14:25 BAUPRAXIS

Pilotprojekt Tacheles: Allergikerfreundliches Bauen

Geschrieben von: Robert Mehl (rm)
Teaserbild-Quelle: Robert Mehl

Derzeit wird im Osten Berlins das ehemalige Kunsthaus «Tacheles» und die umgebende Brache zu einem gemischt genutzten Quartier mit einer Geschäftsstrasse entwickelt. Der Masterplan dazu stammt von Herzog & de Meuron. Es ist zugleich das Pilotprojekt der Gesellschaft AFBA, die allergikerfreundliches Bauen unterstützt.

Nach der deutsch-deutschen Wiedervereinigung avanciert insbesondere der marode, aber kostengünstige Ostteil der Stadt Berlin zum Zentrum der Jugend. Hier wurde der Techno mitentwickelt, der Soundtrack einer eigenen Subkultur. Getanzt wurde in Gebäuden, die dem Verfall preisgegeben waren, die aber den Sozialismus überdauert hatten. Dancefloors wie der «Tresor», das «Berghain» oder eben das «Tacheles» entwickelten sich zu Kultstätten. 

Letzteres war einmal der Zugang von der Oranienburger Strasse zu den 1909 eröffneten Friedrichstadt-Passagen. Diese waren frühe Vertreter einer Shopping Mall, die nach dem sogenannten Shop-in-Shop-Prinzip betrieben wurde. Viele kleine Läden wurden von Detaillisten geführt. Es handelte sich um Einzelhändler, die den Einkauf, die Logistik und das Kassensystem zentral organisierten. Die Friedrichstadt-Passagen, insbesondere deren grosse zentrale Kuppel, wurden im Zweiten Weltkrieg stark beschädigt. Was noch stand, wurde zu DDR-Zeiten weitgehend abgerissen. 

Übrig blieb allein der Torbau, bei dem es um die Jahrtausendwende bauliche Veränderungen gab. Private Initiativen sanierten partiell den maroden Altbau. Allmählich etablierte sich daraus das Kunsthaus «Tacheles», in dem Ausstellungen, Happenings und musikalische Events stattfanden. Die Eigentümerverhältnisse wechselten und waren mitunter dubios. Es gab zahlreiche Prozesse, eine Hausbesetzung, wiederholte Duldungen und am Ende eine polizeiliche Räumung.

Das Kunsthaus Tacheles, ein früherer Hort der Spontikultur

2014 kaufte die britische Fondgesellschaft Aermont Capital das «Tacheles»-Grundstück und beauftragte Pwr Development mit der Projektentwicklung. Bereits seit Ende der 1990er-Jahre lag ein Bebauungsplan vor, der als Basis eines Nutzungskonzepts diente für einen grossvolumigen Baukörper. Die neuen Eigentümer bewerteten das Konzept jedoch als nicht adäquat für den Standort und stadträumlich als unbefriedigend.

In der Folge erhielt Herzog & de Meuron (HdM) den Auftrag, ein neues städtebauliches Konzept zu entwickeln, das auf Basis des bestehenden Bebauungsplanes eine neue Baukörperkonfiguration vorsah. Das Ergebnis dieser Überlegungen ergab ein städtebauliches Modell, das aktuell im ersten Obergeschoss des früheren Kunsthauses «Tacheles» zu finden ist. Denn während derzeit auf den ehemaligen Brachflächen rund um das einstige Kunsthaus sieben Wohngebäude und drei Bürohäuser in den Himmel wachsen, werden die alten Räumlichkeiten mustergültig konserviert und restauriert.

Treppenhaus

Quelle: Robert Mehl

Treppenhaus - Das alte Treppenhaus mit Graffitis soll restauriert werden und als Kunstwerk integral erhalten bleiben.

Man kann sich ein stilles Lächeln nicht verkneifen, nach Jahrzehnten wieder im vertrauten und mit Graffiti besprühten Treppenhaus zu stehen. Nun präsentiert sich das Gebäude geruchsfrei und sauber. Aus der Entstehungszeit der Graffiti nunmehr deren Statuswandel zu erkennen, ist ein fast unvorstellbarer Gedanke: Der Ort war einmal ein Hort der Spontikultur, die ihre Gedankenwelt als Gegenentwurf zum Kapitalismus verstand. Nunmehr werden die Graffiti- Arbeiten als wertvolle Kunst von eben jenem System sozusagen vereinnahmt.

Alte Substanz einbinden und neue Stadträume schaffen

An dem Modell legt Sebastian Klatt, Geschäftsführer der Pwr Development, die wesentlichen Elemente der Rückbesinnung auf die historische Bebauung dar. Das «Tacheles» war immer Teil der Passage von der Friedrichstrasse zur Oranienburger Strasse. HdM haben nun diesen «Footprint», den Grundriss der einstigen Einkaufspassage, wieder aufgenommen und ein Büro und Geschäftszentrum geplant, das die alte Substanz einbindet. Der Altbau erhält damit seine Eingangsfunktion zurück.

