Einsturzgefährdete Kaimauern: Der Kampf gegen den Zerfall an Amsterdams Grachten
Kanäle und Kais prägen in den Niederlanden viele
Stadtbilder. Die Technische Universität Delft hat im Rahmen eines
Forschungsprojektes den Zustand jahrhundertealter Kaimauern untersucht. Dabei
taten die Forscher genau das, was die lokalen Behörden vehement zu verhindern
versuchen.
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Die Flusskanäle Amsterdams, die sogenannten Grachten, sind weltbekannt. Das Mauerwerk vieler Kanäle ist mittlerweile aber marode und einsturzgefährdet.
Amsterdam steht bekanntlich auf wackeligem Boden. Die niederländische Hauptstadt wurde im Mittelalter auf sumpfigen Gebiet erbaut, welches durch mehrere Flüsse durchschnitten war. Aufgrund des feuchten und sandigen Untergrunds sind die Häuser in der Stadt früher auf Holzpfählen errichtet worden. Auf rund fünf Millionen solcher Pfähle soll die Stadt stehen. Weil diese im Laufe der Jahrhunderte zu modern begannen, machen die historischen Stadtteile heute einen leicht schiefen Eindruck.
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Weil die Holzpfähle, auf denen Amsterdam erbaut wurde, im Laufe der Zeit zu modern begannen, machen die historischen Stadtteile einen leicht schiefen Eindruck.
Doch nicht nur über dem, sondern auch am Wasser wurde viel Holz verbaut – beispielsweise in den Kaimauern, die die Grundlage für die vielen Flusskanäle bilden. Amsterdam hat entlang seiner zahlreichen Grachten eine insgesamt rund 200 Kilometer lange Kaianlage, die ebenfalls auf Holzpfählen erbaut worden ist. Aufgrund des hohen Alters fehlt oftmals eine ordentliche Dokumentation dieser Anlagen. Schätzungsweise sollen sie aber über 300 Jahre alt sein. Dies führt dazu, dass das Mauerwerk vieler Kanäle mittlerweile marode ist.
Ein Problem, dass die Amsterdamer Stadtregierung jedoch erst vor einigen Jahren erkannt hat. 2019 plante die Stadt 300 Millionen Euro in die Reparatur von Kanalmauern und Brücken zu investieren. Nachdem mehrere Mauern eingefallen waren, gab Stadträtin Sharon Dijksma zudem einen unabhängigen Bericht über den Zustand der mehr als 1700 Brücken und des Mauerwerks der 200 kilometerlangen Grachten in Auftrag.
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Ein alter, einsturzgefährdeter Backsteinkai in Amsterdam. Zur vorübergehenden Verstärkung der Kaimauer wurden Eisenspundwände aufgestellt.
«Wir wussten bereits, dass es ernsthafte Versäumnisse gab, aber die neusten Forschungsergebnisse sind enttäuschend», sagte die Stadträtin damals gegenüber der Tageszeitung «Het Parool». Nach der Untersuchung der ersten achtzig Abschnitte zeigte sich nämlich, dass alle erneuert werden müssen. Priorität haben Dijksma zufolge vor allem jene, die sich in der Nähe von alten Wasser- und Gasleitungen befinden. Durch den schlechten Zustand der Wände besteht zudem die erhöhte Gefahr einer Bodenabsenkung.
Mit viel Druck zum Einsturz
Das Beispiel Amsterdam zeigt das Problem vieler niederländischer Städte. Die Hauptstadt ist im Land wahrscheinlich die prominenteste, aber längst nicht die einzige Stadt, die über solche Kaianlagen verfügt. So zieren beispielsweise auch die historischen Städte Delft und Utrecht diverse Grachten und Kaimauern. Damit die Städte sicher bleiben, müssen die jahrhundertealten Kaimauern gut instand gehalten werden.
Doch welche dieser vielen Anlagen muss zuerst überprüft und saniert werden? Und welche Kaimauern bestehen den Test überhaupt noch? Um dies herauszufinden hat die Technische Universität Delft ein Experiment durchgeführt.
Auf dem Gelände der ehemaligen Zuidergasfabriek in Amsterdam sollte ein Forschungsteam herausfinden, wie viel Druck Kaimauern aushalten, bis sie sich ausbeulen oder einstürzen, wie die Technische Universität Delft in einer Mitteilung schreibt. Ziel des Experimentes war es somit, genau das zu tun, was die örtlichen Behörden eigentlich zu verhindern versuchen: Druck auf die Kaimauern auszuüben bis diese einstürzen.
Wo sich die Schwachstellen einer Anlage befinden oder wie lange eine Konstruktion ohne Eingriff noch halten wird, lässt sich jedoch nicht immer genau sagen. «Vor zwei Jahren stürzte die Kaimauer des Grimburgwals, der sich in Privatbesitz befindet, auf einer Länge von 30 Metern in den Kanal ein. Das führte zu einer potenziell gefährlichen Situation», lässt sich der zuständige Doktorand Mart-Jan Hemel in der Mitteilung zitieren. Die Amsterdamer Stadtverwaltung führe nun zwar ein laufendes Programm zur Verstärkung der Kaimauern und zur Sicherung potenzieller Schwachstellen durch, möchte jedoch auf der Grundlage genauerer Informationen Prioritäten für entsprechende Massnahmen setzen.
