Online-Tool: Dank Madaster verbautes Material wiederverwenden
Mit cleveren Geschäftsmodellen lässt sich der Abfallstrom im Bausektor stoppen. Davon ist Marloes Fischer, Geschäftsführerin von Madaster Services Schweiz,überzeugt. Im Interview spricht sie über die Lancierung ihres Online-Katasters für verbautes Material.
Mit der Madaster-Plattform, einer Online-Bibliothek für im Gebäude verbaute Materialien, wollen sie als gemeinnütziges Unternehmen der Zirkulärwirtschaft im Schweizer Bau- und Immobiliensektor zum Durchbruch verhelfen. Warum lohnt es sich in der hiesigen Baubranche besonders, den Materialkreislauf zu schliessen?
Marloes Fischer:Die Bauwirtschaft ist weltweit für 30 bis 40 Prozent aller Abfälle verantwortlich. In der Schweiz machen die jährlich im Bau- und Immobilienbereich anfallenden 17 Millionen Tonnen Müll und Rückbaumaterial sogar rund 80 Prozent des gesamten Abfallaufkommens aus. Wenn wir hier ansetzen, hat dies eine enorme Hebelwirkung. Dadurch kommen wir unserer langfristigen Vision einer abfallfreien Wirtschaft einen Schritt näher.
Steht diese Erkenntnis hinter Ihrem persönlichen Engagement?
Indirekt ja. Der in den Niederlanden wohnhafte Madaster-Gründer Thomas Rau hat sich als Architekt von Anfang an mit dem nachhaltigen Bauen auseinandergesetzt. In der Praxis bemerkte er, dass entsprechende Aspekte zwar in der Konzeptphase diskutiert wurden, jedoch spätestens bei der Projektumsetzung oft dem Kostendruck zum Opfer fielen. Wenn wir uns aber Nachhaltigkeit nicht leisten wollen, bedeutet dies doch, dass sie für uns keinen Wert hat. Rau hat sich deshalb gefragt, wie man der Nachhaltigkeit zu einem Wert verhilft. Schliesslich fokussiert auch die Kreislaufwirtschaft, so wie wir sie verstehen, auf wirtschaftlichen Wert. Wie können wir also Bauabfälle vermeiden? Indem wir den verbauten Materialien einen Wert geben. Und wie schaffen wir das? Mittels eines Materialpasses für Gebäude, der den verwendeten Bauteilen und -materialien eine Identität gibt – dies analog zum Pass eines Menschen.
Was ist folglich die Grundidee hinter Madaster, dem Kataster für Material?
Dokumentiertes Material wird nicht zu Abfall, weil wir jederzeit über dessen Qualität, Zustand und Lokalisierung Bescheid wissen. Oder in den Worten von Thomas Rau: Abfall ist Material ohne Identität. Wir sollten also aufhören, Gebäude über die Jahre abzuschreiben und stattdessen aufschreiben, was in ihnen an langfristig Wertvollem steckt. Die gesammelten Daten helfen uns, vernünftigere Entscheidungen zu treffen. Wir können so den Wert von Materialien und Produkten behalten – zum Nutzen von Wirtschaft und Gesellschaft.
Zwei Drittel der Schweizer Abfälle aus dem Um- und Rückbau werden bereits recycelt. Worin liegen die ökologischen und ökonomischen Vorteile der von Ihnen propagierten Wiederverwendung von Bauteilen gegenüber dem Recycling von Rückbaumaterialien?
Die Aufbereitung von Rückbaumaterialien hat in der Baubranche definitiv auch seine Berechtigung. Denken sie etwa an Recyclingbeton, der uns hilft, die endlichen Kiesressourcen zu schonen. Doch in recycelten Produkten steckt diejenige graue Energie, die wir für Rückbau, Transport und Wiederaufbereitung des Materials aufwenden. Wenn es uns gelingt, gebrauchte Bauteile für einen nächsten Lebenszyklus verfügbar zu machen, reduziert sich dieser Energiebedarf und dadurch auch der CO2-Ausstoss. Das rechnet sich sowohl wirtschaftlich als auch gesellschaftlich. Unser Ziel muss es deshalb sein, kreislauffähige Bauprodukte so lange wie möglich ohne Wiederaufbereitung im Wirtschaftssystem zu behalten. Architekten und Ingenieure können etwa mittels Modularisierung dazu beitragen, dass die Trennbarkeit der Materialien gegeben ist, sich Bauteile also bei Bedarf wieder einfach auseinanderdividieren lassen.
