08:31 BAUPRAXIS

Stägestadt: Die Treppen-Landschaft von St. Gallen

Geschrieben von: Stefan Breitenmoser (bre)
Teaserbild-Quelle: Klaus Stadler

In keiner Schweizer Stadt gibt es so viele Treppen wie in St. Gallen. Denn nirgends sind sie so zentral für die Stadtentwicklung. Deshalb hat Edgar Heilig ihnen das kürzlich erschienene Buch «TreppenLandschaft St. Gallen» gewidmet. Im Interview verrät er, wo sich die schönsten Treppen finden und wieso sie vor allem aus Holz sind.

Edgar Heilig an der Buch-Vernissage

Quelle: Klaus Stadler

Edgar Heilig referiert an der Vernissage des Buchs – wie es sich gehört – auf einer Holztreppe.

Es gibt in der Stadt St. Gallen rund 120 Treppen mit 13 000 Stufen. Welches ist Ihre Lieblingstreppe?

Edgar Heilig:Meine Lieblingstreppe ist die St. Galler Holztreppe, die zahlreich vorkommt, sind doch etwa zwei Drittel aller Treppen Holztreppen. Es beeindruckt mich, dass es die gleiche Treppe seit 130 Jahren gibt und sie immer noch gebaut wird. Deshalb spielt die Umgebung der Treppe, ihre Einbindung in den stadträumlichen Kontext eine entscheidende Rolle. Die Treppen am Rosenberg sind geradlinig, steil und lang. Romantischer, besser eingebunden sind jene Treppen, die von der Siedlung in die Landschaft führen wie beispielsweise der Falkenburgweg oder der Brauersteig. Diese gefallen mir eher.

Was fasziniert Sie so an dieser Treppe, die auf das «Normal für hölzerne Treppen» des Gemeindeingenieurs Jakob Haltiner zurückgeht?

Mich faszinieren die Einfachheit und Ursprünglichkeit dieser Holztreppe. Haltiner hat sie im Rahmen der Stadtentwicklung entworfen. Denn gegen Ende des 19. Jahrhunderts war der Talboden überbaut. Also begann man die Hänge der flankierenden Hügel Rosenberg, Freudenberg oder Bernegg fürs Wohnen zu erschliessen. Dabei waren die Treppen von zentraler Bedeutung als direkte Verbindungen für die Fussgänger. Denn sie boten eine einfache Form der direkten, vertikalen Erschliessung.

Kann man also vereinfacht sagen, dass St. Gallen eine Treppenstadt ist, weil die Stadt sonst gar nicht hätte wachsen können?

Das ist so. Weil wir so viele Hänge im Stadtzentrum haben, haben wir so viele Treppen. Natürlich gibt es überall auf der Welt Treppen, und es gibt auch noch andere Treppenstädte wie Lissabon, Stuttgart oder Sarajevo. Doch nirgendwo sind sie so dominant in der Strukturentwicklung wie in St. Gallen. Die Treppen sind hier ein zentrales Moment der Erschliessung, ein einfaches und probates Mittel, um mit der Topographie zurechtzukommen, und vor allem eine kurze und direkte Verbindung in höher gelegene Gebiete. Denn St. Gallen ist eine Stadt ohne landschaftlich herausragendes Merkmal. Wir haben keinen See oder Ähnliches. Also sind die Hügel unser landschaftliches Kapital. Dank der Treppen können sie gut zu Fuss erkundet werden und prägen so die Stadterfahrung.

Kann man die Erstellung eines Grossteils der Treppen zeitlich datieren?

Es gibt vor allem zwei Phasen des Treppenbaus. Die erste Phase war zwischen 1889 und 1898. Eine zweite Phase beginnt mit der Erschliessung des Bernegghangs ab 1905. Diese hat man aber im Bebauungsplan anders gehandhabt. Im Vergleich zu den Treppen am Rosenberg, welche oft haarscharf auf der Parzellengrenze verlaufen, sind die Treppen an der Bernegg oft «gewendelt». Man hat ihnen also deutlich mehr Platz eingeräumt und sie in den Überbauungsplänen von Beginn an mitentworfen.

In St. Gallen spricht man im Falle des Rosenbergs auch vom «Bonzenhügel». Merkt man auch bei den Treppen einen Unterschied zwischen Rosenberg und Ruhberg?

Man merkt sehr viele Unterschiede. So gehen am Rosenberg mit wenigen Ausnahmen die Treppen gerade hoch und nehmen keinen Bezug zu den privaten Überbauungen. Am Ruhberg hingegen sind die Treppen in die Umgebung und ihre Nutzung integriert. Sie verbinden die parallel angelegten Strassenzüge mit dem engen Bebauungsrhythmus. Manche Häuser werden direkt über die Treppen erschlossen, ebenso die Gewerbezonen zwischen den Häuserreihen. Sie waren in diesem Arbeiterquartier zentral. Klar ist das heute nicht mehr ganz das Gleiche wie Anfang des letzten Jahrhunderts. Trotzdem ist am Ruhberg der Kontakt zu den Wohnhäusern immer noch lebendig und vielfältig.

