11:55 BAUPRAXIS

Textildesignerin Ginny Litscher: «Ich sehe im Bedrohlichen auch das Schöne»

Geschrieben von: Dora Horvath (dh)
Teaserbild-Quelle: zvg

Die Zürcher Textildesignerin Ginny Litscher ist eine begnadete Zeichnerin. Sie kreiert Seidenschals, Tapeten, Bettwäsche, Sofabezüge oder bemalt auf Wunsch auch Wände. Ausgangspunkt für ihre eigenwilligen Sujets sind ihre Gemälde, die alles andere als lieblich sind.

Ginny Litscher

Quelle: zvg

Ginny Litscher bei der Arbeit.

Ginny Litschers kleine Dreizimmer-Altbauwohnung liegt vier Gehminuten vom dichtbefahrenen Zürcher Hardplatz entfernt im einstigen Arbeiter- und «Arme-Leute»-Quartier Zürich-Aussersihl. Für die Künstlerin, die je einen Abschluss in Textildesign von der Hochschule Luzern und dem renommierten Londoner Central Saint Martins College of Art and Design in der Tasche hat, bietet der knappe Zuschnitt genau dieses Nestgefühl, die sie für ihr künstlerisches Schaffen braucht. Hier schläft, wohnt und arbeitet sie, umgeben von ihren Zeichnungen und Gemälden, Antikmöbeln, einem massiven, hölzernen Esstisch und filigranen Kristalllüstern.

Das Atelierzimmer und das Schlafzimmer sind mit ihren eigenen Sujets gestaltet. Die «Krieger», mit denen sie das Sofa und ihr Lowboard bezogen hat, begleiten sie beim Malen und Zeichnen (das von Testosteron und Adrenalin durchtränkte Gemetzel könnte übrigens aus der Serie «Game of Thrones» stammen), die von römisch-griechischen Götterstatuen inspirierten «Golden Angels» auf Tapete und Bettbezug wachen über ihren Schlaf.

Litscher malt und zeichnet opulente Phantasiewelten, die von Tigern, Affen, Raben, Schlangen, Krokodilen, Fantasyfiguren wie Drachen, Monster oder Feen bevölkert sind, eingebettet in Blumen, Pflanzen und Früchten. Die digitalen Textildrucke und Tapeten basieren auf ihren handgefertigten Tuschzeichnungen und Gemälden, die sie fotografiert und in den Computer hochlädt. Daraus kreiert sie nach einer Bearbeitung mit Photoshop und einem auf die gewünschten Masse angepassten Layout Seidenschals, Tapeten, Bettwäsche oder was auch immer ihre Kunden wünschen. Drucken lässt sie in Como. Es ist ein langer Prozess, an einigen Werken hat sie jahrelang gearbeitet.

Beim Besuch des Baublatts hat die umtriebige Designerin gleich mehrere Gründe zur Freude: Am Vortag ist sie von der London Fashion Week zurückgekehrt, wo sie ihre neuste Kollektion an bedruckten Seidenkleidern, präsentieren konnte. Ausserdem hängt im Flur ihr jüngstes Werk. Ein hochformatiges fast wandfüllendes Gemälde, das frisch verglast und gerahmt worden ist. Es zeigt eine explosive Dynamik aus Papageien, Meerestieren, Fischen, Blumen, Wasser und abstrakten Elementen in starken, leuchtenden Orange- und Rottönen. Und dann ist eine Woche später im Ristorante Leo, das sich im fünften Stock des Zürcher Globus-Gebäudes befindet, eine Vernissage mit DJ angesagt. Der Besitzer war von einem ihrer Gemälde, das er zufällig gesehen hat, derart angetan, dass er von ihr nicht nur bei sich zu Hause Küche, Schlaf- und Wohnzimmer tapezieren, sondern für sein Restaurant auch die Etiketten für Champagner und Weine gestalten liess.

Ginny Litscher Malerei

Quelle: Christoph Hammer

Auf Auftrag malt sie auch direkt auf die Wand, wie hier in einer Maisonettewohnungen in Orselina (TI).

