Studie: Zersiedlung weltweit um 95 Prozent gewachsen
Die Zersiedelung schreitet voran: Sie hat in den Jahren 1990 bis 2014 weltweit um 95 Prozent zugenommen. Dies geht aus der Studie eines kanadisch-deutschen Wissenschaftsteams hervor. Am stärksten machte sie sich in Europa bemerkbar.
Quelle: Patrick Perkins, Unsplash
Besonders deutlich wirkt sich die Zersiedlung in hoch entwickelten Ländern aus, respektive in Europa, Nordamerika und Australien. (Im Bild: Chicago)
„Mit Blick auf die starke Urbanisierung in Ländern wie China und Indien hatten wir angenommen, dass die Zersiedelung in Europa sehr viel geringer ausfallen würde als zum Beispiel in den ostasiatischen Regionen und auch weniger stark als in Nordamerika. Unsere Ergebnisse haben diese Hypothese jedoch nicht bestätigt“, sagt Martin Behnisch, Erstautor der Studie, vom Leibniz-Instituts für ökologische Raumentwicklung (IÖR) in Dresden. Neben dem IÖR hat sich auch die Concordia University von Montréal an der Studie beteiligt.
Muster der Zersiedlung vergleichen
Mit der Studie sind laut Medienmitteilung erstmals Ausmass und Entwicklung der Zersiedlung weltweit flächendeckend und vergleichend untersucht worden. Möglich machten dies neue, satellitenbasierte Datensätze zur weltweiten Besiedlung: „Für unsere Studie konnten wir auf einen Datensatz zurückgreifen, der Daten zur Bebauung und zur Bevölkerungsverteilung weltweit seit 1975 abbildet“, führt Studienmitautor Tobias Krüger aus. „Erst durch diese rückwirkende Fortschreibung der Daten ist es möglich, die zeitlichen Veränderungen der Zersiedelung auf dem gesamten Planeten zu analysieren.“
Im Zentrum der Studie standen verschiedene Fragen: Wie gross
ist das Ausmass der Zersiedelung weltweit? Wie hat sich die Zersiedelung
zwischen 1990 und 2014 verändert? Welche Hotspots und Trends lassen sich
ausmachen?
Die Wissenschaftler berechneten die Zersiedelung für fünf verschiedene räumliche Einheiten: für Kontinente, Regionen nach dem UN-Geoschema, Nationalstaaten, spezifische Regionen innerhalb vom Ländern wie Provinzen oder Bundesstaaten und für ein regelmässsiges Raster mit Zellen von jeweils 50 x 50 Quadratkilometern. Im Gegensatz zu früheren Studien konnten sie Muster der Zersiedelung von groben bis hin zu sehr feinen Massstäben vergleichen.
Wie misst man Zersiedlung?
In das Mass der Zersiedelung, das den Analysen zugrunde liegt, fliessen mit dem Anteil der bebauten Flächen an einem Gebiet, der Streuung der Bebauung und der Siedlungsdichte drei verschiedene Komponenten ein. Sie zeigen, wie Landschaft durch die Ausweitung von menschlichen Siedlungsbereichen beeinträchtigt wird. Hinzu kam in der Studie ausserdem ein Mass, das Aussagen dazu ermöglicht, wie stark jeder einzelne Mensch durchschnittlich zur Zersiedelung beiträgt, indem er Fläche beansprucht. (mgt/mai)
Leiden attraktive Tourismusregionen?
„Insgesamt sind unsere Ergebnisse besorgniserregend, denn weltweit setzt sich der Trend zu einer immer stärkeren Zersiedelung und nicht-nachhaltigen Entwicklung fort“, meint Jochen Jaeger, Mitautor von der Concordia University. So konnten die Forscher für viele Teile der Welt belegen, dass die Zersiedelung vor allem in Ballungsräumen weiter steigt, zum Beispiel durch die Zunahme einer weitläufigen, wenig dichten Bebauung an der Peripherie von Grossstädten. Der Trend zur Zersiedelung zeigte sich auch in vielen touristisch attraktiven Küstenregionen: Dies gilt unter anderem für das Gebiet entlang der französischen Riviera.
