Zuwachs für SIA-Ordnungswerk: Das müssen Bauherren leisten
Das neue Beschaffungsgesetz soll das nachhaltige Bauen
fördern. Gefordert sind damit auch die Bauherrschaften. Der Schweizerische
Ingenieur- und Architektenverein (SIA) hat deshalb in einer neuen Ordnung
erstmals die Leistungen festgehalten, die von den Bauherren erwartet werden.
Quelle: Bernd Sterzl, pixelio.de
Bauherrschaft und Planer tragen gemeinsam die Verantwortung für ein nachhaltiges Bauen.
Er steht für den Wandel zu einem nachhaltigen Vergaberecht
in der Schweiz wie kaum ein anderer: Als Richter am Bundesverwaltungsgericht begleitet
Marc Steiner seit 2007 den Aufbau des Fachbereichs öffentliches
Beschaffungswesen als Fachkoordinator. Hubert Stöckli, Direktor des Instituts
für schweizerisches und internationales Baurecht an der Universität Fribourg,
hat ihn bereits 2004 als «Mr. Green Public Procurement» bezeichnet. Dass das
neue Vergaberecht einmal so ticken würde wie er, hätte damals niemand gedacht.
Am ersten Ordnungstag des Schweizerischen Ingenieur- und Architektenvereins
(SIA) zeigte sich Steiner denn auch «begeistert» vom totalrevidierten
Bundesgesetz über das öffentliche Beschaffungswesen (BöB), das im Januar 2021
in Kraft getreten ist.
Qualitätswettbewerb, Innovation und Nachhaltigkeit: So
lauteten die Hauptziele der Gesetzesrevision. Neu erhält nicht mehr das
wirtschaftlich günstigste, sondern das vorteilhafteste Angebot den Zuschlag. Nicht
mehr der Preis soll den Ausschlag für die Vergabe geben, sondern die Qualität. Oder
wie es Steiner einmal auf den Punkt gebracht hat: «Geiz ist nicht mehr geil.» Das
Gesetz führt eine ganze Liste von qualitativen Kriterien auf, die neben
dem Preis über den Zuschlag entscheiden, beispielsweise Lebenszykluskosten,
Nachhaltigkeit, Innovation, Ästhetik und Zweckmässigkeit.
Öffentliche Hand kauft jährlich für 40 Milliarden ein
Das öffentliche Beschaffungswesen werde dadurch zum
«Schlüsselinstrument für den Green New Deal», erklärte Steiner am
SIA-Ordnungstag, der per Livestream aus dem totalsanierten Kongresshaus Zürich
übertragen wurde. Denn bei den Vergaben der öffentlichen Hand ist viel Geld im
Spiel: Bund, Kantone und Gemeinden sowie die unterstellten Energie- und
Verkehrsunternehmen kaufen jährlich für über 40 Milliarden Franken ein –
ungefähr die Hälfte davon für Bauleistungen.
”Das neue Beschaffungsgesetz ist ein Riesenhebel, um eine zukunftsfähige Entwicklung des Kapitalismus zu erreichen.
Marc Steiner, Richter am Bundesverwaltungsgericht
Marc Steiner, Richter am Bundesverwaltungsgericht
Die neuen Regeln im staatlichen Beschaffungswesen seien deshalb
ein «Riesenhebel, um eine zukunftsfähige Entwicklung des Kapitalismus zu
erreichen», so Steiner. Man sei vom bisherigen Preiskampf und der neoliberalen Ideologie
abgerückt, weil unser Planet damit an die Wand gefahren würde.
Dass ein solches progressives und harmonisiertes Bundesrecht
zustande kam, sei für die Schweiz ein kleines Wunder. Der Hauptgrund dafür sei
der Leidensdruck bei den Anbietern gewesen. Dass die Reform des Vergaberechts
im Parlament eine Mehrheit gefunden hat, war laut Steiner der Baulobby zu
verdanken, vor allem dem Dachverband Bauenschweiz und dem SIA. Das Spiel habe
aber erst jetzt begonnen. Das Gesetz verpflichte nicht zur radikalen
Nachhaltigkeit – es eröffne nur Spielräume. Damit die öffentlichen Mittel
wirtschaftlich, ökologisch und sozial nachhaltig eingesetzt werden, sei ein
Wandel in der Vergabekultur nötig. Die Vergabestellen beziehungsweise
Auftraggeber müssten von ihren Ermessenspielräumen anders Gebrauch machen als
bisher.
Ein zukunftsfähiger und nachhaltig gestalteter Lebensraums
von hoher Qualität: Dieser Vision folgt der SIA, wie Vorstandsmitglied Anna Suter
erklärte. Der SIA bekennt sich deshalb auch zur Agenda 2030 (siehe «Agenda für nachhaltige
Entwicklung»). An diesen Nachhaltigkeits- und Qualitätszielen ist auch das
SIA-Ordnungswerk ausgerichtet. Dabei handelt es sich um umfassende
Branchenregeln, die den gesamten Lebenszyklus eines Bauwerks abdecken. Interdisziplinär
zusammengesetzte SIA-Kommissionen aus führenden Fachleuten erarbeiten und
pflegen die Ordnungen ehrenamtlich.
