"Der Winter wird uns nicht stoppen"
Wie betreibt man im Gebirge trotz Schnee, Kälte und Lawinengefahr eine Baustelle? Wie transportiert man Tausende Tonnen Material in die Höhe? Die Verantwortlichen des Ausbauprojektes "Linthal 2015" meistern diese Aufgaben: mit lückenloser Überwachung, mit zahlreichen kontrollierten Lawinensprengungen und mit der stärksten Seilbahn, die je gebaut wurde.
Beim Muttsee ob Linthal, auf 2500 Metern über Meer, liegt auch in der zweiten Novemberwoche noch kein Schnee. Sehr zur Freude von Rolf W. Mathis, dem Leiter Hydroenergie bei der Axpo AG: "Letztes Jahr mussten wir hier oben schon Mitte Oktober die Arbeiten einstellen. Das holen wir nun wieder auf."
Der Muttsee erhält bis 2015 eine neue, ca. einen Kilometer lange und rund 35 Meter hohe Gewichts-Staumauer, die sein Speichervolumen fast verdreifacht. An dieser Mauer kann aber nur in der warmen Jahreszeit gebaut werden: Sobald der erste Schnee kommt, wird alles wintersicher gemacht, und im folgenden Jahr, so etwa ab Mitte Mai, gehts wieder weiter.
Im Rahmen des Ausbaus der Kraftwerke Linth-Limmern ist die Muttsee-Staumauer aber der einzige Bauplatz, der nur in der warmen Jahreszeit in Betrieb ist. Auf allen anderen Baustellen des Grossprojektes PSW Limmern (siehe "Info") wird an rund 320 Tagen in Jahr und rund um die Uhr gearbeitet.
Den Baubetrieb auch im alpinen Winter aufrecht zu erhalten, ist dabei eine Aufgabe, die gute Planung und Überwachung erfordert. Der überwiegende Teil der Arbeiten findet zwar unter Tag statt und ist somit von Wetterproblemen nicht betroffen. Es gibt aber mehrere Zufahrtswege und exponierte Orte, die wintersicher gemacht werden müssen. Am grössten ist die Lawinengefahr auf der Baustelle Ochsenstäfeli beim Limmernsee sowie im Limmerntobel. Hier hat man das Gelände durch geeignete Massnahmen wie Erdwälle oder Galerien gesichert.
Vier Lawinen-Fachleute im Einsatz
Für den Lawinenschutz sind vier Fachleute zuständig, zwei Axpo-eigene Spezialisten und zwei mandatierte Aussenstehende, welche die Situation laufend analysieren und wenn nötig Massnahmen ergreifen. "Wir verfolgen das Konzept, Lawinen möglichst früh künstlich auszulösen; dann ist die Schneemenge geringer und damit auch deren Energie und Rutschweite", erklärt Ruedi Stüssi, der Leiter Sicherheit und Koordination. Bei Schneehöhen von 20-30 Zentimeter würden die Lawinen bereits ausgelöst, unter anderem von drei fix installierten Sprengvorrichtungen aus oder per Helikopter. "Im relativ strengen ersten Projekt-Winter haben wir so rund 180 Lawinen losgesprengt." Als weitere Vorsichtsmassnahme trägt jeder Arbeiter ein Lawinenverschüttetensuchgerät, und vor Ort hat man mehrere Depots mit Rettungsmaterialien angelegt.
Insgesamt kann Rolf W. Mathis deshalb selbstbewusst resümieren: "Der Winter kann kommen; er wird uns nicht stoppen!" Es bräuchte schon ganz extreme Wetterlagen, um das Projekt zu verzögern. "Wenn es einen Jahrhundertwinter gibt, kriegen auch wir Probleme", gibt der 54-Jährige zu. "Aber gegen solche extremen Wetterereignisse kann man sich nicht wappnen."
Der "normale" Glarner Winter jedenfalls kann kommen. Auch für genügend Baumaterial wird gesorgt sein:. Die Seilbahnen arbeiten weitestgehend unabhängig vom Wetter und haben bereits grosse Mengen Material hochgetragen. Dazu ist Anfang November beim Ochsenstäfeli auf 1800 Metern ein eigenes Betonwerk in Betrieb gegangen, was die Baustelle noch unabhängiger macht. In acht Silos lagern die Zuschlagstoffe für den Beton, wobei auch das Material vom Tunnelvortrieb verwendet wird. Eine eigene Brechanlage zerkleinert die Felsbrocken in jede gewünschte Grösse.
Tausende LKW-Fahrten eingespart
"Der für die Betonherstellung nicht verwendbare Anteil des Ausbruchsmaterials kommt grösstenteils im Tal u.a. für Hochwasserverbauungen der Linth zum Einsatz", erklärt Mathis. "Insgesamt dürfen wir feststellen, dass kein Ausbruchmaterial aus dem Tal transportiert werden muss." Womit Tausende von LKW-Fahrten eingespart werden können.
Im Moment befindet sich Linthal 2015 in einer Übergangsphase: Das erste Jahr des Projektes war in erster Linie dem Aufbau und der Installation der Logistik gewidmet. "Jetzt läuft der Übergang von diesem Logistikaufbau zum vollen Leistungsvortrieb." So hat der Ausbruch der Maschinenkaverne und einiger Stollen begonnen. Für das Fundament der erwähnten Muttsee-Mauer wurden ebenfalls erste Vorarbeiten geleistet.