In Bezug auf die Pro-Kopf-Werte der Zersiedlung weisen Nordamerika, Australien und Europa gemäss Studie die mit Abstand höchsten Werte auf. Nur in wenigen Regionen der Welt stellten die Autoren ein Rückgang der Zersiedelung fest: Von einer Trendwende zum sparsameren Umgang mit Flächen lasse sich keineswegs sprechen, schreiben sie. So sei zum Beispiel die Pro-Kopf-Zersiedelung in Ozeanien – Australien mit eingerechnet - seit 1990 leicht rückläufig, doch liege sie dort nach wie vor auf einem sehr hohen Niveau.
Hoch entwickelte Länder, starke Zersiedlung
Des Weiteren bereiten den Wissenschaftlern die Studienergebnisse mit der Relation zwischen Niveau der menschlichen Entwicklung und dem Ausmass der Zersiedelung.
Um zu überprüfen, ob sich beide bedingen, bezog das Team den
sogenannten Human Development Index (HDI) der Vereinten Nationen in seine
Untersuchungen mit ein. Der HDI bemisst den Grad der Entwicklung eines Landes
unter anderem anhand der Lebenserwartung, der Schulbildung seiner Bevölkerung und
anhand des Bruttonationaleinkommens pro Kopf.
Quelle: Copyright: [M. Behnisch et al.], PLOS Sustainability and Transformation, 2022, CC-BY 4.0
Karte und Tabelle zeigen den Zusammenhang zwischen dem Index der menschlichen Entwicklung (HDI) und dem Grad der Zersiedelung (WUPp) auf der Ebene subnationaler Einheiten (wie Bundesstaaten, Provinzen etc.).
Wie die Wissenschaftler vermutet hatten, zeigte sich ein deutlicher Zusammenhang: Am stärksten von Zersiedlung betroffen waren die höchstentwickelten Länder. So zeigen die Ergebnisse, dass 30 Prozent der OECD-Staaten von einer hohen Zersiedelung und fast 90 Prozent von einer hohen Pro-Kopf-Zersiedelung geprägt sind. „Wenn man bedenkt, dass in Weltregionen wie Afrika und Asien eine Entwicklung, wie sie hochindustrialisierte Länder bereits durchlaufen haben, noch ansteht, wird deutlich, vor welcher enormen Herausforderung wir mit Blick auf die Begrenzung des Flächenverbrauchs stehen“, so Behnisch.
Wirksame Steuerungsinstrumente gesucht
Für eine nachhaltigere Zukunft ist es laut den Studienautoren wichtig, ein besseres Gleichgewicht zwischen hoher Lebensqualität und sparsamem Umgang mit Fläche zu finden. Planungssysteme, Vorschriften und Massnahmen, wie es sie in Industrieländern seit langem gibt, konnten die Zersiedelung bisher nicht stoppen. Hier, so die Wissenschaftler, brauche es dringend weitere vergleichende Studien über wirksame Instrumente zur Steuerung der Siedlungsentwicklung, für welche die vorgelegten globalen Ergebnisse einen geeigneten Ausgangspunkt bilden könnten.
Als Ironie der menschlichen Entwicklung der vergangenen Jahrzehnte bezeichnen die Forscher die Tatsache, dass je mehr Wissen und Planungskapazitäten in verschiedenen Ländern bereitstehen, es umso häufiger dennoch zu einer starken Landschaftszersiedelung kommt: Nachhaltigkeit in der Siedlungsentwicklung erfordere eine grundlegende Transformation der bestehenden Planungspraxis. (mai/mgt)
Die Studienergebnisse wurden im Fachjournal „PLOS Sustainability and Transformation“ veröffentlicht:
Behnisch, Martin; Krüger, Tobias;
Jaeger, Jochen A. G.: Rapid rise in urban sprawl: Global hotspots and
trends since 1990. In: PLOS Sustainability and Transformation 1(11),
2022: e0000034.
https://doi.org/10.1371/journal.pstr.0000034