08:20 BAUPRAXIS

Buchkritik «Umbau Architektur in Flandern»: Backsteine im Bauch

Geschrieben von: Robert Mehl (rm)
Teaserbild-Quelle: Filip Dujardin

Im Verlag der Zeitschrift Detail ist ein Buch über die aktuelle Umbauarchitektur im belgischen Landesteil Flandern erschienen. Es zeigt auf, dass die Konversion von Bestandsbauten durchaus kostengünstig und nachhaltig gestaltet werden kann. 

Seebahnhof von Brüssel

Quelle: Filip Dujardin

Der Seebahnhof (Gare Maritime) von Brüssel war einer der grössten überdachten Güterbahnhöfe vorn Brüssel und entstand am Anfang des 20. Jahrhunderts. Die Sanierung und der Umbau erfolgte durch das Rotterdamer Architekturbüro Neutelings Riedijk.

Auf der Seite 57 des zweisprachig angelegten Buches «Umbau Architektur in Flandern» von Florian Heilmeyer und Sandra Hofmeister wird ein Sprichwort zitiert, wonach «die Belgier mit einem Ziegelstein im Bauch geboren werden». Demnach sei einem jeden Einwohner dieses Landes quasi der Um-, Aus- und Fortbau von bestehenden Häusern in die Wiege gelegt. Tatsächlich handelt es sich bei dem flandrischen Landesteil Belgiens um eine fast durchgehend urban erschlossene Landschaft. 

Dabei gilt Belgien, das mit seinen 30668 Quadratkilometern nur etwa dreiviertel so gross ist, wie die Schweiz (41291 Quadratkilometer), ohnehin als eines der am dichtesten besiedelten Länder der Welt. So wird das Phänomen, dass man in ganz Flandern nicht nur in Städten und kleinen Orten, sondern auch in zahllosen, locker über das ganze Land verteilten Einfamilienhäusern wohnt, auch als «nebular city» bezeichnet – eine nebelartige Stadt (S. 155). Entsprechend dominiert in Belgien weniger der Hausneubau als die Konversion von Bestandsbauten. 

Ein weiterer Faktor ist, dass in Belgien das Hauseigentum im Verhältnis zum fälligen Mietzins noch relativ günstig, dafür aber die Bausubstanz meist in einem denkbar schlechten Zustand ist. Entsprechend sind die selten wohlhabenden Hausneubesitzer bestrebt, diese sowohl möglichst günstig als auch mit einer hohen Eigenleistung zu sanieren. 

Hafen Antwerpen Projektseite

Quelle: Edition DETAIL

Wiedergabe von Projektseiten des Antwerpener Hafens (Port House). Die Erweiterung und Sanierung wurde von Zaha Hadid Architects entworfen und 2016 fertiggestellt.

24 Sanierungen, 23 Büros 

In dem besprochenen Buch werden 24 Sanierungsprojekte von 23 verschiedenen Architekturbüros vorgestellt. 16 davon stammen aus Belgien. Die ausgewählten Projekte haben sich der Ausrichtung des Buchs folgend vornehmlich auf eine kreative Konversion spezialisiert. Sieben weitere Büros sind internationaler Provenienz, verfügen jedoch jeweils über eine Niederlassung in den Benelux-Staaten. Darunter sind bekannte Büros wie Neutelings Riedijk oder Kaan Architekten (beide Rotterdam) sowie Caruso St John und tatsächlich auch Zaha Hadid Architects (beide London). Denn das von Letzteren entworfene, und seit seiner Fertigstellung stadtbildprägende Hafenhaus in Antwerpen darf natürlich in diesem flandrischen Konversions-Kompendium nicht fehlen. Schliesslich handelt es sich bei dieser 2016 fertig gestellten expressiven Gebäudeaufstockung um eine ehemalige Feuerwache. 

Im Buch erscheinen die Projekte nach Orten sortiert. Meist handelt es sich dabei um kreative, nicht selten auch hybride Nutzungen. Im weitesten Sinne werden sieben Kulturzentren, fünf Verwaltungsbauten, vier Wohnhäuser, drei Wohnblöcke, zwei Bibliotheken und drei Schulungskomplexe besprochen. Trefflich streiten liesse sich über die Frage, ob das frankophone Brüssel noch zu Flandern zählt oder nicht, da es für viele schon im konkurrierenden Landesteil Wallonien liegt. Nichtsdestotrotz werden in dem handlichen Nachschlagewerk vier Brüsseler Projekte vorgestellt, deren Weglassung ein grosser Fauxpas wäre. 