Room Bad Ragaz Ginny Litscher

Quelle: zvg

Ein Blick in das Ginny-Litscher-Zimmer im Fünfsternehotel Grand Resort Bad Ragaz. Tapete, Vorhang, Bettwäsche sind mit dem Motiv «Golden Angels» gestaltet.

Ginny-Litscher-Zimmer im Grandhotel

Die Vierzigjährige kann auf einen beeindruckenden Werdegang und illustre Auftraggeber zurückblicken. So konnte sie schon in sehr jungen Jahren zwei Praktika bei der Grande Dame des Modedesigns, Vivienne Westwood, und ein Praktikum bei  Diane von Fürstenberg absolvieren sowie eine Seidenschalkollektion für das Londoner Warenhaus Liberty und für das luxuriöse St. Pancras Renaissance Hotel entwerfen. Vor ihrem Gang in die Selbständigkeit hat sie in Spanien für Zara Home eine Weihnachtskollektion für Interior Design entwickelt und in Italien für eine Textilfirma gezeichnet, die die ganz Grossen der Branche mit Stoffen bedient, darunter Versace, Armani oder Westwood. Zu ihren Kundinnen zählen die Sängerin Lady Gaga oder die Schauspielerinnen Keira Knightley und Rosie Huntington-Whiteley. In jüngster Zeit sind auch Aufträge von Luxusmarken wie Lalique oder Maserati Zürich hinzugekommen. Ihre Tapeten sind im Ginny-Litscher-Zimmer im Fünfsternehotel Grand Resort Bad Ragaz oder im japanischen Restaurant Ooki an der Zürcher Zentralstrasse zu sehen.

Trotz ihrer Begabung ist Litscher keineswegs das Sonnenkind, der die Erfolge einfach so in den Schoss fallen. Sie hat immer hart und viel für sie gearbeitet. «Für mich war schon während des Studiums in Luzern klar, dass ich so schnell wie möglich Praktika machen und ein Netzwerk aufbauen muss. Im ersten Praktikum bei Westwood habe ich nur Knöpfe angenäht, erst im zweiten durfte ich zeichnen. Vor allem die Schule in London hat Kontakte in Form von Wettbewerben gefördert. So kam ich an den Auftrag für Liberty.  Später in meiner Festanstellung bei Zara musste ich lernen, einiges an Tempo zuzulegen. Das war knallhart. Ich habe  unendlich viele Überstunden geleistet», resümiert Litscher.

Seit 2010 arbeitet sie selbstständig. Die Marke «Ginny Litscher» ist von A bis Z ein Einfrau-Betrieb und so etwas wie ein Selbstläufer. Litscher vertreibt ihre Produkte heute in erster Linie über ihre Website. Es sind Einzelaufträge, die ihr erlauben, auf die individuellen Wünsche ihrer kunstsinnigen Kunden einzugehen. PR läuft hauptsächlich über ihre Posts auf Instagram. Aufmerksam wird man auf sie durch Empfehlungen und Mund-zu-Mund-Propaganda.

Ginny Litscher Rabe

Quelle: zvg

Ginny Litscher malt am liebsten mit Tusche. Der feine Strich ermöglicht ihr eine Präzision bis ins kleinste Detail.

Ginny Litscher Samsung & Delilah

Quelle: zvg

Ausschnitt aus der Serie «Samsung & Delilah»; Sie gehört zu Ginny Litschers Diplomarbeit an der Hochschule Luzern.

«Frauen inspirieren mich, sie sind wie Musen für mich»

Trotz lukrativer Aufträge sind getrenntes Wohnen und Arbeiten für die Textildesignerin auch in Zukunft kein Thema. «Ich muss meine Bilder stets um mich haben und sie immer wieder anschauen können, damit ich kreativ sein kann», sagt sie. Obwohl sie sich in ihren intensiven Arbeitsphasen von der Umwelt abschottet, ist Litscher alles andere als eine scheue Künstlerin und weit davon entfernt, übersehen oder überhört zu werden. Sie ist selbstbewusst, extrovertiert, kleidet sich feminin und sexy zugleich, ist herzlich, lebenslustig und erfrischend bodenständig.

