Forschungsteam entwickelt nachhaltigen Holzpavillon nach Seeigel-Vorbild
Ein Forscherteam der Universitäten Stuttgart und Freiburg hat einen neuartigen Holzpavillon errichtet, der energieneutral betrieben werden soll. Der Clou: In einem Oberlicht sind Elemente installiert, die ohne externe Energie ihre Form verändern und so selbsttätig den Lichteinfall steuern.
Quelle: ©ICD/ITKE/IntCDC University of Stuttgart (Photo: Conné van d’Grachten)
Der neue Pavillon mit Namen «livMatS Biomimetic Shell», der ein Leuchtturm für nachhaltiges Bauen werden soll.
Seit sieben Jahren steht das «NEST» auf dem Campus der
Empa in Dübendorf, entwickelt in Zusammenarbeit mit der benachbarten Eawag. Das
Forschungs- und Innovationsgebäude ermöglicht es Forschenden im Baubereich,
neue Materialien, Technologien, Produkte und Nutzungskonzepte zu testen, ohne
Risiko und zugleich unter realen Wohn- und Arbeitsbedingungen. Das Gebäude
besteht dabei aus einem Rückgrat, wohinein einzelne Forschungsmodule gesetzt
und temporär getestet werden können.
Was
in Dübendorf das Nest, ist in Freiburg seit diesem Sommer das «livMatS
Biomimetic Shell», ein zukunftsweisender Holzbau, der als «architektonischer
Inkubator für das Entwickeln innovativer, disziplinübergreifender
Forschungsideen» dienen soll, so der Pressetext. Daneben ist auch das Gebäude
selbst ein Forschungsprojekt, und wie in Dübendorf ein Teamwork mehrerer
Institutionen: Die Universitäten Stuttgart und Freiburg haben den Bau
entwickelt, um damit «einen integrativen Ansatz des Planens und Bauens für eine
zukunftsfähige Architektur».
10 Jahre am Seeigel geforscht
Das neue Gebäude wurde in Holz-Leichtbauweise und basierend auf biologischen Konstruktionsprinzipien errichtet, wobei man sich von der Schale des Seeigels inspirieren liess. Die morpohologischen Prinzipien dessen Plattenskeletts wurden über zehn Jahre lang erforscht, denn das Seeigel-Skelett ist besonders leicht und stabil, da es aus vielen, einzeln angeordneten Platten besteht.
Zugleich geht die Natur hier sehr sparsam mit dem «Baumaterial» um – eine Eigenschaft, die sich im Laufe der Evolution als entscheidender Vorteil erwiesen hat. Die dem Seeigel abgeschaute Konstruktionsweise reduziert den ökologischen Fussabdruck des Holzpavillons um rund 50 Prozent gegenüber herkömmlichen Bauten. So ist die beim livMatS ausgeführte Holzsegment-Schalenkonstruktion vollständig rückbau- und wiederverwertbar. Ebenfalls wichtig für die Ökobilanz sind computerbasierte Planungsmethoden, robotische Vorfertigung und automatisierte Bauprozesse.
Quelle: ©ICD/ITKE/IntCDC University of Stuttgart (Photo: Conné van d’Grachten)
Das Innenleben des Pavillons: Dieser ist eine Erweiterung des Freiburger Zentrum für interaktive Werkstoffe und bioinspirierte Technologien der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg.
Die Segmentschalen-Bauweise des Seeigels wurde zu einer hochdämmenden Struktur weiterentwickelt, genauer zu einem Holzbausystem, das eine Grundfläche von 200 Quadratmetern überspannt und aus 127 individuellen Hohlkassetten besteht. Diese wiederum wurden über Kreuzverschraubungen zusammengefügt und ergeben zusammen die markante Schalenform, die aus einer gezielten Verzweigung zweier unterschiedlicher Teilschalen besteht.
Zusammen bilden sie ein formaktives Flächentragwerk. Daneben wurden manuelle Teilmontageschritte von Sonderbauteilen wie Leuchtmitteln und Akustikelementen mithilfe von Augmented Reality integriert. «Diese Form der Mensch-Maschine-Interaktion im Fabrikationsprozess ermöglicht eine effektive, digital-handwerkliche Herstellung komplexer Bauteile mit einem hohen Mass an Präzision», sagt Professor Achim Menges vom Institut für Computerbasiertes Entwerfen und Baufertigung.
Bauteile vom Roboter gefertigt
Schon bei der Vorfertigung der Hohlkassetten beschritten die Forschenden neue Wege: Die Elemente bestehen je aus einer äusseren und inneren Lage Dreischichtplatten, eingerahmt von Randbalken aus Brettschichtholz. Dazwischen befindet sich eine Dämmschicht aus Holzweichfaser-Dämmung. Die ganze Konstruktion ist an die aufzunehmenden Lasten angepasst und geometrisch ausdifferenziert. Das führt zu grossem Aufwand sowohl in der Planung wie in der Ausführung und wäre mit normalen Methoden nicht mehr wirtschaftlich. Doch die Kassetten für die «Biomimetic Shell» wurden mittels integrativer computerbasierter Planung berechnet, von Robotern gefertigt und über ein spezielles System automatisiert montiert. So konnte der Ressourcenverbrauch trotz hoher Komplexität der Elemente massiv reduziert werden.