Passarelle Tondo in Brüssel

Quelle: Edition DETAIL

Wiedergabe der Buchdoppelseite, auf der die Passerelle Tondo in Brüssel präsentiert wird. Sie wurde von dem Architekturbüro Office, bestehend aus Kersten Geers und David Van Severen entworfen und mit dem Brüsseler Architekturpreis 2023 ausgezeichnet.

Vielfältige Planungsaufgaben 

Tatsächlich handelt es sich bei den Brüsseler Sanierungen um drei Grossprojekte, die in zwei Fällen von ausländischen Architekten geplant wurden – darunter die Sanierung des frühindustriellen Gare Maritime durch Neutelings Riedijk – und um die ikonografische Passerelle Tondo. Letzteres ist ein ringförmiger Skywalk des Brüsseler Büros Office Kersten Geers David Van Severen. Es verbindet zwei Gebäude des belgischen Parlaments über eine vielbefahrene Strasse hinweg. Das Projekt, das wie der Ring eines Riesen wirkt, der in eine enge Strassenschlucht fiel und sich dort zwischen den Fassadenfronten verklemmt hat, ist auch das jüngste Projekt dieses Buches und wurde 2023 mit dem Brüsseler Architekturpreis ausgezeichnet. 

Erwähnung finden muss auch das königliche Museum für schöne Kunst in Antwerpen, bei dem die niederländischen Kaan Architekten einen weissen Quader in den Innenhof des traditionsreichen Museums platzierten. An Wagemut kaum zu überbieten ist schliesslich der Umbau der ehemaligen Justizvollzugsanstalt von Hasselt zur Fakultät für Sozialwissenschaften der dortigen Universität von «noArchitecten». Das Brüsseler Büro, das von An Fonteyne, Jitse van den Berg, und Philippe Viérin geführt wird, ist als einziges in diesem Buch mit zwei Projekten vertreten: Neben dem benannten Gefängnisumbau wird auch die Ergänzung von Burg Steen vorgestellt. Sie gilt als die mittelalterliche Keimzelle des Antwerpener Hafens. 

Haus tmSN in Sint-Niklas

Quelle: Stijn Bollaert

Das «Haus tmSN» in Sint-Niklas ist ein typisches Beispiel eines in Eigenleistung umgebauten Wohnhauses, bei dem das handwerkliche bewusst gezeigt und formal inszeniert wurde. Die Planung dazu erfolgte durch BLAF Architecten.

Haus tmSN in Sint-Niklas

Quelle: Stijn Bollaert

Das «Haus tmSN» in Sint-Niklas ist ein typisches Beispiel eines in Eigenleistung umgebauten Wohnhauses, bei dem das handwerkliche bewusst gezeigt und formal inszeniert wurde. Die Planung dazu erfolgte durch BLAF Architecten.

Darüber hinaus findet sich in dem Buch ein sehr lesenswertes Interview mit An Fonteyne, in dem sie nicht nur ihre Motivation und Arbeitsweise beschreibt, sondern sich ausführlich an ihre ersten Berufsjahre als Architektin erinnert. Damals war sie in dem noch weitgehend unbekannten Büro von David Chipperfield in London angestellt und machte erste Erfahrungen in der Sanierung kleinerer Projekte. Dann gewann das Büro von David Chipperfield den Wettbewerb um die Planung des Neuen Museums in Berlin. Hier galt es grundsätzlich zu klären, wie weit eine rekonstruktive Sanierung gehen darf, oder man eine ganz andere Lösung findet. So erinnert sie sich zum Beispiel, dass die grosse, heute das Gebäude prägende Foyertreppe anfänglich durchaus zur Disposition stand. Zahlreiche Modellvarianten aber zeigten, dass ihr Erhalt die stimmigste aller Lösungen war und man sich zuletzt bewusst für die ziegelsteinsichtige Rohbauanmutung entschied. An Fonteyne räumt ein, dass die Tätigkeit im Büro Chipperfield die Arbeit ihres Büros bis heute stark prägt. 