Das zeigt sich auch in ihren sehr expliziten künstlerischen Arbeiten wie «Geisha Tree», «Lava Lamp» oder den biblischen Sujets aus ihrer Luzerner Diplomarbeit «Adam and Eve» und «Samsung & Delilah» (sic!), die auf ihrer Website dokumentiert sind. «Ich war schon seit meiner Kindheit von starken Frauentypen fasziniert, von ihren schönen Kleidern, ihrer Stärke und Durchsetzungskraft. Frauen inspirieren mich, sie sind wie Musen für mich», kommentiert Litscher diese Werke. Sie zeigen Frauen nackt, sich selbst befriedigend, mit gespreizten Beinen und offener Vulva. Sie wirken stark und autark, selbstbestimmt auch in ihrer Sexualität. «Ich sehe nichts Sexistisches oder Pornographisches darin.», sagt Litscher. Dennoch hat ihre Luzerner Diplomarbeit von 2006 im Fachbereich zu heftigen Kontroversen und sogar zu einem von 28 Personen unterschrieben Protestbrief geführt. Ginny Litscher war damals erst 19 Jahre alt und liess sich von den Gehässigkeiten nicht das Rückgrat brechen. Sich auf die eigenen Stärken und Themen zu fokussieren und zum ureigenen künstlerischen Ausdruck zu finden, wurde nämlich durch die damalige rein künstlerische Ausrichtung der Fachklasse für Textildesign von Anfang an gefördert. Noch heute ist Ginny Litscher der damaligen Leiterin Pia Schleiss für diese Weichenstellung sehr dankbar.

Was macht denn Ginny Litschers Stil derart faszinierend, dass sie für ihren Lebensunterhalt nicht dauernd Klinken putzen muss, sondern dass die schönsten Aufträge förmlich auf sie zufliegen und Menschen sogar ihre Privatwohnungen mit ihren düsteren Motiven tapezieren lassen wollen?  Was einen beim Betrachten ihrer Bilder unmittelbar in den Bann zieht, ist die Präzision und die Ausarbeitung der Sujets bis ins feinste Detail und das barock anmutende Vielerlei. Die Frau ist eine begnadete Zeichnerin! «Als Kind habe ich in jeder freien Minute gezeichnet. Man konnte mir ein paar Buntstifte und Papier in die Hand drücken und dann hat man drei, vier Stunden nichts mehr von mir gehört. Bei den Freunden meiner Eltern galt ich daher als sehr pflegeleichtes Kind. In der Schule war ich nicht besonders engagiert, obwohl ich eine gute Schülerin war. Das einzige, was mich wirklich interessiert hat, war Zeichnen», erzählt Ginny Litscher über ihre Passion. 

Tapete Ginny Litscher

Quelle: zvg

Wer die Tapete genau betrachtet, erkennt Kriegszenen.

Da ist zum Beispiel ihre Fähigkeit, Tiere in ihrem Wesen als Tiere zu erfassen. Sie sind ein häufiges Motiv in ihren Arbeiten. Sie zeichnet sie immer aus der Perspektive der neutralen Beobachterin: Litschers Tierfiguren schauen einen nie an, ihre Augen führen ins Leere, sie suchen keinen Kontakt zum Menschen. Was und wie sie sehen, bleibt unergründlich. Die Tiere sind für sich und in sich. «Ich fange immer bei den Augen an, bis sie stimmen», sagt Litscher. «Dann folgt der Rest.» Trotz Forscherblick malt sie Fauna und Flora aber nicht realistisch wie es eine wissenschaftliche Zeichnerin tun würde, sondern in einer eigenständigen künstlerischen Umsetzung. Lieblich oder gar putzig sind nicht einmal ihre verspielten Tiergestalten, die durchaus auch menschliche Tätigkeiten ausüben können. 

