Textildesignerin Ginny Litscher: «Ich sehe im Bedrohlichen auch das Schöne»
Die Zürcher Textildesignerin Ginny Litscher ist eine begnadete Zeichnerin. Sie kreiert Seidenschals, Tapeten, Bettwäsche, Sofabezüge oder bemalt auf Wunsch auch Wände. Ausgangspunkt für ihre eigenwilligen Sujets sind ihre Gemälde, die alles andere als lieblich sind.
Quelle: zvg
Ginny Litscher bei der Arbeit.
Ginny Litschers kleine Dreizimmer-Altbauwohnung liegt vier
Gehminuten vom dichtbefahrenen Zürcher Hardplatz entfernt im einstigen
Arbeiter- und «Arme-Leute»-Quartier Zürich-Aussersihl. Für die Künstlerin, die
je einen Abschluss in Textildesign von der Hochschule Luzern und dem
renommierten Londoner Central Saint Martins College of Art and Design in der
Tasche hat, bietet der knappe Zuschnitt genau dieses Nestgefühl, die sie für
ihr künstlerisches Schaffen braucht. Hier schläft, wohnt und arbeitet sie, umgeben
von ihren Zeichnungen und Gemälden, Antikmöbeln, einem massiven, hölzernen
Esstisch und filigranen Kristalllüstern.
Das Atelierzimmer und das Schlafzimmer sind mit ihren
eigenen Sujets gestaltet. Die «Krieger», mit denen sie das Sofa und ihr
Lowboard bezogen hat, begleiten sie beim Malen und Zeichnen (das von
Testosteron und Adrenalin durchtränkte Gemetzel könnte übrigens aus der Serie
«Game of Thrones» stammen), die von römisch-griechischen Götterstatuen
inspirierten «Golden Angels» auf Tapete und Bettbezug wachen über ihren Schlaf.
Litscher malt und zeichnet opulente Phantasiewelten, die von
Tigern, Affen, Raben, Schlangen, Krokodilen, Fantasyfiguren wie Drachen,
Monster oder Feen bevölkert sind, eingebettet in Blumen, Pflanzen und Früchten.
Die digitalen Textildrucke und Tapeten basieren auf ihren handgefertigten
Tuschzeichnungen und Gemälden, die sie fotografiert und in den Computer
hochlädt. Daraus kreiert sie nach einer Bearbeitung mit Photoshop und einem auf
die gewünschten Masse angepassten Layout Seidenschals, Tapeten, Bettwäsche oder
was auch immer ihre Kunden wünschen. Drucken lässt sie in Como. Es ist ein
langer Prozess, an einigen Werken hat sie jahrelang gearbeitet.
Beim Besuch des Baublatts hat die umtriebige Designerin
gleich mehrere Gründe zur Freude: Am Vortag ist sie von der London Fashion Week
zurückgekehrt, wo sie ihre neuste Kollektion an bedruckten Seidenkleidern,
präsentieren konnte. Ausserdem hängt im Flur ihr jüngstes Werk. Ein
hochformatiges fast wandfüllendes Gemälde, das frisch verglast und gerahmt
worden ist. Es zeigt eine explosive Dynamik aus Papageien, Meerestieren,
Fischen, Blumen, Wasser und abstrakten Elementen in starken, leuchtenden
Orange- und Rottönen. Und dann ist eine Woche später im Ristorante Leo, das
sich im fünften Stock des Zürcher Globus-Gebäudes befindet, eine Vernissage mit
DJ angesagt. Der Besitzer war von einem ihrer Gemälde, das er zufällig gesehen
hat, derart angetan, dass er von ihr nicht nur bei sich zu Hause Küche, Schlaf-
und Wohnzimmer tapezieren, sondern für sein Restaurant auch die Etiketten für
Champagner und Weine gestalten liess.
Quelle: Christoph Hammer
Auf Auftrag malt sie auch direkt auf die Wand, wie hier in einer Maisonettewohnungen in Orselina (TI).
Quelle: zvg
Ein Blick in das Ginny-Litscher-Zimmer im Fünfsternehotel Grand Resort Bad Ragaz. Tapete, Vorhang, Bettwäsche sind mit dem Motiv «Golden Angels» gestaltet.
Ginny-Litscher-Zimmer im Grandhotel
Die Vierzigjährige kann auf einen beeindruckenden Werdegang
und illustre Auftraggeber zurückblicken. So konnte sie schon in sehr jungen
Jahren zwei Praktika bei der Grande Dame des Modedesigns, Vivienne Westwood,
und ein Praktikum bei Diane von Fürstenberg absolvieren sowie eine
Seidenschalkollektion für das Londoner Warenhaus Liberty und für das luxuriöse
St. Pancras Renaissance Hotel entwerfen. Vor ihrem Gang in die Selbständigkeit
hat sie in Spanien für Zara Home eine Weihnachtskollektion für Interior Design
entwickelt und in Italien für eine Textilfirma gezeichnet, die die ganz Grossen
der Branche mit Stoffen bedient, darunter Versace, Armani oder Westwood. Zu
ihren Kundinnen zählen die Sängerin Lady Gaga oder die Schauspielerinnen Keira
Knightley und Rosie Huntington-Whiteley. In jüngster Zeit sind auch Aufträge
von Luxusmarken wie Lalique oder Maserati Zürich hinzugekommen. Ihre Tapeten
sind im Ginny-Litscher-Zimmer im Fünfsternehotel Grand Resort Bad Ragaz oder im
japanischen Restaurant Ooki an der Zürcher Zentralstrasse zu sehen.
