Buchtipp: Gebaute Architektur unter der Erdoberfläche
Menschen bauen seit Jahrhunderten unter und auf der Erdoberfläche. Auch aktuelle Beispiele namhafter Architekten zeigen, wie sich Bauten perfekt in Boden und Landschaft einpassen lassen, statt alle Aufmerksamkeit zu fordern und den Erdboden nur als Fundament zu nutzen. Ein Kompendium der «unterirdischen» Baugeschichte des Menschen.
Quelle: Iwan Baan Courtesy of TASCHEN
Beim Kailasa-Tempel im indischen Ellora handelt es sich um den weltweit grössten Felsentempel. Schätzungen zufolge mussten rund 200 000 Tonnen Gestein entfernt werden. Erbaut wurde der Shiva-Tempel zwischen 756 und 773 n. Chr.
Ein Backstein von einem Buch. Zweieinhalb Kilo schwer. Fast
1400 Seiten dick. Der Wälzer hat es in sich. Es ist der Versuch, die
Architekturgeschichte von der Antike bis in die Neuzeit als zunehmenden Irrweg
zu zeigen, der sich mehr und mehr von der Natur entfernt, sie beschädigt oder
gar vernichtet.
Autor Bjarne Mastenbroek stellt fest: «Die Menschheit
zerstört die Haut der Erde in einem bislang nie dagewesenen Ausmass. Die Zeit
ist reif für eine grundlegende Rückbesinnung.» Der niederländische Architekt
sagt weiter: «Architektur bewegt sich in eine Richtung, die sich mehr und mehr
von der Natur entfernt. Diese Entwicklung hat ihren Höhepunkt Mitte der
1960er-Jahre erreicht, als die klinischsten Gebäude überhaupt errichtet wurden,
die am weitesten von der Natur entfernt waren.»
Boden oft nur passives Fundament
Im Buch wird mit Fotos von seelen- und phantasielosen
Hochhausschluchten aus dem Jahr 1964 belegt, was er damit meint. Er zeigt an
extremen, aber leider an vielen Orten in ähnlicher Form zu findenden Beispielen,
was er mit der Feststellung meint: «Der Boden wird zu oft nur als passives
Fundament genutzt.»
Nach dieser Abrechnung mit der zeitgenössischen Architektur
am Anfang des Buches zeigen Mastenbroek und der renommierte Architekturfotograf
Iwan Baan, dass eine ortsspezifischere und nachhaltigere Architektur möglich
ist und sich vielfach zum Teil seit Jahrhunderten bewährt.
Baan sagt: «Ich hoffe, dass sich die Leute auch dank des
reichhaltigen Bildmaterials, das wir im Buch anbieten, wieder darauf besinnen,
wie sie mehr mit weniger machen können. Und das zudem mit weniger Auswirkung
auf den Standort des Gebäudes.» Schon der Titel des Buches «Dig It!» spielt mit
diesem Thema. Er bedeutet wörtlich zwar «Vergrab es!», im übertragenen Sinn
aber auch «Kapier es endlich!».
Suche nach erdverbundener Architektur
Die Autoren haben zehn Jahre Recherche in den beachtlichen
Band investiert. Weltweit haben sie nach buchstäblich erdverbundener
Architektur gesucht, die in und mit der Erde arbeitet (siehe Kasten unten). Die sie als Material
benutzt, aber nicht die Landschaft zerstört, in der gebaut wird. Vielmehr wird
die Architektur Teil der Landschaft. Gebäude oder ganze Dörfer, die zweckdienlich
und praktisch sind und ihre Bewohnerinnen und Bewohner vor den Gefahren der
Natur schützen. Und die ihnen Rückzugsraum und Versammlungsorte bieten und das
ökologische Gleichgewicht nicht zerstören.
Bjarne Mastenbroek sucht mit seinem Architekturbüro «SeArch»
stets die wechselseitige Beziehung von Architektur und Umgebung. Er begreift
Gebäude als Landschaften, die sich in die natürliche Situation einfügen, ohne
sie zu dominieren oder zu stören. Iwan Baan schwärmt: «Darunter waren tausend
Jahre alte, in Erde und Fels gegrabene Kirchen. Eine Art negative Architektur.»
Wiederbesinnung auf Natur
Für das Buch haben die Autoren bekannte, aber auch bislang
übersehene Beispiele zusammengestellt: Felsenkirchen in Äthiopien, Indien und
Finnland oder ins schützende Gelände gegrabene Dörfer in China oder Afrika, die
nach wie vor bewohnt sind und weitergebaut werden. Das Buch nimmt mit auf eine
globale Entdeckungsreise der Schönheit und Vielfalt erdverbundener Baukultur.
