16:38 BAUBRANCHE

Wohnen in der Gemeinschaft: Luxus für jeden statt einen

Teaserbild-Quelle: R. Christianell

Eine Wohnung mit eigenem Badehaus, einer riesigen Bibliothek und einem Dachgarten im Zentrum der Stadt zum bezahlbaren Preis: Was wie eine realitätsferne Vision klingt, könnten Wohnbauten, bei denen die Gemeinschaft im Zentrum steht, möglich machen. Das legt eine spannende Ausstellung im Vitra-Design-Museum nahe.

Leuchtendes Orange prägt die Sargfabrik in Wien. (R. Christianell)

Quelle: R. Christianell

Leuchtendes Orange prägt die Sargfabrik in Wien.

Von aussen erinnert sie entfernt an eine Burg: die Überbauung Kalkbreite in Zürich-Wiedikon neben dem Tramdepot. Wer über die Treppe des tunnelartigen Eingangs in den Innenhof tritt, trifft auf einen begrünten Platz mit Läden und Cafés. Auf Strassenseite sorgen ein Restaurant, ein Bioladen und ein Kino für Bezug zur Aussenwelt. Entworfen haben das Gebäude Müller Sigrist Architekten AG aus Zürich und so eine Oase inmitten des urbanen Getümmels geschaffen. Die Genossenschaft Kalkbreite, die hinter der Überbauung steht, will verhältnismässig günstigen Wohnraum für ein buntgemischtes Publikum bieten. Sowohl für Familien, Paare und Singles als auch für Wohngemeinschaften. Von den 97 Wohneinheiten sind 30 Ein- bis Eineinhalbzimmer-Wohnungen, die zu drei sogenannten Clustern zusammengeschlossen sind, zu denen ein grosser Gemeinschaftsraum gehört. Daneben finden sich noch drei WG-Grosswohnungen für jeweils neun Mieter.

Gemeinschaft wird gross geschrieben. „In der Kalkbreite mietet Raum, wer an einem Zusammenleben und/oder Zusammenarbeiten mit Austausch interessiert ist“, heisst es auf www.kalkbreite.ch. Zudem wird betont, dass Mieter gefragt sind, die bereit sind, ihren persönlichen Raumbedarf zugunsten eines grosszügigen gemeinschaftlichen genutzten Raumangebots zu reduzieren.

Sieht so die Zukunft des urbanen Wohnens aus? Bieten solche Konzepte tatsächlich eine Lösung für den immer teurer und knapper werdenden Wohnraum in den Städten? Derartigen Fragen versucht die aktuelle Ausstellung „Together – Die Architektur der neuen Gemeinschaft“ im Vitra-Design-Museum auf den Grund zu gehen. Die Antwort liefert die von EM2N gestalteten und von Alex Ruby, dem neuen Direktor des schweizerischen Architekturmuseums, kuratierte Schau schnell: Gemeinschaftliches Wohnen könnte für mehr bezahlbaren Wohnraum und gleichzeitig für mehr Verdichtung sorgen.

Dies wird anhand unterschiedlichster Beispiele für gemeinschaftliches Wohnen aus der ganzen Welt illustriert. Eines davon ist die „Sargfabrik“ im Westen Wiens. In der leuchtend orangefarbenen Überbauung aus der Feder des Büros BBK-2 verzichten die Bewohner wie in Zürich auf grosszügige Privaträume zugunsten von Luxus für alle. Dies ermöglicht etwa ein Badehaus, einen grosszügigen Dachgarten, Gemeinschaftshöfe, ein Restaurant und ein Kinderhaus. – Im Gegensatz zur Kalkbreite hat die Sargfabrik früher ihren Anfang genommen: 1987 gründete eine „engagierte Gruppe von Menschen“, die mit „dem teuren und den Traditionen der Kleinfamilien verhafteten Wohnungsmarkt“ unzufrieden war, den Verein für Integrative Lebensgestaltung. Die Gruppe wollte einen „Wohnungsverband“ verwirklichen, der Raum für verschiedene gemeinschaftliche Lebensmodelle und Kultur bietet. Mittlerweile sind es mehr zehn Jahr her, seit die Sargfabrik ihre Pforten geöffnet hat. Ihre Gründer scheinen zufrieden: Aus ihr sei „ein Stück gebaute Utopie“ geworden, schreiben sie auf www.sargfabrik.at.