Sie raten also dazu, bereits bei der Planung von Bauten anzusetzen?
Ganz genau. Die Kreislaufwirtschaft beginnt bereits in der Entwicklungsphase von Bauprojekten. Schliesslich werden da bezüglich Materialwahl und Volumen die Weichen gestellt. Entscheidet man sich etwa für möglichst sortenreine Konstruktionen, vereinfacht dies später den Rückbau und die Demontage bedeutend. Bei der detaillierten Material- und Bauteilplanung hilft auch der Umstand, dass immer mehr Neubauten basierend auf einem digitalen Bauwerksmodell – also einem Building Information Model – in Angriff genommen werden. Aber in der Schweiz verfügen wir auch über einen historisch gewachsenen Gebäudebestand, mit dem wir sorgfältig umgehen sollten. Dort liegt die grosse Materialmasse, dieses Potenzial gilt es zu nutzen. Um die Wiederverwendungsquoten bei Baumaterialien innert nützlicher Frist zu erhöhen, müssen wir primär den Gebäudebestand im Blick haben, ohne dabei jedoch die Neubauten aus den Augen zu verlieren.
Gibt es einen Bereich, auf den wir bezüglich Re-use fokussieren sollten?
Das ist schwierig zu beantworten, da es für die Wiederverwendung so viele Einstiegspunkte gibt. Wenn sie bei einem Rückbauprojekt mit der Bestandsaufnahme beginnen, also die Baumaterialien vor dem Planungsbeginn des Neubaus dokumentieren, lassen sich idealerweise einige der frei werdenden Bauteile gleich in den Neubau übernehmen. Falls dies nicht möglich ist, weil der Ersatzneubau bereits fertig geplant ist, weiss der Bauherr dank der Dokumentation zumindest, welche Materialien er dem Markt zur Verfügung stellen kann. Ob er diese verkauft oder zur Imagebildung verschenkt, bleibt ihm überlassen. Aber auch bei Renovationsobjekten empfiehlt es sich, den Materialbestand aufzunehmen. Schliesslich bleibt in solchen Projekten nur der Rohbau unangetastet, alles andere wird jedoch verfügbar. Der Fokus kann hier ebenfalls auf der Wiederverwendung im gleichen Objekt liegen. Oder dann erhalten gewisse Bauteile eben ein zweites Leben in einem anderen Gebäude.
Mit der Madaster-Plattform wollen Sie diese Vermittlungsprozesse unterstützen. Was ist die Grundidee?
Alle ressourcenrelevanten Daten von Bauwerken können in einer Art Online-Grundbuch erfasst, strukturiert und in sogenannten Materialpässen auch als PDF übersichtlich bereitgestellt werden. Damit erhalten Bauherren respektive die späteren Hauseigentümer vollständige Transparenz über den finanziellen und kreislaufwirtschaftlichen Wert sowie die Qualität der im Gebäude verbauten Materialien und Produkte. So lassen sich Rückbau, Neubau und Facility-Management besser zirkulär organisieren und aufeinander abstimmen. Entscheidungen über die zukünftige Verwendung von Baumaterialien können bereits vor dem Rückbau datenbasiert gefällt werden. Das Gebäude wird zu einem dokumentierten Lagerplatz für Materialien.
Und wie benutzerfreundlich ist Ihr Tool?
Im Dossier der Online-Bibliothek finden sich alle relevanten Pläne, Fotos und Dokumente an einem Ort. Da unsere Plattform BIM-tauglich ist, können etwa Pläne via IFC-Standardschnittstelle eingelesen werden. Darüber hinaus setzen wir soweit möglich auf bestehende landesspezifische Branchen-Standards. In der Schweiz arbeiten wir etwa bei der Klassifizierung der Materialien mit den eBKP-Positionen. Dafür sind wir mit der Schweizerischen Zentralstelle für Baurationalisierung CRB eine Daten-Partnerschaft eingegangen. Die Nutzung der elementbasierten Baukostenpläne eBKP für den Hoch- und Tiefbau wird massgeblich zur Qualität, Anwendbarkeit und Akzeptanz unserer Materialpässe in der Schweiz beitragen.