Die grosse Aufgabe der ersten Phase bestand vor allem darin, grosse Mengen an Material von der Talstation in Tierfehd, auf 810 Metern über Meer, zu den Baustellen hinauf zu befördern. Für diesen Job hat man die leistungsstärksten Seilbahnen beschafft, die es derzeit gibt. Mathis: "Mit der Logistik steht und fällt alles bei diesem Projekt. Wir haben uns deshalb bei der Seilbahn nicht für die günstigste, sondern für die beste Lösung entschieden." Zwei Schwerlastbahnen der Firma Garaventa, die jede pro Fahrt 25 Tonnen transportieren können, wurden auf der Grossbaustelle errichtet. Die untere Bahn kann sogar für Spezialtransporte von 40 Tonnen umgerüstet werden kann. "Da wirken enorme Kräfte auf die Tragseile. Zumal die Spannweite bis zum ersten Mast auch noch sehr lang ist." Die Tragseile der beiden Bahnen haben einen Durchmesser von 90 Millimetern und pro Anlage ein Gesamtgewicht von 400 Tonnen.
Die erste Bahn, von der Talstation Tierfehd zum Chalchtrittli, hat nach 18 Monaten Bauzeit ihren Betrieb vor knapp einem Jahr aufgenommen. Die obere Bahn, die von der Station Ochsenstäfeli hinauf zum Muttsee führt, ist seit diesem Sommer in Betrieb. Die beiden Herkules-Bahnen laufen bisher störungsfrei und können bereits mit einem beeindruckenden Arbeitsnachweis aufwarten: Die untere Bahn hat in neun Monaten 10000 Fahrten absolviert und 32000 Tonnen Material nach oben getragen. Die obere Bahn wurde etwas später fertig gestellt, hat aber in vier Monaten bereits 42’000 Tonnen Ladung transportiert, hauptsächlich Ausbruchmaterial.
Die beiden Seilbahnen, um die sich insgesamt rund 30 Mitarbeiter kümmern, können bei fast jedem Wetter betrieben werden, ausser bei Föhnstürmen mit zu hohen Windgeschwindigkeiten. "Solche Stürme dauern hier aber in der Regel nur ein paar wenige Stunden", versichert Rolf W. Mathis. "Sie halten uns deshalb nicht wirklich auf."
Das Projekt
Hinter Linthal, im hintersten Winkel des Glarner Grosstales, produzieren die Kraftwerke Linth-Limmern (KKL) seit 1964 Strom. Zwischen 2005 und 2009 wurden diese Anlagen durch das Pumpspeicherwerk Tierfehd erweitert. Mit dieser kann Wasser vom Ausgleichsbecken Tierfehd in den rund 1000 Meter höher gelegenen Limmernsee gepumpt und dann erneut zur Stromproduktion genutzt werden.
Seit 2009 werden die KKL um ein weiteres Pumpspeicherwerk erweitert. Die Realisierung dieses Projektes mit Namen "Linthal 2015" wird rund 2,1 Milliarden Franken kosten. Es wird die Leistung der Anlagen von heute rund 480 auf dann fast 1500 Megawattstunden erhöhen. 2015 soll die erste von vier neuen Turbinen ans Netz gehen. Bis 2018 schätzt man, den Rückbau und die Renaturierung abgeschlossen zu haben. Das Projekt "Linthal 2015" teilt sich in vier Teile.
1.) Muttsee. Der See erhält eine neue Gewichtsstaumauer von einem Kilometer Länge, was das Speichervolumen von 9 auf 25 Millionen Kubikmeter erhöht. Die natürliche Seehöhe (heute 2446 Meter über Meer) wird auf 2474 Meter erhöht.
2.) Pumpspeicherwerk Limmern. Am Fuss der heutigen Staumauer des Limmernsees, auf etwa 1700 Metern über Meer, wird 600 Meter im Berginnern eine neue Kavernenzentrale ausgebrochen, die dereinst vier Maschinengruppen aufnehmen wird. Zwei parallel geführte Druckleitungen werden den Muttsee mit dieser Zentrale und zwei weitere 500 Meter lange Unterwasserstollen die Zentrale mit dem Limmernsee verbinden, der auf ca. 1800 Metern liegt. Das neue Pumpspeicherwerk Limmern wird mit vier regulierbaren Pumpturbinen Strom erzeugen; und kann – wenn der Strombedarf tief ist – Wasser in den höher gelegenen Muttsee zurückpumpen.
3.) Tierfehd. Auf dem Talboden besteht bereits heute ein Ausgleichsbecken. Durch ein zweites Becken wird hier die Kapazität von 210000 auf 560000 Kubikmeter erhöht.
4.) Netzanschluss. Das Projekt Linthal 2015 sorgt für eine massive Leistungserhöhung der Kraftwerke. Hierfür muss ein Anschluss ans schweizerische Höchstspannungsnetz geschaffen werden. Im Moment existiert eine 220-Kilovolt-Freileitung bis in die Grynau bei Uznach, am oberen Ende des Zürichsees. Für den Ausbau wird eine neue 380kV-Leitung bis in den Raum Schwanden erstellt, wo sie ans bestehende Höchstspannungsnetz angeschlossen wird.