Denkmalschutz: Traditionelle Alpgebäude – neu gedacht
Alpgebäude prägen in besonderem Masse die Kulturlandschaft in den Schweizer Alpen und im Jura. Betriebliche und technische Modernisierungen brachten seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gewisse Arbeitserleichterungen, bringen tendenziell aber auch ähnliche Effekte mit sich wie in den Talbetrieben: wenig ertragreiche Parzellen werden aufgelassen, dafür andere Flächen intensiver bewirtschaftet – mit deutlichen Auswirkungen auf Gebäude und Landschaft.
Quelle: Benno Furrer
Die restaurierten Gebäude der Alp Tamangur Dadora (1777, 1810) mit Viehschermen unter Brettschindeldach, umgeben vom Naturwaldreservat Tamangur.
Von Dr. Benno Furrer *
Sömmerungsweiden, in der Regel oberhalb der Waldgrenze gelegene Alp-Weiden, werden seit der Bronzezeit, intensiver seit dem Spätmittelalter genutzt. In Abhängigkeit von Klima, Bevölkerungszahl und den möglichen Absatzmärkten haben sich seither sowohl die Nutzungsart als auch die Intensität wiederholt verändert. Milchkühe verdrängten beispielsweise Schafe und Ziegen, weil Hartkäse und Butter mehr Ertrag versprachen als Wolle, Leder oder Schafmilch.
Als im Verlaufe des 19. Jahrhunderts günstiges Importgetreide aus Europa oder Amerika das Korn aus Landwirtschaftsbetrieben im Schweizer Mittelland verdrängte, stellten die Bauern dort ebenfalls auf die einträglichere Milch- und Viehwirtschaft um. Ab etwa 1813 entstandenen Tal-Käsereien, welche die, qualitativ oft etwas mangelhaften Alpkäse konkurrenzierten. Seit den 1870er Jahren versuchen Bund und Kantone, die Alpwirtschaft durch Beratung (z. B. Rudolf Schatzmann) und mit finanzieller Unterstützung zu fördern. Kulturingenieure zeigen auf, wie durch organisatorische und bauliche Massnahmen die Effizienz und die Qualität der Alpwirtschaft verbessert werden kann.
Als herausragendes Beispiel sei hier Graubünden herausgegriffen. Kulturingenieur Oscar Good (1880 – 1950) und seine Mitarbeitenden im Meliorationsamt entwarfen Normbauten und Standardisierungen, die dazu beitragen sollten, die Bauten kostengünstiger und den Betrieb ertragreicher zu gestalten. Heute stehen beispielsweise im Engadin fast ausschliesslich charakteristische Normbauten auf den Hauptstäfeln, während die traditionellen Alpgebäude zerfallen oder umgenutzt werden. Einer dieser Bauten ist die Sennhütte mit Milch- und Käsekeller sowie grossen Melkschermen auf der Alp Tamangur Dadora (Gemeinde Scuol).
Phönix aus der Asche – Alp Tamangur Dadora mit Sennhütte
Tamangur Dadora liegt auf einer Hangverflachung am Fusse des Mot Falain auf 2127 m ü. M. Die Alp umfasst ein gemauertes Gebäude mit Sennereiraum, Milch- und Käsekeller sowie zwei angebaute, grosse Schermen, die sich auf geschosshohe Mauerflügel und auf Holzpfosten stützen. Der Befund einer dendrochronologischen Untersuchung ergab ein für Sennhütten in dieser Höhenlage sensationelles Alter. Gebaut wurde das Alpgebäude im Jahre 1777, die südlich und westlich daran anschliessenden, offenen Viehschermen kamen 1810 hinzu.[1] Ein südlich vorgelagerter Pferch mit den Massen von zirka 17,5 Meter auf 24,5 Meter ergänzt die Anlage.
Beide Giebelfelder der Sennhütte sowie die Dachpfetten sind grösstenteils mit Rundhölzern errichtet worden und trugen eine Dachhaut aus Brettern oder Brettschindeln. Dagegen erkennt man bei beiden Schermen eine für die Bauzeit von 1810 eher altertümliche Gerüstkonstruktion mit angeblatteten Streben. Die luftigen Bauten sind mit Brettern eingedeckt, die eine Länge von durchschnittlich 90 bis 100 cm aufweisen. Die noch vorhandene Rundkopfpflästerung und die Überreste eines hölzernen Viehstandes mit Futterkrippe entlang der nordwestlichen Schermenwand bezeugen die ehemalige Nutzung: Hier konnten die Sennen die Kühe melken, im Bedarfsfall füttern und die Tiere fanden hier auch Schutz.
Im Hang oberhalb der Gebäudeanlage weisen Spuren auf einen Kanal, in dem Wasser aus dem Val Bella hergeleitet und knapp oberhalb der Pferchanlage in zwei Äste aufgeteilt worden war. Der untere Kanal bediente eine Viehtränke, der obere lieferte Nutz- beziehungsweise Kühlwasser für Käserei und Milchkeller. Im Jahre 1901 war die Alp Tamangur Dadora mit 52 Stück Galtvieh (muaglia sütta) sowie 80 Kühen besetzt und man produzierte 910 Kilogramm Käse und 132 Kilogramm Ziger.[2]
Quelle: Benno Furrer
Zerfallende Gebäude der Alp Tamangur Dadora.