Schlüssiges Layoutkonzept 

Das Layout des annähernd 19 auf 24 Zentimeter messenden, 232-seitigen Hardcover-Buches adaptiert das Konzept einer Architekturzeitschrift. Viele der 24 Projekte werden auf drei Doppelseiten, immer auf einer linken Seite beginnend, präsentiert. Herausragende Bauten, wie etwa das Königliche Museum für schöne Kunst in Antwerpen oder das erwähnte ehemalige Gefängnis von Hasselt erhielten sogar vier Doppelseiten. Mit jeweils zwei Doppelseiten bedacht wurden hingegen kleinere, überschaubare Projekte, wie die bereits erwähnte Passerelle Tondo in Brüssel oder eine Kapelle in Ninove, die durch das Genter Büro Gafpa zu einem Wohnhaus umgebaut wurde. 

Kapelle Ninove

Quelle: GAFPA

In Ninove, gut 30 Kilometer westlich von Brüssel wurde die ehemalige Kapelle unserer lieben Frau von dem Architekturbüro GAFPA in ein Wohnhaus mit Empore umgewandelt.

Kapelle Ninove

Quelle: GAFPA

In Ninove, gut 30 Kilometer westlich von Brüssel wurde die ehemalige Kapelle unserer lieben Frau von dem Architekturbüro GAFPA in ein Wohnhaus mit Empore umgewandelt.

Nach den ersten sechs Projektvorstellungen findet sich ein eingeschobener, 32-seitiger Textblock, in dem insgesamt drei Interviews mit belgischen Architektinnen und Architekten geführt werden, deren Projekte im Buch vorgestellt werden. Eines davon ist das erwähnte Gespräch mit An Fonteyne. Sehr plastisch und aus direkter Perspektive stellen die Architektinnen und Architekten ihre Arbeitsweise, ihre Erfahrungen und ihre Motivation innerhalb dieser besonderen Planungsdisziplin vor. 

Ein zweiter, 16-seitiger Textblock setzt nach weiteren neun Projekten ein und besteht aus zwei Essays zum Thema belgische Konversions-Baukultur – eines stammt vom Mitherausgeber Florian Heilmann, das andere von Sofie de Cagnie, der ehemaligen Direktorin des flandrischen Architektur Instituts. In beiden Essays wird sowohl die Zersiedlung des Landes, der pragmatische Umgang der Bewohner mit dem Baubestand, wie auch der nachhaltige Effekt des Weiterbauens und das Fortführen eines Gebäudes gewürdigt. Eine sehr sinnfällige, weil haptische Gestaltungsidee, war es dabei, diese beiden Textblöcke in leicht gelblichem Büttenpapier anzulegen, während die Projekte auf rein weissem Papier gedruckt wurden. 

Umbau als Tanz 

Die Conclusio – die freilich schon im ersten Interview mit der Architektin Inge Vinck von Ajdviv gezogen werden kann – ist, dass man versuchen sollte den Lebenszyklus eines Gebäudes maximal zu verlängern (S. 57). Man dürfe weder in Ehrfurcht vor dem Vorgefundenen erstarren, noch dieses als ungeeignet abtun und leichtweg abreissen. Das Vorbild seien die ungeschulten Bewohner, die ihr Haus, getrieben von rein pragmatischen Erwägungen fortlaufend ergänzen und anpassen. Vinck vergleicht dabei das Verhältnis von Alt und Neu mit einem Tanz. «Mit einem Partner oder Partnerin zusammen zu tanzen bedeutet, dass zwei verschiedene Charaktere zusammenarbeiten» (S. 559). Sie meint damit, dass Baubestand und neue Ergänzung miteinander harmonieren müssen. So ist es in ihren Augen ebenso statthaft, ein neues Baudetail als solches kenntlich zu machen, wie man es in einem anderen Kontext als Stilkopie behutsam ergänzt. Beides verfügt über Vor- und Nachteile, kann aber bezogen auf die Details des jeweiligen Projekts dessen bauliche Qualität steigern. Diesen hehren Prinzipien kann man nur zustimmen.

Buchtipp

Umbau Architektur in Flandern
Florian Heilmeyer, Sandra Hofmeister, Deutsch / Englisch, 19 x 24 cm, Hardcover, zahlreiche Abbildungen und Fotos, Preis: 49,90 Euro, ISBN: 978-3-95553-630-5


Geschrieben von

Freier Mitarbeiter für das Baublatt.

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