Das Riesenwerk ist in sechs Teile aufgeteilt, die sprechende
Titel tragen: «Bury» (Eingraben), «Embed» (Einbetten), «Absorb» (Absorbieren),
«Spiral» (Hochwinden), «Carve» (Herausarbeiten) und «Mimic» (Nachahmen). Das
umfangreiched visuelle Material umfasst 500 analytische Zeichnungen,
historische Aufnahmen, zahlreiche Grafiken und Grundrisse und vor allem Baans
grossformatige und grossartige Fotos. «Viele der Beispiele waren noch nirgends
dokumentiert. Daher fanden wir es wichtig, genau das zu tun und ihre
Grundrisse aufzuzeichnen», erläutert Mastenbroek.
Er stellt abschliessend fest: «Es gibt Tendenzen zu einer Wiederbesinnung auf die Verbindung zur Natur. Wir hoffen, dass wir künftigen Architektengenerationen mit diesem Buch zeigen können, wie sie ihre Arbeit wieder mit der Landschaft und mit der Erdkruste in Verbindung bringen können.»
Yaodong-Erdhäuser in Henan
Quelle: Iwan Baan Courtesy of TASCHEN
Häuser auf dem Löss-Plateau in Henan.
Der sehr poröse Boden des chinesischen Löss-Plateaus in Henan wird seit etwa 300 v. Chr. zum Bau von Häusern verwendet. Das Löss-Plateau wird vom Wind geformt. Er bringt Lage um Lage Staub aus der Wüste mit. Die Böden sind fruchtbar, aber sehr erosiv. Die karge Landschaft bietet wenig Konstruktionsmaterial, ist stark dem Wetter ausgesetzt und hat hohe Temperaturschwankungen mit heissen Tagen und eisigen Nächten.
Ganze Dörfer
werden daher in die Ebene gegraben. Die Wohnungen werden um einen in den Grund
gegrabenen Hof angeordnet, der für Tageslicht in den Räumen sorgt. So bleibt
sehr viel der fruchtbaren Ebene für den Ackerbau erhalten, der teilweise auch
auf den «Dächern» betrieben wird. Gleichzeitig sind die Bewohner vor Winden und
Temperaturschwankungen geschützt.
2005 lebten noch neunzig Prozent der vierzig Millionen Einwohner der Region in solchen Yaodong genannten gegrabenen Häusern. Mittlerweile werden immer mehr «normale» Häuser errichtet, da die junge Generationen nicht mehr unter der Erdoberfläche leben will, sondern so wie alle anderen Chinesen. Allerdings sind die Höhlenwohnungen viel besser auf die herrschenden klimatischen Bedingungen angepasst, wie aktuelle Untersuchungen zeigen. Trotzdem scheinen sie ausser Mode zu geraten.
Die Felsenkirchen von Lalibela
Quelle: Iwan Baan Courtesy of TASCHEN
Felsenkirchen in Lalibela.
Lalibela (Äthiopien) wurde als das «Neue Jerusalem» bezeichnet. Die Kirchen in der Region wurden aus der Felsenlandschaft in die Tiefe gearbeitet. Pilger steigen von der Oberfläche in die Tiefe hinab und kommen später wieder hinauf, als wären sie symbolisch neu geboren. Der Eingang in der abgebildeten Kirche, Biete Ghiorghis, wird durch einen Schlitz in der Erde gebildet. Sie wurde zwischen 1100 und 1200 n. Chr. geschaffen. Die zugehörigen Mönche leben in winzigen Höhlen, die kaum grösser sind als sie selbst und in die Felswände entlang der Kirche gehauen sind.
Die Villa Vals in steiler Hanglage
Quelle: Iwan Baan Courtesy of TASCHEN
Die Villa Vals in Vals.
Die Villa Vals in Vals, Schweiz, ist das gemeinsame Werk (2005 – 2009) von Bjarne Mastenbroeks Studio SeArch, Amsterdam, und CMA Christian Müller Architects, Zürich. Sie entstand in einer eigentlich unbebaubaren, sehr steilen Hanglage mit Blick auf die Therme von Peter Zumthor. Der Zugang erfolgt über eine alte Bündner Scheune in klassischer Hanglage. Deren ebenerdiges Geschoss, in dem früher das Vieh gehalten wurde, dient seitdem als Zugang zu einem 16 Meter langen Tunnel in den Berg, der zur Villa führt.
Das obere Scheunengeschoss, in dem ehemals das Heu gelagert wurde, wurde zur Garage umfunktioniert. Die Villa selbst ist in den Berg gegraben und bietet 160 Quadratmeter Wohnfläche auf zwei Etagen. Die Wohnräume sind um einen runden Hof angeordnet. Durch seine grosszügige Verglasung fällt ausreichend Licht in die Innenräume.
Buchtipp
Dig it! Building Bound to the Ground; Bjarne Mastenbroek, Iwan Baan 1390 Seiten, 140 Franken, ISBN 978-3-8365-7817-2, (nur in Englisch)