Madaster hat seine Online-Bibliothek für verbaute Materialien also inzwischen an die Schweizer Bedürfnisse angepasst. Wann wird die Plattform hierzulande öffentlich ausgerollt?
Ab 25. Juni kann jeder Schweizer Immobilieneigentümer sein Gebäude auf der Madaster-Plattform registrieren und damit beginnen, seine kreislaufwirtschaftlichen Ambitionen auf Deutsch oder Französisch umzusetzen. Im Rahmen eines Webinars wird unsere Online-Bibliothek dann anfangs Juli öffentlich lanciert. Unser Kataster für Material wird beispielsweise auch Immobilienverwaltern, Bauplanern oder Architekten zur Verfügung stehen, die ihre Kunden bei der Realisierung von zirkulären Geschäftsmodellen und der Implementierung von Materialpässen in Bauprojekten unterstützen wollen.
Was kostet die Nutzung der Madaster-Plattform?
Der Abonnements-Preis für Geschäftskunden startet bei jährlich 500 Franken, ist jedoch abhängig von der Nutzfläche des erfassten Immobilienportfolios sowie der Anzahl User, welche die Online-Bibliothek nutzen. Privateigentümer bezahlen für den Zugang zur Madaster-Plattform 250 Franken im Jahr. Die Preisstruktur ist also so ausgestaltet, dass Materialpässe für alle Hauseigentümer erschwinglich sein sollten.
Quelle: Stefan Schmid
Wer über die Zusammensetzung seines Gebäudes Bescheid weiss, kann über die zukünftige Verwendung von Baumaterialien bereits vor dem Rückbau datenbasiert entscheiden.
Um die Kreislaufwirtschaft im Schweizer Bau zu etablieren, müssen sie aber die wichtigsten Player des Bau- und Immobiliensektors überzeugen und einbinden.
Tatsächlich kann diese systemische Änderung im Bau nur gelingen, wenn wir zusammenarbeiten. Die Schweizer Madaster-Plattform, die wir nun lancieren dürfen, haben wir deshalb im intensiven Austausch mit führenden Akteuren der hiesigen Bau- und Immobilienbranche sowie dem Bundesamt für Umwelt (Bafu) entwickelt. Diese sogenannten Kennedys treiben als Partner von Madaster Schweiz die zirkuläre Idee gemeinsam mit uns vorwärts. Wir können nicht mehr einfach gleich weiterbauen, wie wir dies schon immer getan haben. Es braucht ein Umdenken sowie die Bereitschaft neue Wege zu gehen und dabei konkrete Erfahrungen zu sammeln. Nur durchs pragmatische Tun können wir immer mehr Akteure der Baubranche davon überzeugen, dass wir mit unseren endlichen Rohstoffen sparsamer umgehen können, ja zweifellos müssen. Das war auch die Hauptaussage einer kürzlich im Auftrag des Bafu erstellten Studie zur Wiederverwendung beim Bauen. Die Autoren stellten fest, dass sich dafür die zahlreichen Akteure im Markt noch besser vernetzen müssen. Unsere Online-Plattform kann diesen Austausch vereinfachen und die Dynamik für mehr Kreislaufwirtschaft im Bau beschleunigen.
Madaster ist ein gemeinnütziger Verein. Wie haben Sie die Lancierung und Entwicklung der Schweizer Plattform finanziert?
Unsereelf Kennedyshabeneinen einmaligen finanziellen Beitrag geleistet. Dank frühzeitigem Zugang zur Madaster-Plattform haben sich diese Partner, darunter die Eberhard Unternehmungen, Losinger Marazzi oder die SBB, aber auch frühzeitig bei der Helvetisierung unseres Tools aktiv eingebracht. Zudem haben wir mit CRB und Buildup als Datenpartner kooperiert, um den Schweizer Standard für unsere Materialpässe zu definieren. Es war für uns wichtig, frühzeitig aufzuzeigen, wie dieser einmal aussehen könnte. Das in der Schweiz bislang noch wenig bekannte Konzept der Materialpässe liess sich so besser vermitteln.
Wie stellen Sie aber die notwendige Weiterentwicklung sicher?