Quelle: ©ICD/ITKE/IntCDC University of Stuttgart (Photo: Conné van d’Grachten)
Das Solar Gate genannte Oberlicht, einer der Schlüssel für die komplett energiefreie Klimatisierung des Forschungsgebäudes.
«Der Pavillon zeigt, wie eine lastangepasste und materialeffiziente Konstruktion auch unter den heutigen Bedingungen wirtschaftlich hergestellt werden kann. Der Schlüssel dazu ist die konsequente Digitalisierung von Planung und Fertigung», sagt Professor Jan Knippers vom Institut für Tragkonstruktionen und Konstruktives Entwerfen (ITKE) gegenüber den Fachmedien. Knippers ist stellvertretender Sprecher des Exzellenzclusters IntCDC der Universität Stuttgart (siehe Box Projektbeteiligte).
Innovatives Oberlicht
Der Clou des Gebäudes ist ein Oberlicht, «Solar Gate» genannt, das sich zwischen den beiden Schalenteilen befindet und das Klimas im Innenraum reguliert. Es besitzt eine biomimetische, also der Natur nachempfundene und 4D-gedruckte Verschattungsstruktur, die den Bau im Sommer vor Hitze abschirmt, im Winter aber solare Wärmegewinne erlaubt – ganz ohne den Einsatz von Betriebsenergie.
Denn die speziell entwickelten Verschattungselemente, von denen 424 Stück installiert sind, bestehen aus biobasierten Materialien und reagieren von selbst auf Schwankungen der Luftfeuchtigkeit, indem sie ihre Form verändern: Im Sommer erhöhen sie so den Solareintrag, und im Winter reduzieren sie den Wärmeverlust markant. Für diese Innovation haben sich die Forscher wieder in der Natur bedient, diesmal bei Kiefernzapfen, die sich ja nach Feuchtigkeit öffnen oder schliessen von Kiefernzapfen. «In Zeiten des Klimawandels und der dadurch verursachten zunehmenden Hitzebelastung werden effiziente und wartungsarme Verschattungssysteme wie das Solar Gate immer wichtiger», so Professor Thomas Speck, Direktor des Botanischen Gartens der Uni Freiburg.
Quelle: ©ICD/ITKE/IntCDC University of Stuttgart (Photo: Conné van d’Grachten)
Total 424 dieser Verschattungselemente sind im Oberlicht angebracht. Hier befinden sie sich im leicht geöffneten Zustand und lassen Sonnenlicht ins Innere.
Quelle: ©ICD/ITKE/IntCDC University of Stuttgart
Licht und Schatten, je nach Bedarf: Die Verschattungselemente öffnen und schliessen sich je nach Witterung.
Damit dieses Solar Gate optimal arbeiten kann, wurden der Standort und die Ausrichtung des Gebäudes entsprechend ausgewählt: Das nach Süden ausgerichtete Oberlicht kann die solaren Einträge optimal nutzen, und im Winter werfen die umliegenden Gebäude wenig bis gar keinen Schatten auf den Holzpavillon. Dazu verfügt der Bau über eine hochgedämmten Hülle aus Holzweichfaser und eine thermisch aktivierte Bodenplatte aus Recycling-Beton, die mit tiefen Vorlauftemperaturen aus lokaler Geothermie arbeitet. All diese Massnahmen zusammen sorgen im Gebäude ganzjährig für angenehme Temperaturen, ohne irgendeine Gebäudetechnik.
Von Spinnenkränen zusammengesetzt
Montiert wurde der Bau mittels zwei automatisierbaren Spinnenkränen: Sie nahmen jeweils per Vakuumgreifer ein Bauteile auf und platzierten es an ihre Einbauposition, bis das Teil ebenfalls automatisch verschraubt wurde. Die nötige Präzision bei diesem Vorgang wurde durch ein Echtzeit-Tachymeter Netz sichergestellt.
Der innovative Holzbau wurde diesen Sommer eingeweiht, mit der «Vision, das Gebäude energieneutral zu betreiben», so Jürgen Ruhe. «Deshalb werden wir an dem Bau dazu forschen, wie wir Energie aus der Umgebung gewinnen können.» Dies geschieht im 200 Quadratmeter grossen Ideenlabor. Insgesamt soll der Pavillon nach der Vorstellung seiner Erbauer belegen, welches Potenzial in der interdisziplinären, bioinspirierten Forschung für eine nachhaltige Architektur liegt.
Zum Projekt
Das Holzgebäude auf dem Campus der Uni Freiburg ist eine Zusammenarbeiten zweier Projektpartner: der beiden Exzellenzcluster «Integrative Computational Design and Construction for Architecture» (IntCDC) der Universität Stuttgart und «Living, Adaptive and Energy-autonomous Materials Systems» (livMatS) der Universität Freiburg. Dazu kommen eine Reihe von Forschungspartnern beider Universitäten, weiteren Fachplanern sowie dem Team der ausführenden Unternehmen (eine vollständige Liste in der Box am Ende der Bilderstrecke).