Mehr Daten werden benötigt
Um vorhersagen zu können, wie sich die Schäden an den Kaimauern im Laufe der Zeit entwickeln, benötige es daher mehr Daten, sagt Hemel. Anhand harter Zahlen lasse sich feststellen, ob eine Kaimauer reparaturbedürftig sei. «Senkungsrisiken sind nicht immer mit blossem Auge zu erkennen, aber gleichzeitig bedeuten Ausbeulungen oder Risse nicht immer, dass die Kaimauer kurz vor dem Einsturz steht.»
Das Experiment am alten Dock an der Amstel soll Hemel nun die Daten liefern, die Hemel braucht, um bessere Vorhersagen treffen zu können. Dafür hat der Bau- und Wasserbauingenieur ein Modell entwickelt, das einen Einblick in die Stabilität von Kaimauern geben soll. Es besteht aus mathematischen Gleichungen und physikalischen Formeln. Im Modell kann man Daten einfügen – etwa die Bodenart, die Anzahl der Holzstützen, auf denen die Mauer steht, oder den Druck, mit dem der Verkehr auf sie einwirkt – und damit berechnen, wie lange eine Kaimauer stabil bleiben wird.
Quelle: TU Delft
Auf dem Gelände der ehemaligen Zuidergasfabriek in Amsterdam will ein Forschungsteam herausfinden, wie viel Druck Kaimauern aushalten, bis sie sich ausbeulen oder einstürzen.
Das Modell soll nun während des Experiments getestet werden. «Denn bevor es in der Praxis eingesetzt werden kann, muss es kalibriert und validiert werden», sagt Hemel. Die Ergebnisse aus dem Experiment sollen zeigen, ob die theoretischen Annahmen mit der Praxis vereinbar sind. «Es kann sein, dass mein Modell eine Ausdehnung von fünf Zentimetern bei einem bestimmten Druck vorhersagt, die Wand sich in der Praxis aber um bis zu zehn Zentimeter ausdehnt. Wenn das der Fall ist, möchte ich wissen, was die Ursache für diesen Unterschied ist.»
Unterwasseraufnahmen sollen helfen
Rund zweieinhalb Jahre lang dauerten die Vorbereitungen für das Experiment (siehe Box). «Am Ende haben wir entschieden, die Kaikanten in vier Prüfstellen für Kaimauern und eine Prüfstelle für Pfähle zu unterteilen», lässt sich Hemel weiter zitieren. Um zu verhindern, dass der gesamte Kai während eines Testes zusammenbricht, wurde zwischen den einzelnen Abschnitten ein Abstand von einigen Metern eingeführt.
Vor Beginn des Belastungstestes mussten sich die Ingenieure zudem noch ein Bild davon machen, wie der Kai unter der Oberfläche aussieht. «Um etwas über den Zustand der Kaimauer sagen zu können, mussten wir genau wissen, wie viele Pfähle vorhanden sind, wie dick sie sind und in welcher Tiefe sie sich befinden», so Hemel. Dazu verwendeten Taucher Sonargeräte und machten damit Unterwasseraufnahmen.
Ergebnisse bleiben noch offen
Im Februar wurde dann der erste Container aufgestellt, mit einem Wassersack ausgestattet, welcher nach und nach mit Wasser gefüllt wurde, um die Belastung zu erhöhen. «In 30-Zentimeter-Schritten bis der Kai wieder stabilisiert ist», so Hemel. Über einen Überwachungsbildschirm werden die Bewegungen und Senkungen verfolgt. Die langsame Steigerung des Gewichts erfordert viel Geduld. «Je schwerer die Last ist, desto länger muss der Kai stabilisiert werden.»
Quelle: TU Delft
Im Februar begann das Experiment. Der erste Container wurde mit Wasser gefüllt.
Über die Ergebnisse des ersten Testes kann Hemel in der Mitteilung noch nicht viel sagen. Er sehe jedoch einige «interessante Abweichungen» zu den Vorhersagen seines Modells. «Aber es ist noch zu früh, um irgendwelche Schlüsse zu ziehen. Bis jetzt ist das Experiment so verlaufen, wie wir es uns gewünscht haben.» Nun werde man mit weiteren Testabschnitten fortfahren. Dabei soll der Kai an einigen Stellen weiter geschwächt oder die Belastung schneller erhöht werden. «Am besten wäre es, wenn wir eine Stelle erreichen können, an der der Kai zusammenbricht.»
Kombiniertes Forschungsprojekt
Quelle: Unsplash / Anant Chandra
Das Kaimauer-Experiment ist ein Projekt der Stadt Amsterdam
und des Amsterdamer Institut für Advanced Metropolitan Solutions (AMS). Das AMS
ist das kombinierte Forschungs- und Bildungszentrum der Technischen Universität
Delft, der Universität Wageningen und des Massachusetts Institute of Technology
(MIT) in Amsterdam. Es forscht zu grossstädtischen Themen wie Energiewende,
autonome Mobilität, klimasichere Städte und Kreislaufwirtschaft. Das
Kaimauer-Experiment begann 2019 und dauert insgesamt rund vier Jahre. Mart-Jan
Hemel wird die Ergebnisse des Belastungstests in seine Doktorarbeit einfliessen
lassen.