Die Treppen in St. Gallen heissen manchmal Treppe, manchmal aber auch Weg, Gässlein oder Steig. Gibt es Gründe dafür?

Zum Teil waren Wege schon da, bevor sie –als Fahrwege nicht mehr benützt –zu Treppen umgebaut wurden. Zum Teil sind sie aber neu wie beispielsweise der Furglerweg hinter dem Bundesverwaltungsgericht. Man kann fast keine Regeln für die Namensgebung aufstellen. So ist beispielsweise der Falkenburgweg die längste Treppe ohne Wegabschnitte. Andere Beispiele hingegen verfügen über lange Wegstücke und heissen trotzdem Treppe. Bei den Gässchen ist es eindeutiger. Denn dabei handelte es sich wirklich um Gässchen wie beispielsweise das Dreilindengässchen. Doch mit dem Strassenbau des frühen 19. Jahrhunderts wurden diese Gässchen als Fahrwege überflüssig und Treppenläufen an das veränderte Gelände angepasst. Bei den Wegen ist es so, dass es oft wirkliche Wege waren wie der Tivoliweg. Doch diese mussten natürlich unterhalten werden, um der Witterung standzuhalten. Dadurch wurden sie im Laufe der Zeit erst zu Prügelwegen und dann immer mehr zur Treppe ausgebaut.

Sie ordnen im Buch die verschiedenen Treppen in geographische Treppenfamilien. Hat das auch damit zu tun, dass es ansonsten schwer ist, die Treppen zu kategorisieren?

Das ist so. Deshalb habe ich mich aufs Geographische in Zusammenhang mit der Stadtentwicklung konzentriert. Ausserdem wollte ich auch kein Treppen-Inventar machen. Das wäre nicht zielführend gewesen. Und wie sollte man sie sonst ordnen? So ist beispielsweise der oberste Teil des Falkenburgwegs mit seinen tief hängenden Eichen wohl der mit Abstand attraktivste. Aber das zu schreiben, hätte nur zu einer Pseudostatistik geführt. Die andere Kategorisierung bietet die offizielle Strassenklassierung – Treppen als Wege erster bis dritter Klasse. Diese Klassierung regelt vor allem den Unterhalt.

Woher kommt Ihre Faszination für Treppen?

Meine Spezialität ist die Siedlungsentwicklung. Im Rahmen meiner langjährigen Arbeit auf dem Stadtplanungsamt ist mir die Bedeutung der Treppen schon lange aufgefallen. Denn nirgends sind die Treppen so zentral für die Stadterschliessung wie in St. Gallen. Also dachte ich, das sollte mal in einem Buch gewürdigt werden.

Inwiefern sind die Treppen noch heute zentral für die Stadtplanung?

Zentral sind sie heute nach wie vor für die direkte Erschliessung der Hanglagen und des «Naherholungsgebiets». Sie sind wichtige Zäsuren. Dabei spielen die Antritte eine wichtige Rolle. Diese sind nicht immer deutlich im Stadtgefüge erkennbar. Um gewisse Treppen zu entdecken, muss man fast St. Galler sein.

Was sind die Vorteile der klassischen St. Galler Holztreppe?

Nebst dem Fakt, dass Holzstufen im Gegensatz zu Steinstufen fürs Treppensteigen angenehmer sind, gibt es natürlich noch weitere Vorteile. So sind sie relativ gut handelbar, da man ohne schwere Geräte einzelne Teile relativ einfach ersetzen kann. Ausserdem verlaufen viele Werkleitungen unter den Treppen. Für die Wartung dieser ist es natürlich einfacher, wenn man nur eine Holztreppe abschrauben muss. Allerdings ist der Unterhalt der Holztreppen im Herbst und Winter sehr aufwändig. Denn dieser bedingt sehr viel Handarbeit.

Welche Treppe braucht St. Gallen noch?

Wir haben allein im Stadtzentrum rund 65 Treppen. Die bestehenden zentrumsnahen Quartiere sind gut erschlossen. Im Zusammenhang mit neuen Erschliessungen hingegen werden nach wie vor Treppen gebaut, immer noch mit den gleichen konstruktiven Vorgaben wie vor 130 Jahren, zum Beispiel der Furglerweg hinter dem Bundesverwaltungsgericht oder der Hohermutweg im Stadtteil St. Georgen.

Falkenburgweg St. Gallen

Quelle: Klaus Stadler

Der Falkenburgweg mit seinen tief hängenden Eichen ist wohl mit die schönste Treppe in der ganzen Stadt St. Gallen.