Trotz ihrer Begabung ist Litscher keineswegs das Sonnenkind,
der die Erfolge einfach so in den Schoss fallen. Sie hat immer hart und viel
für sie gearbeitet. «Für mich war schon während des Studiums in Luzern klar,
dass ich so schnell wie möglich Praktika machen und ein Netzwerk aufbauen muss.
Im ersten Praktikum bei Westwood habe ich nur Knöpfe angenäht, erst im zweiten
durfte ich zeichnen. Vor allem die Schule in London hat Kontakte in Form von
Wettbewerben gefördert. So kam ich an den Auftrag für Liberty. Später in
meiner Festanstellung bei Zara musste ich lernen, einiges an Tempo zuzulegen.
Das war knallhart. Ich habe unendlich viele Überstunden geleistet»,
resümiert Litscher.
Seit 2010 arbeitet sie selbstständig. Die Marke «Ginny
Litscher» ist von A bis Z ein Einfrau-Betrieb und so etwas wie ein
Selbstläufer. Litscher vertreibt ihre Produkte heute in erster Linie über ihre
Website. Es sind Einzelaufträge, die ihr erlauben, auf die individuellen
Wünsche ihrer kunstsinnigen Kunden einzugehen. PR läuft hauptsächlich über ihre
Posts auf Instagram. Aufmerksam wird man auf sie durch Empfehlungen und
Mund-zu-Mund-Propaganda.
Quelle: zvg
Ginny Litscher malt am liebsten mit Tusche. Der feine Strich ermöglicht ihr eine Präzision bis ins kleinste Detail.
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Ausschnitt aus der Serie «Samsung & Delilah»; Sie gehört zu Ginny Litschers Diplomarbeit an der Hochschule Luzern.
«Frauen inspirieren mich, sie sind wie Musen für mich»
Trotz lukrativer Aufträge sind getrenntes Wohnen und
Arbeiten für die Textildesignerin auch in Zukunft kein Thema. «Ich muss meine
Bilder stets um mich haben und sie immer wieder anschauen können, damit ich
kreativ sein kann», sagt sie. Obwohl sie sich in ihren intensiven Arbeitsphasen
von der Umwelt abschottet, ist Litscher alles andere als eine scheue Künstlerin
und weit davon entfernt, übersehen oder überhört zu werden. Sie ist
selbstbewusst, extrovertiert, kleidet sich feminin und sexy zugleich, ist herzlich,
lebenslustig und erfrischend bodenständig.
Das zeigt sich auch in ihren sehr expliziten künstlerischen
Arbeiten wie «Geisha Tree», «Lava Lamp» oder den biblischen Sujets aus ihrer
Luzerner Diplomarbeit «Adam and Eve» und «Samsung & Delilah» (sic!), die
auf ihrer Website dokumentiert sind. «Ich war schon seit meiner Kindheit von
starken Frauentypen fasziniert, von ihren schönen Kleidern, ihrer Stärke und
Durchsetzungskraft. Frauen inspirieren mich, sie sind wie Musen für mich»,
kommentiert Litscher diese Werke. Sie zeigen Frauen nackt, sich selbst befriedigend,
mit gespreizten Beinen und offener Vulva. Sie wirken stark und autark,
selbstbestimmt auch in ihrer Sexualität. «Ich sehe nichts Sexistisches oder
Pornographisches darin.», sagt Litscher. Dennoch hat ihre Luzerner Diplomarbeit
von 2006 im Fachbereich zu heftigen Kontroversen und sogar zu einem von 28
Personen unterschrieben Protestbrief geführt. Ginny Litscher war damals erst 19
Jahre alt und liess sich von den Gehässigkeiten nicht das Rückgrat brechen.
Sich auf die eigenen Stärken und Themen zu fokussieren und zum ureigenen
künstlerischen Ausdruck zu finden, wurde nämlich durch die damalige rein
künstlerische Ausrichtung der Fachklasse für Textildesign von Anfang an
gefördert. Noch heute ist Ginny Litscher der damaligen Leiterin Pia Schleiss für
diese Weichenstellung sehr dankbar.