Quelle: Benno Furrer
Und die frisch restaurierten Bauten.
Tamangur als «Verliererin» einer Neuorganisation
Die meisten der ehemals zwölf genossenschaftlichen Alpen der Gemeinde Scuol liegen im Scarltal: Sesvenna, Tavrü, Praditschöl, Astras Dadaint, Astras Dadora, Tamangur Dadaint sowie Tamangur Dadora. Genutzt wurden diese sieben Alpen mit Vieh aus Scuol sowie mit wenig auswärtigem Sömmerungsvieh.[3] Die Bauern stellten Sennen und Hirten an und gaben diesen ihre Kühe für die drei bis vier Monate dauernde Sömmerungszeit in Obhut.
Die Zeit um 1900 brachte grosse Veränderungen im Alpwesen. Wie andernorts in Graubünden legte man auch in der Gemeinde Scuol in mehreren Schritten die Alpgenossenschaften zusammen und konzentrierte damit auch die Milchproduktion mit ihrer Verarbeitung. Um 1890 wurden die beiden benachbarten Alpen Astras Dadaint und Tamangur Dadaint zusammengeschlossen. 1896 fusionierten die beiden Genossenschaften Alp Praditschöl und Astras Dadora und die bisherig genutzten Alpgebäude gab man auf.
Neue Gebäude entstanden am heutigen Standort Praditschöl.[4] 1914 kam Tamangur Dadora zur Genossenschaft hinzu, was den folgenden, langsamen Zerfall der dortigen Alpgebäude mit sich brachte. Seit 1930 existieren nur noch zwei grosse Genossenschaften: Die Genossenschaft Alp Praditschöl-Astras-Tamangur und Alp Astras-Tamangur-Sesvenna.
Quelle: Benno Furrer
Restaurierte Viehschermen (1810d), vorgelagert ein Pferch. Dahinter schliesst die Sennhütte an (1777).
Traditionelle Alpgebäude neu genutzt
Von ehemaligen zwölf Alpwirtschaften sind seit 1930 nur noch die erwähnten Alpen Astras-Tamangur-Sesvenna und die Alp Praditschöl in Betrieb. Dies mit der Folge, dass die Gebäude der seither nicht mehr genutzten Alpen Tamangur auch keinen Bauunterhalt mehr erfahren hatten und langsam zerfielen. Als die Mauern einzustürzen begannen, initiierte Barbla Conrad-Roner die Sanierung des Gebäudes, die dank einer beherzten Gruppe initiativer Menschen aus dem Unterengadin und mit finanzieller Unterstützung der Stiftung Landschaftsschutz Schweiz, den gemeinnützigen Fonds des Kantons Graubünden, des Kantons Zürich, der Gemeinde Scuol und vielen weiteren Geldgebern realisiert werden konnte. Die Projektleitung lag bei Arch. ETH/SIA Mengia Mathis, S-chanf.
Das ehemalige Alpgebäude Tamangur-Dadora dient künftig als Witterungsschutz für Wanderinnen sowie Tourengänger. Möglichkeiten sind auch eine gewisse alpwirtschaftliche Nutzung, als Unterkunft für Gruppen, die in der Umgebung arbeiten oder als Bildungsstätte des Biosphärenreservats. Denn die Bauten stehen an einer landschaftlich interessanten, aber auch verletzlichen Stelle im God Tamangur. Dieses zählt seit 1996 zu den schweizerischen Moorlandschaften «von besonderer Schönheit und nationaler Bedeutung». Seit 2007 ist es ein Naturwaldreservat. Auf einer Fläche von 86 Hektaren kann sich die Natur frei entwickeln.[5]
* Benno Furrer ist ehemaliger Projektleiter
Schweizer Bauforschung. Der Artikel erschien zuvor in «Heimatschutz /
Patrimoine», Ausgabe 2/2024.
- [1] Archäologischer Dienst Graubünden. Monika Oberhänsli M. A. Scuol, S-charl, Dadora, Alp Tamangur. Dendrochronologischer Bericht vom 7. Juli 2018. Labor-Nr. 88945-88959.
- [2] Fögl d'Engadina Nr. 46, 1905.
- [3] Grimm, Paul. Scuol – Landschaft, Geschichte, Menschen, St. Moritz 2012, S.314-320; Giovanoli, Diego: Alpschermen und Maiensässe in Graubünden, Bern 2003, S. 180; Mathis, Mengia: Ausgewählte Alpbauten aus dem Engadin, dem Bergell und dem Misox. In: Archäologie und Denkmalpflege Graubünden, Jahrbuch 1999, S. 124 -126.
- [4] Roner, Mario: Las alps da Scuol in Val S-charl. In: Chalender ladin. Samedan 1973, S. 53.
- [5] Tamangur – wo die Seele den Frieden findet, Südostschweiz (suedostschweiz.ch), 26. Juli 2017