfang der 60er-Jahre geflüchtet waren, erlebt hat.
Und dennoch sind Sonnhild Kestlers Arbeiten nicht Kopien, sondern Interpretationen dessen, was sie unterwegs und auf ihren Reisen mit der Kamera festhält oder in alten Musterbüchern findet: «Meine Tücher sind bildhaft und erzählerisch. Ich erzähle Geschichten im Textilen. Alles ist zwar zweidimensional, aber doch irgendwie ein Raum. Ich denke immer vom Malen, vom Flachen und vom Bild her. Deshalb war das Wandbild nur ein logischer Schritt. Von meinem Gefühl und von der Stimmung her macht das Härtere und Starre des Betons keinen Unterschied zu meinen Tüchern. Das Wandbild ist immer noch in meiner Welt.»
Was sie mit «meiner Welt» meint, wird sofort klar, wenn man sich in ihrem übervollen Atelier umschaut. Hier präsentiert sich ein überbordendes Kunterbunt von Büchern, Fotos, Spielzeugfiguren, Kunsthandwerk, Plastik und Kitsch, verstaut in unzähligen Schubladen, frei herumstehend oder auf Tischen und Schränken liegend. Schrill, farbenreich, fröhlich und freudig. Nichts hat eine Wertung, nichts hat eine Ordnung, es existieren keine Hierarchien, alles passt zusammen. Was da herumliegt und sich stapelt, ist eine Reise durch Kestlers Lebensstationen und mutet an wie eine Sammlung archäologischer Fundstücke. Alles Gesehene und Gesammelte geht durch sie hindurch und fliesst in ihre Arbeit ein. Eben: Sonnhilds Welt.