Hippies auf der Militärbrache

Die Schau präsentiert nicht nur neuere Projekte, sondern blickt auch zurück und rollt die Geschichte sozialer Wohnideale auf. Oft waren sie – wie in Wien – ein Protest gegen aktuelle Verhältnisse. In der Schweiz gilt dies in jüngerer Vergangenheit etwa für die als Grosshaushalt organisierte Zürcher Wohnbaugenossenschaft Karthago, deren Ursprung in der Wohnungsnot der 80er-Jahre und der Hausbesetzerszene wurzelt.

Ein anderes Biotop für experimentelle Wohnformen ist Christiania auf Kopenhagens gleichnamigem ehemaligem Kasernengelände. Nachdem das Militär abgezogen war und in den leeren Bauten hin und Obdachlose Unterschlupf gefunden hatten, rissen Anwohner zu Beginn der 70er-Jahre die Zäune nieder und nahmen Teile des Areals ein. Dies geschah zunächst unorganisiert und als Reaktion auf die damals herrschende Wohnungsnot. Wenige Wochen später erklärte Journalist Jacob Ludvigsen in der Zeitung „Das Hauptblatt“, dessen Herausgeber er war, Christiania als geöffnet. „Das Ziel von Christiania ist das Erschaffen einer selbst regierenden Gemeinschaft, in der alle und jeder für sich für das Wohlergehen der gesamten Gemeinschaft verantwortlich ist“, wurde noch im selben Jahr im Christiania-Leitbild festgehalten.

Ist bei Christiania die Architektur kaum von Bedeutung, nimmt sie bei Le Corbusiers Wohnmaschine einen grossen Stellenwert ein. Während hier zwar auch die Gemeinschaft wichtig ist, wollte Corbusier mit seinem Konzept vor allem wirtschaftliche Wohngebäude ermöglichen, die möglichst vielen Bewohnern einen hohen Komfort bieten: Wer in einer solchen Überbauung wohnt, braucht das Haus nicht zu verlassen, weil Läden, eine Wäscherei, ein Dachgarten, ein kleines Hotel, ein Kindergarten und Sportmöglichkeiten ebenfalls dort untergebracht sind. Insgesamt wurden fünf solcher „Unités d’Habitations“ realisiert. Obwohl etwa das Corbusierhaus in Berlin oder die Cité Radieuse in Marseille in den 50er-Jahren errichtet wurden, hatte Corbusier die Idee dazu bereits 1925 vorgestellt.

Rückblickend hat sich im Laufe der Zeit nur wenig an den Themen geändert, die den Ausschlag für kollektiv organisierte Wohnbauten geben. Noch immer ist es die Kritik an traditionellen Formen des Zusammenlebens, Wirtschaftlichkeit und angespannte Lage auf dem Wohnungsmarkt. In den letzten Jahren ist ein ressourcenschonender Lebensstil hinzugekommen. Beispielsweise müssen sich Kalkbreitebewohner verpflichten, kein Auto zu fahren.

Doch nicht für jeden?

Auch wenn die Ausstellung nahe legt, dass derartige Überbauungen umweltfreundlicher, günstiger und allgemein besser auf die Herausforderungen des urbanen Alltags reagieren, bleiben einige Fragen unbeantwortet. Will, wer den ganzen Tag im Grossraumbüro sitzt, jeden Abend die Küche mit anderen teilen? Genügt eine winzige Wohnung, wenn sich in gewissen Berufen Arbeit und Freizeit wegen Homeoffice zunehmend schlechter trennen lassen? Gibt es mehr Konflikte, wenn sich mehr Menschen mehr Raum teilen? Aber vielleicht regt die dennoch sehenswerte Ausstellung ja gerade deswegen zum Nachdenken an. (Silva Maier)

Together - Die neue Architektur der Gemeinschaft bis 10. September
Vitra-Design-Museum; Weil am Rhein D
Öffnungszeiten: Täglich 10 bis 18 Uhr
Weitere Informationen: www.design-museum.de

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