Schnittstellen geklärt
Dieses Ordnungswerk hat nun Zuwachs erhalten: Zum ersten Mal
in seiner Geschichte hält der SIA in der neuen Ordnung 101 die Leistungen der
Bauherren fest. Denn die Botschaft des neuen Beschaffungsgesetzes ist klar: Die
Verantwortung für ein nachhaltiges Bauen tragen Planer und Bauherrschaft
gemeinsam. Die SIA-Ordnung 101 will gemäss dem Wortlaut zeigen, «was es
bedeutet, Bauherr zu sein, und welche Obliegenheiten und Tätigkeiten ihm
zugeordnet sind». Als Verständigungsnorm kann diese Ordnung oder können Auszüge
daraus als Vertragsbestandteile vereinbart werden. Die neue Ordnung richtet
sich nicht nur an die Bauherren, sondern auch an ihre Vertragspartner wie
Planer, Unternehmer und Berater. Sie dient der Klärung der Schnittstellen
zwischen den Beteiligten in jeder Phase.
Quelle: Ikiwaner, CC BY-SA 3.0, Wikimedia Commons
Fassade des SIA-Hochauses in Zürich.
Das Kernstück ist ein Katalog von Leistungen, die der
Bauherr während der Planung und Realisierung eines Bauvorhabens in der Regel zu
erbringen hat und die der SIA als «aktuelle Best Practice für den
Projekterfolg» bezeichnet. Der Leistungsbeschrieb ist auf dem SIA-Phasenmodell
112 aufgebaut, wobei den sechs bekannten Phasen noch eine Phase 0 vorangestellt
wurde: die «Initialisierung».
«Die Initialisierung ist der erste Schritt zur Definition
von Rollen und Beziehungen, die das Resultat des Projekts wiederum massgebend
beeinflussen», erklärte Erich Offermann, Präsident der Kommission für die SIA-Ordnung
101. Für jede Phase beziehungsweise Teilphase werden die vom Bauherrn
erwarteten Leistungen und Entscheide aufgeführt. Insgesamt nennt der Katalog
429 solcher Leistungen und Entscheide. Der Bauherrschaft kommen damit laut
Offermann sehr wichtige Aufgaben zu. Vor allem bleibe «die umfassende und nicht
delegierbare Verantwortung» bei ihr.
Weg vom «konfrontativen System»
«Wir wünschen uns bestellungskompetente Bauherren, die ihre
Verantwortung wahrnehmen, mitwirken und sachgerechte Entscheidungen fällen»,
sagte Patrick Middendorf, Fachanwalt für Bau- und Immobilienrecht. Heute versuchten
Bauherrschaften immer wieder, mit Unterstützung von findigen Baujuristen die
Verantwortung und die Risiken zum Beispiel auf die Totalunternehmen abzuwälzen,
kritisierte German Grüniger, Leiter des Konzernrechtsdiensts und
Konzernleitungsmitglied bei der Implenia AG, dem grössten Schweizer
Baudienstleister. Er sprach von einem «konfrontativen System», das aufgebrochen
werden müsse.
Grüniger: «Bauen ist eine partnerschaftliche Angelegenheit.
Bauherren, Planer und ausführende Unternehmen müssen die Probleme gemeinsam
lösen. Das ist bestimmt besser, als hinterher Konflikte auszutragen.» Dafür
brauche es aber die Bereitschaft der Bauherrschaften, umzudenken. Vielleicht
spreche man künftig besser von Vertragspartnern statt von Vertragsparteien,
meinte Offermann. Man müsse versuchen, von der heutigen Blame- zu einer
No-Blame-Kultur zurückzufinden, sagte Middendorf.
Welche Qualitäten ein nachhaltig gestalteter Lebensraum
aufweisen muss, darüber gingen am SIA-Ordnungstag die Vorstellungen
auseinander. Bauliche Qualität sei keine absolute Grösse, sondern müsse in
jedem Projekt vom Bauherrn spezifisch festgelegt werden, erklärte Heinz Ehrbar,
ETH-Dozent für grosse Infrastrukturbauten. Er bezeichnete die Ausbildung als
wichtigen Baustein für die Nachhaltigkeit.
Hohe Baukultur als Ziel
Claudia Schwalfenberg, SIA-Verantwortliche für Baukultur,
versteht die baukulturelle Qualität von Orten als vierten Pfeiler der
Nachhaltigkeit. Mit dem «Davos Qualitätssystem für Baukultur» sei ein Versuch
zur Objektivierung von Qualität unternommen worden. Das eidgenössische Bundesamt
für Kultur hat es als Folgedokument zur europäischen Erklärung von Davos für
eine hohe Baukultur gemeinsam mit internationalen Partnern erarbeitet. Daran
beteiligt war auch der SIA. Acht Kriterien wurden festgelegt, mit denen sich
die baukulturelle Qualität eines Orts bewerten lässt: Gouvernanz,
Funktionalität, Umwelt, Wirtschaft, Vielfalt, Kontext, Genius loci beziehungsweise
lokale Atmosphäre und Schönheit.