Quelle: ©ICD/ITKE/IntCDC University of Stuttgart
Der Aufbau der Fensterelemente des Solar Gate: Die speziellen Verschattungselement wurden zwischen zwei Glasscheiben montiert.
Quelle: ©ICD/ITKE/IntCDC University of Stuttgart
Der Aufbau der Holzelemente, die aus zwei Schichten dreilagigen Holzes bestehen, mit einer Dämmung aus Holzweichfaser dazwischen.
Quelle: ©ICD/ITKE/IntCDC University of Stuttgart
Ein Roboter fertigt ein Bauteil für eine der Kassetten der «Biomimetic Shell», die mittels integrativer computerbasierter Planung berechnet wurden.
Quelle: ©ICD/ITKE/IntCDC University of Stuttgart
Fast schon futuristisch mutet die schematische Zeichnung der beiden automatisierten Spinnenkräne an, welche die Holzelemente zur fertigen Struktur zusammenbauten.
Quelle: ©ICD/ITKE/IntCDC University of Stuttgart
Die beiden automatisierbaren Spinnenkräne in Aktion: Per Vakuumgreifer greifen sie ein Bauteile und platzierten es punktgenau an ihre Einbauposition.
Quelle: ©ICD/ITKE/IntCDC University of Stuttgart (Photo: Roland Halbe)
Die hoch aufragende Schale des Pavillons im Grössenvergleich: ein grosszügiger und fliessend in den umliegenden Campus übergehende Raum.
Projektbeteiligte
PROJEKTPARTNER
Exzellenzcluster IntCDC - Integratives Computerbasiertes Planen und Bauen für die Architektur, Universität Stuttgart
ICD Institut für Computerbasiertes Entwerfen und Baufertigung
Prof. Achim Menges, Felix Amtsberg, Monika Göbel, Hans Jakob Wagner, Laura Kiesewetter, Nils Opgenorth, Christoph Schlopschnat, Tim Stark, Simon Treml, Xiliu Yang (Biomimetic Shell); Dylan Wood, Tiffany Cheng, Ekin Sila Sahin, Yasaman Tahouni (Solar Gate)
ITKE Institut für Tragkonstruktionen und konstruktives Entwerfen
Prof. Dr. Jan Knippers, Simon Bechert
Exzellenzcluster LivMatS - Living, Adaptive and Energy-autonomous Materials Systems, Albert-Ludwigs-Universitat Freiburg
Prof. Dr. Jürgen Ruhe, Prof. Dr. Thomas Speck, Prof. Dr. Anna Fischer
Müllerblaustein Bauwerke GmbH, Blaustein
Jochen Friedel, Johannes Groner, Daniel Gold
FORSCHUNGSPARTNER
Exzellenzcluster IntCDC - Integratives Computerbasiertes Planen und Bauen für die Architektur, Universität Stuttgart
ISYS Institut für Systemdynamik
Prof. Dr. Oliver Sawodny, Andreas Gienger, Anja Lauer, Sergej Klassen
IIGS Institut für Ingenieurgeodäsie
Prof. Dr. Volker Schwieger, Sahar Abolhasani, Laura Balangé
ICD Computing in Architecture, Institut für Computerbasiertes Entwerfen und Baufertigung
Prof. Dr. Thomas Wortmann, Lior Skoury, Max Zorn
IABP Institut für Akustik und Bauphysik
Prof. Dr. Philip Leistner, Roberta di Bari, Rafael Horn
IntCDC Large Scale Construction Laboratory
Dennis Bartl, Sebastian Esser, Sven Hänzka, Hendrik Köhler
WEITERE FACHPLANUNG
erdrich wodtke Planungsgesellschaft mbh
Christian Erdrich
Transsolar Energietechnik GmbH
Prof. Dr. Thomas Auer, Christian Frenzel
Bauphysik 5
Joachim Seyfried
BEC GmbH
Matthias Buck
Belzner Holmes Light-Design, Stuttgart
Thomas Hollubarsch
GENEHMIGUNGSVERFAHREN
MPA Universität Stuttgart
Dr. Simon Aicher
WEITERE AUSFÜHRUNG
Geoconsult Ruppenthal
Vermessungsbüro Nutto
IB Becherer
Klitzke ELT-Plan
Prof. Dr.-Ing. Heinrich Bechert + Partner
FW Glashaus Metallbau GmbH & Co. KG
Moser GmbH & Co. KG
Lösch GmbH & Co. KG Blitzschutz
Parkett Studio Ganter GmbH & Co. KG
Elektro Mutter GmbH
Rees Sanitär und Heizung
Jakober GmbH
Kiefer & Sohn GmbH
Dirk Pesec
PROJEKTUNTERSTÜTZUNG
DFG German Research Foundation
Carlisle Construction Materials GmbH
HECO-Schrauben GmbH & Co. KG
Henkel AG & Co. KGaA
Puren GmbH
Raimund-Beck KG