Shigeru Ban: Karton statt Stahl
Der Japaner Shigeru Ban nimmt in der Architekturwelt eine Sonderstellung ein: Mit Baumaterialien wie Holz, Lehm, Karton, Papier oder Textilien errichtet er «Wunderwerke der Architektur, die an Innovation, Eleganz und Sensibilität unübertroffen sind» – auch in der Schweiz.
Quelle: Hiroyuki Hirai
Kartonröhren als konstruktive Elemente: Das 1995 gebaute «Paper House» am Yamanaka-See, Präfektur Yamanashi, Japan,
Seinen ersten grossen Schweizer Auftrag erhielt Shigeru Ban
in Zürich: Für das Verlagshaus Tamedia, heute TX-Gruppe, errichtete der
japanische Architekt ein neues Hauptgebäude, direkt am Ufer der Limmat. Der
Neubau sollte erstens attraktive Arbeitsplätze schaffen, zweitens von einem
nachhaltigen Konzept begleitet sein, der das ganze Areal aufwertet. Und
drittens sollte dieser Neubau trotz hoher qualitativer Anforderungen mit
möglichst sparsamem Mitteleinsatz realisiert werden.
Der Entwurf Bans hatte es in sich: Er wollte einen Bau auf
einem komplett hölzernen Tragsystem errichten und zudem ganz auf Glasfassaden
setzen. Das Projekt wurde kontrovers diskutiert, doch der Stararchitekt
überzeugte schliesslich nicht nur die Tamedia-Verantwortlichen, sondern auch
das städtische Amt für Bau-bewilligungen und am Ende sogar die
Feuerpolizei.
Quelle: Ben Kron
Das Hauptgebäude der heutigen TX-Gruppe, ehemals Tamedia, war Shigeru Bans erstes grosses Schweizer Bauprojekt.
«Holz riecht so wunderbar.»
Holz ist ein zentrales Material für den Japaner, das er für
seine Schönheit liebt: «Es riecht so wunderbar. Als ich ein Kind war, wollte
ich Schreiner werden.» Um das Tamedia-Projekt umzusetzen, zog Ban einen
erfahrenen Holzbau-Ingenieur hinzu: den Herisauer Hermann Blumer, mit der er
schon zuvor Holzbauprojekte verwirklicht hatte. Zum Beispiel den Museumsbau des
Centre Pompidou in Metz: Bans Siegerprojekt von 2003 sah eine geflochtene und
gewölbte Holzkonstruktion vor, die auf einem hexagonalen Muster basiert. Die
Konstruktion wurde von englischen und französischen Fachleuten als
unrealisierbar abgelehnt, indes vom ETH-Ingenieur Blumer erfolgreich umgesetzt.
Wenige Jahre später baute Shigeru Ban mit Blumer auch das Golf-Clubgebäude
«Nine Bridges» in Südkorea, das diverse Auszeichnungen erhielt.
Im Juni 2013 konnte der Neubau des Tamedia-Hauptsitzes
bezogen werden – und ist ein Hingucker mit seiner mächtigen, hölzernen
Tragstruktur, die dank der transparenten Haut aus Glas und Aluminium stets
sichtbar bleibt. Vor allem auf seiner Längsseite am Limmatufer kommt das
Gebäude zur Geltung.
Quelle: Shigeru Ban Architects
Vor allem für seine humanitäre Arbeit als Architekt erhielt Shigeru Ban 2014 den Pritzker-Preis
Quelle: Swatch
Das Hauptgebäude des Swatch/Omega Campus in Biel, eine 237 Meter lange Konstruktion aus Leimholzsäulen und Brettsperrholz.
Karton und Papier
Neben seinem liebsten Werkstoff Holz, das er wagemutiger
einsetzt als jeder andere Architekt, setzt Ban auch auf andere, ungewöhnliche
Baumaterialien: Nebst Lehm und Textilien sind bei ihm Wände aus Papier und
sogar Konstruktionen aus Kartonröhren zu finden. Dabei geht es dem 67-Jährigen
mitnichten um eine grüne Strategie: «Ich habe einfach Interesse an
unbehandelten, kostengünstigen Materialien.» Eine Herangehensweise, die dennoch
Nachhaltigkeit schafft und zu seinem bescheidenen Wesen passt.
Ban erklärt seine Architektur auch durch seine Kindheit in
Tokio: «Meine Eltern bauten ihr Haus mehrmals um, und so kam es mir vor, als
wäre ständig ein Schreiner im Haus. Als Kind habe ich dann die Holzabfälle
gesammelt, um daraus etwas zu basteln, eine Spielzeugeisenbahn oder ein Haus.»
Diese simplen Erfahrungen lehrten ihn, dass sich sogenannte Reststoffe und
Abfälle durchaus zu etwas Neuem umformen lassen.
Quelle: Didier Boy de la Tour
Von diversen Ingenieuren entworfen: die Konstruktion des Centre Pompidou-Metz, 2010 eröffnet-
Verspielt und farbenfroh
Ein noch grösseres Projekt als in Zürich konnte Shigeru Ban
in Biel umsetzen: den Swatch/Omega Campus, den neuen Hauptsitz des
Uhrenkonzerns. Bereits 2007 hatte der Architekt in Tokio das 13 Stockwerke hohe
Nicolas G. Hayek Center für das Unternehmen errichtet. In Biel realisierte er
einen Komplex von drei Gebäuden, wie in Zürich mit Hermann Blumer und dem
Zürcher Büro Itten + Brechbühl AG als Generalplaner. Das markanteste der Drei
ist der Swatch-Bau, eine geschwungene, teilweise mit dem Kunststoff ETFE, teilweise
mit Glas verkleidete Holzgitter-Hülle, 237 Meter lang, 35 Meter breit und
bis zu 27 Meter hoch. Leimholzsäulen und Platten aus Brettsperrholz sind die
wichtigsten Elemente des Baus, den Ban als «verspielt und farbenfroh»
beschreibt – passend zur Marke Swatch.