Was macht denn Ginny Litschers Stil derart faszinierend,
dass sie für ihren Lebensunterhalt nicht dauernd Klinken putzen muss, sondern
dass die schönsten Aufträge förmlich auf sie zufliegen und Menschen sogar ihre
Privatwohnungen mit ihren düsteren Motiven tapezieren lassen wollen? Was
einen beim Betrachten ihrer Bilder unmittelbar in den Bann zieht, ist die
Präzision und die Ausarbeitung der Sujets bis ins feinste Detail und das barock
anmutende Vielerlei. Die Frau ist eine begnadete Zeichnerin! «Als Kind habe ich
in jeder freien Minute gezeichnet. Man konnte mir ein paar Buntstifte und
Papier in die Hand drücken und dann hat man drei, vier Stunden nichts mehr von
mir gehört. Bei den Freunden meiner Eltern galt ich daher als sehr
pflegeleichtes Kind. In der Schule war ich nicht besonders engagiert, obwohl
ich eine gute Schülerin war. Das einzige, was mich wirklich interessiert hat,
war Zeichnen», erzählt Ginny Litscher über ihre Passion.
Quelle: zvg
Wer die Tapete genau betrachtet, erkennt Kriegszenen.
Da ist zum Beispiel ihre Fähigkeit, Tiere in ihrem Wesen als
Tiere zu erfassen. Sie sind ein häufiges Motiv in ihren Arbeiten. Sie zeichnet
sie immer aus der Perspektive der neutralen Beobachterin: Litschers Tierfiguren
schauen einen nie an, ihre Augen führen ins Leere, sie suchen keinen Kontakt
zum Menschen. Was und wie sie sehen, bleibt unergründlich. Die Tiere sind für
sich und in sich. «Ich fange immer bei den Augen an, bis sie stimmen», sagt
Litscher. «Dann folgt der Rest.» Trotz Forscherblick malt sie Fauna und Flora
aber nicht realistisch wie es eine wissenschaftliche Zeichnerin tun würde,
sondern in einer eigenständigen künstlerischen Umsetzung. Lieblich oder gar
putzig sind nicht einmal ihre verspielten Tiergestalten, die durchaus auch
menschliche Tätigkeiten ausüben können.
Bissige Eichhörnchen und freche Affen
Litschers Stil ist sehr extravagant für Textildesign, das
für gewöhnlich das Gefällige zelebriert und damit die Erwartungshaltung einer
Käuferschaft bedient. Ihre Dessins – eigentlich sind es kleine
Erzählungen – sind auch nicht ein sich wiederholender Rapport im klassischen
Sinn, vielmehr wirken die Drucke wie ein Filmstill. Das Bedrohliche,
Unheimliche schwingt Litschers Darstellungen immer mit. Im nächsten Moment
schon kann die Sache kippen: Die Eichhörnchen, die Litscher im Londoner
Victoria Park so gern beobachtet hat, beissen sich möglicherweise beim Füttern
mit ihren messerscharfen Zähnchen in unserem Finger fest, die Affen benutzen
die Früchte, an denen sie gerade knabbern, vielleicht als Wurfgeschosse, der
Rabe wird uns womöglich mit seinem harten Schnabel ein Auge auspicken. Im
Gespräch muss Litscher ob diesen schauerlichen Spinnereien laut heraus lachen.
«Ja, genau, das ist es! Obwohl ich Eichhörnchen ja mega süss finde und den
Affen im Zoo stundenlang zuschauen kann. Doch ich sehe im Bedrohlichen auch das
Schöne. Nehmen wir einen Naturfilm, wo sich die Tiere gegenseitig jagen und
fressen. Das hat doch etwas Schönes, denn so ist die Natur.»
Quelle: zvg
Ginny Litscher malt immer wieder Tierfiguren – bei diesen Affen ist nicht klar, ob sie gleich mit den Früchten werfen.
Die Nähe und Gleichzeitigkeit von Licht und Schatten sind
die künstlerische Essenz von Ginny Litschers Bildern und ihrem Welt- und
Menschenverständnis. Was dies ist, wird in ihrem zu Anfang erwähnten Bild
«Krieger» verständlich. Schaut man genauer hin, entdeckt man im Blutrausch der
Männer zwei Hexen – die eine ist in der Flagge verewigt, die andere fliegt auf
dem Besenstiel daher. «Sie rufen die Krieger zum Mittagessen zurück in die
Burg. Dann sind sie wieder einfach die braven Ehemänner, die friedlich ihre
Suppe löffeln», erklärt Litscher. Die «Krieger» zählt zweifellos zu einer
ihrer schönsten Arbeiten und ist in ihrem Online-Shop auf einem weissen oder
als Negativ auf einem schwarzen Seidenschal erhältlich. Litscher hat auch schon
für einen Kunden eine Wand mit dem Krieger-Motiv tapeziert. Im Textilen
arbeitet sie am liebsten mit einer schweren, dicht gewobenen Seide. Das
Material kommt der menschlichen Haut sehr nah und hat durch ihren natürlichen
Schimmer und durch ihre Haptik eine stark erotische Komponente. So schafft das
Trägermaterial eine zusätzliche Bedeutungsebene zu ihren düsteren
Bilderzählungen von Licht und Schatten. Denn im Bedrohlichen findet sich immer
auch das Schöne.
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