Bissige Eichhörnchen und freche Affen

Litschers Stil ist sehr extravagant für Textildesign, das für gewöhnlich das Gefällige zelebriert und damit die Erwartungshaltung einer Käuferschaft bedient.  Ihre Dessins – eigentlich sind es kleine Erzählungen – sind auch nicht ein sich wiederholender Rapport im klassischen Sinn, vielmehr wirken die Drucke wie ein Filmstill. Das Bedrohliche, Unheimliche schwingt Litschers Darstellungen immer mit. Im nächsten Moment schon kann die Sache kippen: Die Eichhörnchen, die Litscher im Londoner Victoria Park so gern beobachtet hat, beissen sich möglicherweise beim Füttern mit ihren messerscharfen Zähnchen in unserem Finger fest, die Affen benutzen die Früchte, an denen sie gerade knabbern, vielleicht als Wurfgeschosse, der Rabe wird uns womöglich mit seinem harten Schnabel ein Auge auspicken. Im Gespräch muss Litscher ob diesen schauerlichen Spinnereien laut heraus lachen. «Ja, genau, das ist es! Obwohl ich Eichhörnchen ja mega süss finde und den Affen im Zoo stundenlang zuschauen kann. Doch ich sehe im Bedrohlichen auch das Schöne. Nehmen wir einen Naturfilm, wo sich die Tiere gegenseitig jagen und fressen. Das hat doch etwas Schönes, denn so ist die Natur.»

AB-Monkeys Ginny Litscher

Quelle: zvg

Ginny Litscher malt immer wieder Tierfiguren – bei diesen Affen ist nicht klar, ob sie gleich mit den Früchten werfen.

Die Nähe und Gleichzeitigkeit von Licht und Schatten sind die künstlerische Essenz von Ginny Litschers Bildern und ihrem Welt- und Menschenverständnis. Was dies ist, wird in ihrem zu Anfang erwähnten Bild «Krieger» verständlich. Schaut man genauer hin, entdeckt man im Blutrausch der Männer zwei Hexen – die eine ist in der Flagge verewigt, die andere fliegt auf dem Besenstiel daher. «Sie rufen die Krieger zum Mittagessen zurück in die Burg. Dann sind sie wieder einfach die braven Ehemänner, die friedlich ihre Suppe löffeln», erklärt Litscher.  Die «Krieger» zählt zweifellos zu einer ihrer schönsten Arbeiten und ist in ihrem Online-Shop auf einem weissen oder als Negativ auf einem schwarzen Seidenschal erhältlich. Litscher hat auch schon für einen Kunden eine Wand mit dem Krieger-Motiv tapeziert. Im Textilen arbeitet sie am liebsten mit einer schweren, dicht gewobenen Seide. Das Material kommt der menschlichen Haut sehr nah und hat durch ihren natürlichen Schimmer und durch ihre Haptik eine stark erotische Komponente. So schafft das Trägermaterial eine zusätzliche Bedeutungsebene zu ihren düsteren Bilderzählungen von Licht und Schatten. Denn im Bedrohlichen findet sich immer auch das Schöne. 

Mehr zu sehen auf ginnylitscher.com

Geschrieben von

Freie Mitarbeiterin für das Baublatt.

Auch interessant

Anzeige

Firmenprofile

Suter Zotti Schadstoffsanierung AG

Finden Sie über die neuen Firmenprofile bequem und unkompliziert Kontakte zu Handwerkern und Herstellern.

Reports

analyse

Kostenfreie Reports zur Bauindustrie

Jetzt noch mehr inhaltsstarke Quartalsanalysen, kostenlos für Baublatt Abonnent*innen. Neben der Baublatt Analyse, die neu «Baublatt Project Categories» heisst, erhalten Sie ab April 2025 zwei brandneue Reports als Zusatz. Erfahren Sie hier was «Baublatt Top Players» und «Baublatt Regional Projects» zu bieten haben – wie gewohnt digital, prägnant und graphisch auf den Punkt gebracht.

Dossier

Spannendes aus Print und Online für Abonnenten
© James Sullivan, unsplash

Spannendes aus Print und Online für Abonnenten

Dieses Dossier enthält die Artikel aus den letzten Baublatt-Ausgaben sowie Geschichten, die exklusiv auf baublatt.ch erscheinen. Dabei geht es unter anderem um die Baukonjunktur, neue Bauverfahren, Erkenntnisse aus der Forschung, aktuelle Bauprojekte oder um besonders interessante Baustellen.

Bauaufträge

Alle Bauaufträge

Newsletter abonnieren

newsico

Mit dem Baublatt-Newsletter erhalten Sie regelmässig relevante, unabhängige News zu aktuellen Themen der Baubranche.