Strassenbauingenieure sind «bedrohte Art»
Müsste man das heutige Schweizer Strassennetz komplett und in der selben Ausdehnung neu erstellen, wären dafür 174 Milliarden Franken nötig. Obwohl Strassen für prosperierende Wirtschaft unerlässlich sind, vernachlässigen die Schweizer Hoch- und Fachhochschulen die Ausbildung von Strassenbauingenieuren.
Quelle: Bernhard Schweizer
Die Schweiz verliert langsam die Kompetenz im Strassenbau
Das schweizerische Strassennetz mit einer Gesamtlänge von rund 71000 Kilometern ist eine äusserst wertvolle und lebenswichtige Infrastruktur für unser Land. Es ist eines der dichtesten der Welt und begründet einen wesentlichen Teil unserer Standortqualität. Die Geschichte zeigt, dass Strassen schon immer der Motor von wirtschaftlicher Prosperität und gesellschaftlicher Entwicklung waren. Müsste man die bestehenden National-, Kantons- und Gemeindestrassen heute nochmals genau gleich bauen, wären 174 Milliarden Franken dafür nötig. Würden Sie einen so kostbaren «Motor» einfach sich selbst überlassen, mit dem Service zuwarten, bis es irgendwo zu klemmen beginnt und nur ab und zu einen Tropfen Öl investieren?
Für die Netzvollendung und -erweiterung werden auch in Zukunft bedeutende Geldmittel in die Bauwirtschaft fliessen. Doch nur schon, um die Funktionstüchtigkeit und die Gebrauchstauglichkeit unserer bestehenden Strassen aufrecht zu erhalten, müssten jährlich gut zwei Prozent des Wiederbeschaffungswerts aufgewendet werden – so der Erfahrungswert. Mit einem Investitionsvolumen von etwa 3,5 Milliarden Franken pro Jahr ist also der bestanderhaltende Strassenbau alleine schon ein beachtlicher Markt. Und wir sprechen hier nicht vom Planen und Lenken des Verkehrs, sondern vom Handwerk und Know-how der Projektierung funktionierender Strassenanlagen mit sicheren und leistungsfähigen Knoten und der Bemessung und Konstruktion des Strassenkörpers.
Dass der Strassenbau weit mehr umfasst als die staubfreie Abtragung von Radlasten in den Untergrund, zeigen die mit diesem Fachgebiet eng verknüpften Themen wie Verkehrssicherheit, Lärmschutz, ressourcenschonende Erneuerungsmethoden sowie volkswirtschaftlich optimierter und gegenüber der Umwelt vertretbarer Verkehrsfluss. Zudem fordern immer höhere Ansprüche von Umwelt, Raumplanung und Mobilität einen Standard, der nur mit Innovation und neuen Methoden erreicht werden kann.
Unverständliche Aufhebung
Unverständlich also, dass die ETH Zürich die verwaiste Professur Strassenverkehr/Strassenbau nun definitiv aufhebt und stattdessen eine Führungsperson für eine befristete Forschungsgruppe Strassenverkehrstechnik zur Erarbeitung von Berechnungsverfahren für Verkehrssteuerung und Verkehrslenkung einsetzen will. An der Schwesteranstalt in Lausanne (EPFL) ist noch ein Professor für Strassenbau im Amt und betreibt sogar ein Labor, aber auch seine bald anstehende Nachfolge ist völlig ungewiss.
Landesweit gelangen derweil die Strassen ans Ende ihrer Lebenserwartung und unter den ohnehin schon zu wenigen Bauingenieuren ist die Zahl derer, die sich im Strassenbau auskennen, schwindend. Veranstalter von Seminaren und Fachtagungen versuchen seit Längerem einzuspringen, um das Wissens- und Erfahrungsvakuum zu schliessen. Betrachtet man allerdings die Herkunft der Referenten, so sind immer weniger schweizerische Kapazitäten in der Disziplin Strassenbau anzutreffen.
Ein Themenfeld für die Fachhochschulen denkt man also. Doch an der Infra-Tagung 2010 in Luzern hat der Strassenbaufachmann Ivan Scazziga in seinem Referat eindrücklich aufgezeigt, dass auch dort der Strassenbau nur ein Schattendasein fristet. Einzig in Burgdorf gibt es noch eine eigenständige Strassenbau-Lehrveranstaltung. Allerdings wird diese nach der nahenden Pensionierung von Hansjörg Frey eingestellt und der Strassenbau wird ins Fach Verkehrsplanung integriert. Strassenbau-Forschung sucht man vergebens in der Fachhochschullandschaft.