Alle beschriebenen Bauten und Projekte sind im Buch «Shigeru
Ban – Complete Works 1985–Today» zu bewundern. Der eindrucksvolle, knapp 700
Seiten starke und reich bebilderte «Schinken» ist in einer überarbeiteten
Neuauflage erschienen, acht Jahre nach der erste XXL-Monografie aus dem
Taschen-Verlag.
Quelle: Hiroyuki Hirai
Viel mit Textilien arbeitete Ban beim «Curtain Wall House», das er 1995 in der Tokioter Präfektur Itabashi realisierte.
Anfang der Papierarchitektur
Das Buch beginnt mit Bans Ausstellungsraum für die Tokioter
Ausstellung «Alvar Aalto – Furniture and Glas»: Hier musste er 1985 einen
temporären Ort für die Objekte des finnischen Architekten schaffen, durfte aber
aus Kostengründen nicht auf Aaltos Lieblingsmaterial Holz zurückgreifen. Also
verwendete Ban Kartonrollen für Raumteiler, Deckenabhängungen und Podeste,
ergänzt von Wänden aus Papier. Der Architekt nennt es schlicht den «Anfang der
Papierarchitektur».
Die Inspiration dazu kam ihm bei einer noch früheren Arbeit:
Damals hatte er ebenfalls in Tokio einen Ausstellungsraum gestaltet, mit
Textilien als Gestaltungsmaterial. Am Ende blieben Kartonrollen übrig, worauf
die Textilien gewickelt waren, und er beschloss spontan, dieses Material
ebenfalls einzusetzen.
Quelle: Sanchez y Montoro
Ein spezieller Auftrag war dieser reisefähige Pavillon, der für Camper, einen Sponsor einer Segelregatta, entworfen wurde. Er stand 2011 in Alicante (Spanien), Sanya (Insel Hainan, China), Miami (USA) und Lorient (Frankreich).
Formenfinder
Begleitet wird die Werkschau von einem Aufsatz des
Kunsthistorikers Philip Jodidio. Er sieht in den Arbeiten Bans «Wunderwerke der
Architektur, die an Innovation, Eleganz und Sensibilität unübertroffen sind.»
Weiter schreibt er über den Architekten, der sich selbst als Formenfinder
bezeichnet: «Bans Werk möchte vor allem verstehen: Wie funktionieren Gebäude?
Wie können Abfallmaterialien durch Wiederverwendung aufgewertet werden?»
Dieses Werk Bans umfasst dabei nicht nur Firmensitze, Museen
und andere Grossprojekte: Schon früh hat er auf Basis seiner
Kartonröhrentechnik Gebäude entwickelt, die sich rasch und einfach als
Flüchtlingsunterkünfte errichtet lassen. So stehen seine Notbehausungen in
Ruanda und Sri Lanka, in der Ukraine, Haiti oder den Krisengebieten
Fukushimas.
Quelle: Dominic Sansoni
2007, kurz nach dem Tsunami, baute Ban diese Notunterkünfte in der Ortschaft Kirinda, ganz im Süden von Sri Lanka.
Humanitäre Architektur
All dies trug ihm 2014 den Pritzker-Preis ein. In der
Laudatio heisst es: «Shigeru Ban ist ein hervorragender Architekt, der seit
fast dreissig Jahren mit kreativer und hochqualifizierter Planung auf extreme,
durch Naturkatastrophen verursachte Katastrophen reagiert.» Eine bemerkenswerte
Würdigung, die nicht seine teils spektakulären Bauten, sondern sein humanitäres
Engagement als Architekten in den Vordergrund stellt. Fünf Jahre nach Ban
erhielt übrigens Arata Isozaki den begehrten Architekturpreis, bei dem Ban nach
seinem Studium ein Jahr gearbeitet hatte.
Der fast sieben Kilogramm schwere Bildband schliesst mit einem Ausblick auf zwei aktuelle Projekte Shigeru Bans, die beide 2025 abgeschlossen sein sollen: Zum einen eine neue Brennerei für die US-Destillerie «Kentucky Owl», zum anderen eine neue chirurgische Station für die ukrainische Stadt Lwiw. Ban entwarf für das durch den Krieg chronisch überlastete Spital einen neuen Operationsbau, welcher der grösste des Landes sein wird. Er besteht komplett aus Holz und kommt ohne jede Metallverbindung aus. Und trotz seiner bald 81 Jahre war auch bei diesem Projekt Holzbau-Ingenieur Hermann Blumer mit an Bord.
Quelle: Didier Boy de la Tour
Eines der spektakulärsten Werke Shigeru Bans ist der 2017 eröffnete Komplex «La Seine Musicale», auf einer Seine-Insel im Pariser Vorort Boulogne-Billancourt.
Buchtipp
Shigeru Ban. Complete Works 1985 – Today
Hardcover, 30,8 × 39 cm, 6,85 kg, 696 Seiten, Fr.
150.–
ISBN 978-3-8365-8934-5
taschen.com