Daneben werden zwei neue Stadträume geschaffen: Der Aaron-Bernstein-Platz, welcher sich von der Oranienburger Stras-se in das neue Quartier hineinzieht, so-wie der deutlich kleinere Johannis-Platz, welcher dereinst das südliche Quartier-Entrée bilden wird. Während entlang künftiger Wege Bürogebäude angeordnet sind, wurden die Wohngebäude um die bei-den Plätze gruppiert. Obwohl es sich um ein Privatgrundstück handelt, sind alle Plätze über Durchgänge miteinander verbunden, die als Passage öffentlich zugänglich sind. Denn das Areal soll keine «Gated Community» sein.

Bernsteinplatz

Quelle: Robert Mehl

Von der Oranienburger Strasse zieht sich der künftige Aaron-Bernstein-Platz weit hinein in das Quartier.

Die neue Passage ist nicht als Shopping Mall konzipiert, sondern als öffentlicher Weg gedacht zwischen Friedrichstrasse und Oranienburger Strasse, gesäumt von zahlreichen Einzelhandelsgeschäften. Zu den beiden stark befahrenen Hauptstrassen sind die Bauten aus Schallschutzgründen etwas höher angelegt als die Nachbarbebauung. Sie treppen sich jedoch innerhalb des Quartiers zur erheblich ruhigeren Johannisstrasse merklich ab und bleiben dort sogar unter der zulässigen Bauhöhe des Bebauungsplans.

Die Bauten werden in klassischer Weise errichtet. Bei den Gewerbebauten und den meisten Wohnhäusern handelt es sich um Stahlbetonskelettkonstruktionen, aus akustischen Gründen bestehen die Wohnungstrennwände jedoch aus Kalksandstein. Der eigentliche Innenausbau ist ein klassischer Trockenbau.

Brandlhuber Architekten ebenfalls mit von der Partie

Neben dem Masterplan verantworten HdM auch grösstenteils die Realisierung der Einzelgebäude. Zwei Wohnhäuser werden von Brandlhuber Architekten in Kooperation mit Muc Petzet realisiert. Die Pläne für ein Bürohaus und zwei weitere Wohnbauten an der Oranienburger Strasse wiederum stammen aus der Feder von Grüntuch-Ernst Architekten. Durch die Einbindung zusätzlicher Planungsbüros wollte man die architektonische Vielfalt stärken.

Die architektonische Oberaufsicht liegt bei HdM, was gleichzeitig eine formale Klammer schaffen soll und das Quartier als Einheit ausweist. Für den Betrachter manifestiert sich die Einheitlichkeit augenfällig beim Sichtmauerwerk, das HdM weitgehend als Fassadenmaterial festgelegt hat. Bei der Planung der Aussenanlagen, der Leitsysteme und für die Beleuchtung wurden HdM von diversen Fachplanern unterstützt, wie dem Liechtensteiner Landschaftsplaner G. Vogt oder dem Innsbrucker Lichtplaner Bartenbach.

Insgesamt werden 300 Wohnungen in verschiedenen Grundrissgrössen gebaut. Im Bau von Brandlhuber und Petzet werden vor allem Mikroappartements mit einer Grösse ab 26 Quadratmetern entstehen. In dem von HdM entworfenen Wohngebäude «Oro» stehen dagegen bis zu 300 Quadratmeter grosse Einheiten zur Verfügung. Aktuell stehen die Preise der Mikroappartements noch nicht fest, sehr wahrscheinlich werden sie als Gesamtpaket verkauft und dann vermietet. Für die restlichen Immobilien nennt Klatt einen durchschnittlichen Quadratmeterpreis von 15 000 Euro pro Quadratmeter.

Einkaufspassage

Quelle: Robert Mehl

Ursprünglich waren im Quartier viele Detaillisten tätig wie künftig auch in der Einkaufsmeile.

Schlüsselfertiger Ausbau

Im Gegensatz zum angelsächsischen Raum oder zu fernöstlichen Ländern ist es in Deutschland nicht üblich, Wohnungen in einem veredelten Rohbauzustand zu verkaufen und den Ausbau dem Käufer zu überlassen. Stattdessen werden wie bei einem Neuwagen dem Käufer Konfigura-tionsmöglichkeiten angeboten, um sich daraus die Wohnungsausstattung individuell zusammenzustellen. Alle Wohnungen weisen Holzfussböden auf, gewählt werden kann die Baumart sowie zwischen Dielen und Parkett. In den Bädern können Fliesenformate bestimmt und Armaturen aus zwei Serien gewählt werden. Natürlich würde auch alles andere auf Kundenwunsch eingebaut, was aber eine Sonderausstattung ist.