Die Online-Bibliothek wird durch eine Aktiengesellschaft nach dem Prinzip des sozialen Unternehmertums vermarktet. Denn die Gesellschaft soll vom bislang ungenutzten Ressourcen-Potenzial im Urban Mining profitieren. Wir werden nie eine Gewinnmaximierung anstreben, aber sehr wohl gewinnorientiert handeln. Die Weiterentwicklung der Plattform kann dann aus selbst erarbeiteten Mitteln finanziert werden, dies ergänzt um öffentliche Fördergelder oder private Beiträge im Rahmen von Kooperationen. Für die Zusammenarbeit mit Partnern aus Forschung und Wirtschaft sind wir immer offen. Nur so können wir unsere Ideen wissenschaftlich abstützen und in marktfähige Lösungen übersetzen.
Wie schätzen Sie die Schweizer Bau- und Immobilienbranche aufgrund Ihrer persönlichen Erfahrungen im Rahmen des Madaster-Projekts ein?
Für die Skalierung der ursprünglich holländischen Madaster-Idee ist die Schweiz ein guter Testmarkt. Hier in diesem kleinen aber kapitalstarken Land wird hochwertig gebaut. Denn die Schweizer Baumeister haben ein ausgeprägtes Qualitätsbewusstsein, schliesslich sind auch die hiesigen Kunden anspruchsvoll. Zu Beginn meiner Arbeit haben Exponenten der Schweizer Baubranche die Kreislaufwirtschaft vielfach mit dem Recycling von Baustoffen gleichgesetzt. Mittlerweile wissen immer mehr Akteure, dass auch das Re-use-Prinzip, sprich die Wiederverwendung hochwertiger Bauteile, ein wesentlicher Teil davon ist. Aber beim zirkulären Bauen geht es nicht «nur» um Recycling und Wiederverwendung, sondern auch um die Materialwahl, den Konstruktionsansatz, die Modularität und das langfristige Nachdenken über mögliche weitere Anforderungen und Gebrauchsmöglichkeiten für unsere heutigen Gebäude in ferner Zukunft.
Haben Sie bereits vor der Tätigkeit für Madaster eigene Bauerfahrungen gesammelt?
Ich bin in einem 400 Jahre alten Haus aufgewachsen, das meine Eltern eigenhändig umgebaut und renoviert haben. Die vorherige Besitzerin hatte daran 50 Jahre nichts gemacht. Und so hatte sich einiges Material angesammelt, das auf den ersten Blick nutzlos erschien. Doch jeden Stein und jedes Stück Holz haben sie aufbewahrt, angepasst und später wieder eingesetzt. Sie wollten das alte Haus wieder möglichst originalgetreu herstellen. Das hat mich schon als Kind fasziniert – und offensichtlich nachhaltig geprägt. Seit damals sehe ich Bauprojekte als individuelle und langfristig angelegte Prozesse, zu denen zirkuläres Denken perfekt passt.
Wer steht hinter der Madaster-Plattform?
Madaster Schweiz ist ein gemeinnütziger Verein mit Sitz in Zürich. Er verfolgt das Ziel, die Kreislaufwirtschaft im Bau- und Immobiliensektor in der Schweiz zu fördern und damit Abfall zu vermeiden. Madaster stimuliert und betreut die Entwicklung und Verwendung von Materialpässen für neue und bestehende Gebäude über die Madaster-Plattform, dem Online-Kataster für verbaute Materialien. Dem Vorstand des Vereins gehören führende Unternehmen der Schweizer Bau- und Immobilienbranche an, darunter die Eberhard Unternehmungen, Losinger Marazzi sowie die Swiss Prime Site AG.
Initiatorin und Vorstandsmitglied von Madaster Schweiz ist Marloes Fischer. Die studierte Kommunikationswissenschafterin und Japanologin gründete 2018 den Circular Hub, die offene Wissens- und Netzwerkplattform für die Kreislaufwirtschaft in der Schweiz. Als erfahrene Führungskraft und Beraterin im Bereich Lean Operations möchte die gebürtige Holländerin Wege aufzeigen, die zur Verbesserung sozialer, ökologischer und ökonomischer Faktoren für Mensch, Umwelt und Wirtschaft führen. Zirkularität ist für sie der logische nächste Schritt, um Unternehmen zukunftssicher aufzustellen.(pd/gd)