Sie schreiben in ihrem Buch auch, dass sich Menschen auf Treppen eher grüssen als auf Trottoirs. Wieso ist das so?

Das ist ein Zitat von Martin Wettstein aus dem 1996 erschienen St. Galler Stadtführer. Er begründet das damit, dass sich der treppensteigende Mensch in einer Notsituation befinde, da sein Stand nicht fest ist und er sich in einer Schieflage befindet. Deshalb verhielten sich Menschen auf Treppen ähnlich wie auf Bergpfaden oder in engen Schluchten: Durch Gruss vergewisserten sie sich des Wohlwollens und der Harmlosigkeit des Entgegenkommenden.

Von einem Treppen-Boom in St. Gallen zu sprechen, wäre vielleicht vermessen. Trotzdem gibt es mittlerweile einen jährlichen Treppenlauf und die Vereinigung «Stägestadt», die sogar monatlich eine Treppe kürt. Entdecken die St. Galler gerade ihre Treppen wieder?

Ich glaube, dass die Aktionen der «Stägestadt» grossen Einfluss haben. Die Treppen sind tatsächlich wieder mehr im Bewusstsein der Leute. Es gibt ja auch den sportlichen Aspekt, denn wie wir alle wissen, ist Treppensteigen sehr gesund. So trainiert beispielsweise der SC Brühl schon lange immer wieder auf dem Tivoliweg.

Was ist die lustigste Treppen-Geschichte, die sie kennen?

Mir selbst ist keine bekannt. Aber Klaus Stadler, der die Fotografien für das Buch gemacht hat, ist während seiner diversen Touren auf den Treppen aufgefallen, dass viele eine «Stägechatz» haben, welche die Treppe bewacht. Es scheint also Revierkatzen zu geben, die sich gewisse Treppen «einverleibt» haben.

Demontage Holztreppe

Quelle: Klaus Stadler

Ein Vorteil der Holztreppen ist, dass man sie relativ leicht demontieren kann, um an die darunter liegenden Werkleitungen zu gelangen.

«TreppenLandschaft St. Gallen»

Das Buch «TreppenLandschaft St. Gallen» erschien im August 2019 im Rahmen der Schriftenreihe St. Gallen. Geschrieben hat es der langjährige Mitarbeiter der Stadtplanung St. Gallen, Edgar Heilig. Ausserdem glänzt es durch die schönen Fotos von Klaus Stadler. Ausgangspunkt war der Bericht «St. Galler Treppen und Treppenwege, Stadträumliche Bedeutung und Gestaltungsgrundsätze», welcher 2014 erschien und ebenfalls von Edgar Heilig im Rahmen seiner Arbeit verfasst wurde. Mit dem nun vorliegenden Buch erhält man auf insgesamt 192 Seiten einen guten Überblick über die vielen Treppen in der Stadt, ihre Geschichte, Entstehung und Bedeutung für die Stadtstruktur. Angereichert ist es mit diversen historischen Bildern und Schnitten.(bre)

Treppen Landschaft St. Gallen, Edgar Heilig, Fotos: Klaus Stadler, 2019, 192 Seiten,Schriftenreihe der Stadt St. Gallen, erschienen in der VGS Verlagsgenossenschaft St. Gallen, ISBN-Nummer: 978-3-7291-1176-9 , 34 Franken.

Geschrieben von

Freier Mitarbeiter für das Baublatt.

Auch interessant

Anzeige

Firmenprofile

Maagtechnic AG

Finden Sie über die neuen Firmenprofile bequem und unkompliziert Kontakte zu Handwerkern und Herstellern.

Reports

analyse

Kostenfreie Reports zur Bauindustrie

Jetzt noch mehr inhaltsstarke Quartalsanalysen, kostenlos für Baublatt Abonnent*innen. Neben der Baublatt Analyse, die neu «Baublatt Project Categories» heisst, erhalten Sie ab April 2025 zwei brandneue Reports als Zusatz. Erfahren Sie hier was «Baublatt Top Players» und «Baublatt Regional Projects» zu bieten haben – wie gewohnt digital, prägnant und graphisch auf den Punkt gebracht.

Dossier

Spannendes aus Print und Online für Abonnenten
© James Sullivan, unsplash

Spannendes aus Print und Online für Abonnenten

Dieses Dossier enthält die Artikel aus den letzten Baublatt-Ausgaben sowie Geschichten, die exklusiv auf baublatt.ch erscheinen. Dabei geht es unter anderem um die Baukonjunktur, neue Bauverfahren, Erkenntnisse aus der Forschung, aktuelle Bauprojekte oder um besonders interessante Baustellen.

Bauaufträge

Alle Bauaufträge

Newsletter abonnieren

newsico

Mit dem Baublatt-Newsletter erhalten Sie regelmässig relevante, unabhängige News zu aktuellen Themen der Baubranche.