Alle Decken weisen ein integriertes Heizungs- und Kühlsystem auf, das von einer Fussbodenheizung unterstützt wird. Es handelt sich nicht um eine Klimaanlage als solche, da dies nur eine Temperatursenkung von sieben bis acht Grad Celcius bewirkt. Grundsätzlich können die Fenster aller Wohnungen geöffnet werden. Da jedoch der Verkehrslärm gerade an den beiden Hauptstrassen nicht zu vernachläs-sigen ist, besitzen alle Einheiten darüber hinaus mechanische Lüftungen.

Diese ergänzen das Deckenheizungssystem und kühlen beziehungsweise wärmen die Zuluft geringfügig vor. Natürlich sind diese Lüftungsanlagen mit Pollenfiltern ausgestattet, deren Wartung jedoch nicht dem einzelnen Bewohner überlassen ist, sondern von zentraler Stelle erfolgt. Obwohl es sich um einen verdichteten Cluster aus Gewerbeflächen und Eigentumswohnungen handelt, existiert weiterhin ein zentrales Facility-Management, das die Grundanforderungen aller Wohnungen sicherstellt.

Medizinisch betreutes Pilotprojekt

Allergiefreundlich gebaut werden «Am Tacheles» nicht nur einzelne Gebäudeteile, sondern das gesamte Quartier. Untersucht und entsprechend zertifiziert werden neben den Baumaterialien der Häuser und deren Haustechnik sowie die Bepflanzungen der Aussenräume.

Entwickelt wurde dies von der Allergy Friendly Buildings Alliance (AFBA), die durch die Nachhaltigkeits-Berater von Buro Happold unterstützt wird. Dahinter steht die Europäische Stiftung für Allergieforschung (ECARF), die vom Arzt Torsten Zuberbier gegründet wurde. Der leitende Allergologe des benachbarten Berliner Charité-Krankenhauses betreut aus medizinischer Sicht dieses Pilotprojekt. Die Aufgabe der AFBA besteht darin, die medizinischen Erkenntnisse nun auf Baustoffe und auf das Facility Management zu übertragen.

Vor einigen Jahren hatte die ECARF damit begonnen, Neuwagen von Mercedes Benz auf Allergiefreundlichkeit zu untersuchen und zu zertifizieren. Dieses wurde dann im Folgenden auch auf Kleinstädte übertragen. Bad Hindelang im Allgäu war einer der ersten Kurorte, der dieses Prä-dikat erhielt. Darüber hinaus zertifiziert die ECARF seit einigen Jahren Hotels, primär fokussiert auf ein auf Allergiker ausgerichtetes Speiseangebot und eine Vorsorge vor Tierhaarallergien.

Friedrichstrasse

Quelle: Robert Mehl

Der Zugang von der Friedrichstrasse ist zwar zeitgemäss, aber nicht ansatzweise historisierend.

Zertfikat für erstes städtebauliches Grossprojekt

Obwohl mittlerweile zahlreiche Einzelbauten durch die Stiftung zertifiziert wurden, stellt das «Tacheles»-Quartier nunmehr das erste städtebauliche Grossprojekt dar, das einer solchen Konformitätsbewertung unterzogen wird. Sebastian Klatt kann noch nicht beurteilen, ob die zertifizierte Allergikerfreundlichkeit die Nachfrage steigert, zumal das «Tacheles» das Vor-zertifikat erst im April 2021 erhalten hat. Grundsätzlich stellt er aber eine positive Resonanz darauf fest.

Das international operierende Team von Buro Happpold ist beim «Tacheles»-Projekt in doppelter Funktion tätig: Einmal betreute es als Ingenieurbüro die Statik für Teile des Quartiers und fungierte zudem als Berater der AFBA bei Anlage und Konzeption des Zertifizierungssystems. Das Büro half, die medizinischen Kriterien und Vorgaben der Ecarf in adäquate Baustellenpraxis umzusetzen. Von entscheidender Bedeutung war dabei der Einsatz von Thomas Kraubitz, einem Direktor des Buro Happold. Seinerzeit war er an der Ent-wicklung des DGNB-Zertifizierungssystems massgeblich beteiligt und gab der AFBA wertvolle Hinweise bei der Entwicklung ihres allergikerfreundlichen Zertifizierungssystems.