Quelle: Kongresshaus Zürich AG
Der SIA-Ordnungstag wurde per Livestream aus dem totalsanierten Kongresshaus Zürich übertragen.
Lamia Messari-Becker, Professorin für Gebäudetechnologie und
Bauphysik an der Universität Siegen, wies auf die stark wachsenden
Volkswirtschaften im asiatischen Raum hin. Der weltweite Verbrauch von
Ressourcen werde dadurch massiv zunehmen. Doch auch diese Länder hätten ein
Recht auf Wachstum. Die industrialisierten Länder müssten deshalb mehr
Verantwortung übernehmen und ihren Ressourcenverbrauch auf ein global
nachhaltiges und gerechtes Niveau senken. Die Lösung sei nicht ein Verzicht. Notwendig
seien Ressourceneffizienz, eine Kreislaufwirtschaft und saubere Energien. Die
Lebenszykluskosten der Bauwerke müssten verstärkt berücksichtigt werden, forderte
Pierre Broye, Direktor des Bundesamts für Bauten und Logistik. Alain Oulevey, Bauingenieur
und SIA-Vorstandsmitglied, nannte die Bauabfälle als Problem, das gelöst werden
müsse.
Bauen mit Umsicht und Weitsicht
Qualität braucht Umsicht und Weitsicht», erklärte Kerstin
Müller, Geschäftsleitungsmitglied im Baubüro In Situ. «Bauten mit Umsicht
leisten einen Beitrag an die drängenden Probleme unserer Zeit – Klimakrise und
Biodiversitätsverlust. Bauten mit Weitsicht sind für kommende Generationen
wertvolle Materiallager, nicht Problemfälle.» Um der Komplexität
unterschiedlicher Perspektiven und Rahmenbedingungen gerecht zu werden, müsse
ein breiter gesellschaftlicher Diskurs darüber geführt werden, wie wir in
Zukunft leben wollen, erklärte Stefan Kurath, Co-Leiter des Instituts Urban
Landscape an der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW).
Einen Bogen zurück zum neuen Beschaffungsrecht schlug Mario
Marti, Geschäftsführer der Schweizerischen Vereinigung Beratender
Ingenieurunternehmungen (Usic). Qualität werde erreicht, wenn das Preisdiktat
durch eine ganzheitliche Betrachtung von Angeboten abgelöst werde: «Kein
vernünftiger Mensch sucht die billigste Anwältin oder den billigsten Zahnarzt.
Endlich hat dieser Spuk auch bei den Planenden ein Ende.»
Agenda für nachhaltige Entwicklung
2015 haben die 193 Mitgliedstaaten der Vereinten Nationen die
Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung unterzeichnet. Darin sind 17 Ziele –
die Sustainable Development Goals – und 169 Unterziele festgelegt, um die
drängendsten Probleme unserer Zeit wie Armut, Klimawandel, Umweltzerstörung oder
Gesundheitsrisiken zu lösen. Es handle sich um kein internationales Abkommen,
sondern um einen globalen Referenzrahmen für alle Staaten, erklärte Jacques Ducrest,
Delegierter des Bundesrats für die Agenda 2030.
Auch die Schweiz hat sich politisch verpflichtet, die Ziele
bis zum Jahr 2030 umzusetzen. Im vergangenen Sommer verabschiedete der
Bundesrat die Strategie nachhaltige Entwicklung 2030 und einen Aktionsplan für
die Jahre 2021 bis 2023. Der Auftrag ist für Ducrest klar: «Die Schweiz muss ihren Konsum von natürlichen
Ressourcen und damit ihren ökologischen Fussabdruck verringern», aber trotzdem wachsen können.»
Die Strategie legt in drei Schwerpunktthemen Ziele sowie
nationale und internationale Stossrichtungen für die Bundespolitik fest:
«nachhaltiger Konsum und nachhaltige Produktion», «Klima, Energie und
Biodiversität» sowie «Chancengleichheit und sozialer Zusammenhalt». So will der
Bundesrat bis 2030 den Anteil der Bevölkerung verringern, die unter der
nationalen Armutsgrenze lebt. Zudem sollen künftig finanzielle Anreize für die
Nutzung fossiler Energieträger vermieden werden.
Der Aktionsplan fasst die Strategie in ausgewählte neue
Massnahmen auf Bundesebene. Dazu zählen beispielsweise Massnahmen gegen die
Lebensmittelverschwendung oder zur Förderung nachhaltiger Flugtreibstoffe, eine
Strategie für die Koordination der verschiedenen unterirdischen Bodennutzungen
und die Stärkung des sozialen Zusammenhalts in Quartieren und
Agglomerationen. Auch der Bausektor hat Aufgaben gefasst: Zum einen sind
nachhaltige Quartiere zu stärken, und zum anderen müssen die Qualitätskriterien
für ein nachhaltiges Immobilienmanagement angepasst werden. Unter anderem
sollen Lebenszykluskosten stärker berücksichtigt und Bilanzierungsmethoden
europaweit harmonisiert werden. (stg)