Nur allergiefreundlich machbar

Angela Balatoni, Geschäftsführerin der AFBA, verwendet bewusst nicht das Attribut «allergiefrei» und beschränkt sich auf «allergiefreundlich». Denn es könne sich niemand anmassen, wirklich allergiefrei so zu bauen. Ihre Arbeit umschreibt sie als die letzten Millimeter eines Bauprozesses und spielt damit auf denkbare Kontaktallergien an. Allerdings untersucht die AFBA auch durch Atemwege ausgelöste Allergien. 

Letztlich dünsten alle Baumaterialien in der einen oder anderen Form aus, was aber nicht schlimm sein muss. Oft ist ein Material nach seiner Aushärtung neutral. Das gilt für die meisten mineralischen Baustoffe wie Beton. Bei Holz besteht hingegen die Gefahr einer allergischen Reaktion auf bestimmte Lacke, Öle und Lasuren. Entscheidend ist die Qualitätssicherung, was sowohl für die Ausschreibung als auch die Ausführung gilt. Vor diesem Hintergrund kann auch das Arbeiten im «Tacheles»-Quartier durchaus als «allergiefreundlich» bezeichnet werden.

Modell

Quelle: Robert Mehl

Die illuminierten Teile des Modells zeigen das künftige «Tacheles»-Quartier. Eine Zweigstelle richtet das Stockholmer Fotografiemusuem Fotografiska ein.

Allergiefreundlichkeit steht an erster Stelle

Obwohl das «Tacheles»-Quartier parallel zu dem Zertifikat für Allergiefreundlichkeit auch eine LEED-Zertifizierung in Platin für seine nachhaltige Realisierung anstrebt, wird mehr Wert auf medizinische Aspekte gelegt als auf Ökologie. LEED steht für Leadership in Energy and Environmental Design. Die Allergikerfreundlichkeit versteht sich als Ergänzung zum Streben nach Nachhaltigkeit. Es hat sich gezeigt, dass ein Grossteil der handelsüblichen Baustoffe unverdächtig und auch unkritisch ist. So kamen bei Dämmstoffen etwa herkömmliche Mineralwollprodukte zur Anwendung. 

Ökologisch hergestellte Naturprodukte oder eine teure Vakuumdämmung wurden nicht in Betracht gezogen. Die Fertigstellung des Quartiers wird für 2023 angestrebt, aktuell arbeitet die AFBA an einer Implementierung der Allergiefreundlichkeit in den Ausschreibungen. Da die AFBA erst im Nachhinein beigezogen wurde, musste das Thema nachträglich noch in den Rohbaukatalog eingearbeitet werden. Der bereits beauftragte Generalunternehmer, der Essener Konzern Hochtief, zeigte sich dafür aber sehr aufgeschlossen und will das Thema künftig bei seinen Projekten verfolgen. Mit dem Ausbau wurde die mittelständische Hagenauer GmbH aus Immenstadt beauftragt, für sie wird Allergikerfreundlichkeit ein zentrales Thema ihrer Arbeiten.

Birken unerwünscht wegen Heuschnupfen

Tatsächlich konnte die AFBA bei den Planungen schon einmal Schlimmeres verhindern: So war ursprünglich auf dem Grundstück ein Birkenhain vorgesehen. Die Blüte des Baums gilt als Synonym für Heuschnupfen. Birken produzieren viel feinen Blütenstaub, weil die Bestäubung über den Wind erfolgt. Eine Anpflanzung der Birken im Quartier ist jedoch inzwischen nicht mehr vorgesehen. Sie werden durch den allergikerfreundlichen Feldahorn ersetzt, dessen Blüten überwiegend von Insekten bestäubt werden.

Pionierarbeit leisten und für Lebensqualität sensibilisieren

Klatt und Balatoni beurteilen ihr allergikerfreundliches Engagement als Pionierarbeit, bei der sie aktuell nicht bewerten können, ob sich dieses finanziell auszahlt. Sie denken, dass man die künftigen Nutzer dafür sensibilisieren und ihnen erklären muss, was für eine zusätzliche Lebensqualität diese für sich selber schaffen. Balatoni weist darauf hin, dass aktuell lediglich zehn Prozent der Allergiker richtig be-handelt werden. Denn viele wissen oft nicht, wie sie mit ihrer Krankheit umgehen müssen, und dass auch die Wohnung Einfluss auf das Wohlbefinden haben kann.

Mit Allergien verbindet man immer noch eher Blütenpollen als Bauprodukte. Üblicherweise wählt man den Teppich oder die Wandfarbe nicht aufgrund der Allergikerfreundlichkeit aus. Insofern will man hier auch Aufklärungsarbeit leisten. Allergien sind durchaus ein Thema von allgemeinem Interesse, da traurigerweise mittlerweile etwa 40 Prozent der Bevölkerung darunter leiden.

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Freier Mitarbeiter für das Baublatt.

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