Forschungsfeld mit Potenzial
Dabei würde sich gerade der Strassenbau mit seinem Prototypen-Charakter und den unterschiedlichen Anforderungen von Topografie, Geologie und wechselnden Klimabedingungen, als Forschungsfeld mit Potenzial aufdrängen. Seit dem AASHO road test von 1961, auf dem heute noch fast alle Dimensionierungsnormen basieren, hat es doch Innovationen ausserhalb des konkreten Strassenbaus gegeben, deren Integration in den Strassenoberbau völlig neue Lösungsansätze bedeuten könnten.
Längst ist zum Beispiel erkannt, dass die Eigenschaften einer Strasse von Belagstechnologie und Geokunststoffen beeinflusst werden können. Doch wenn dieses Wissen in unserem Land nicht vertieft und verbreitet wird, werden wir es von anderen Ländern, deren Strassen vielleicht nicht einmal denselben Bedingungen wie die unseren unterliegen, übernehmen müssen. Dadurch verpassen wir die Möglichkeit, unsere Strasseninfrastruktur optimal unseren Bedürfnissen anzupassen.
Erfreulich hingegen ist, dass der Strassenbauernachwuchs in den Bauunternehmungen ungebremst zunimmt und so das handwerkliche Wissen nicht verloren geht. An der Berufsfachschule Verkehrswegebauer in Sursee hat die Zahl der Neueintritte in den letzten zehn Jahren um 260 Prozent zugenommen. Heute sind über 1000 Lernende in 54 Klassen daran, sich für den Erhalt unserer Verkehrsinfrastruktur das nötige Rüstzeug zu holen. Die Durchlässigkeit des Bildungssystems erlaubt es vielen von ihnen, sich durch Weiterbildung zu zukünftigen Fachhochschul-Ingenieuren zu entwickeln. Der Wille zu diesem Schritt könnte durch ein an das Praxiswissen anknüpfendes Lehrangebot im Ingenieurstudium gefördert werden.
Ernüchternde Antwort des Bundes
Die Konferenz der Kantonsingenieure (KIK) hat in einem offenen Brief an die Herren Bundesräte Burkhalter und Leuenberger am 12. Januar ihre grosse Sorge betreffend des fehlenden Nachwuchses im Bauingenieurwesen im Allgemeinen und im Strassenbau im Speziellen kundgetan, mit der Bitte, den Entscheid über den Verzicht einer Strassenbauprofessur an der ETH nochmals zu überdenken.
Die Schweizerische Bau-, Planungs- und Umweltdirektoren-Konferenz (BPUK) und die Konferenz der kantonalen Direktoren des öffentlichen Verkehrs (KöV) haben im Februar nachgedoppelt. Die Antwort war ernüchternd (siehe «Hintergrund»). Beachtet man jedoch das oben dargelegte grosse Angebot an praxisgeübten und erfahrenen Strassenbauenden, sollten sich die Fachhochschulen nun ernsthaft darum bemühen, die nötigen Ausbildungsgänge zu schaffen, um die Nachfrage der Wirtschaft und der Strasseneigentümer nach Strassenbauingenieuren künftig wenigstens teilweise befriedigen zu können.
Der Beirat des Departements Architektur, Holz und Bau der Berner Fachhochschule hat dieses Thema in seiner Sitzung im März bereits aufgegriffen. Die Abteilung Bau mit ihrem Forschungsschwerpunkt Geotechnik und einem eigenen Labor in Burgdorf würde eigentlich die Voraussetzungen erfüllen, um zum neuen Wissens- und Forschungszentrum für Strassenbauingenieure in der Schweiz zu werden. Bleibt zu hoffen, dass auch andere Hochschulen die Zeichen der Zeit erkennen und der Schweiz eine Zukunft mit einem funktionierenden, sicheren und langlebigen Strassennetz ermöglichen.
Oliver Jacobi
Oliver Jacobi (42) ist seit 1996 diplomierter Bauingenieur ETH und hat seine Diplomarbeit im Strassenbau verfasst. 2004 erwarb er das Diplom als Wirtschaftsingenieur FH mit Vertiefungsrichtung Unternehmensführung und Diplomarbeit in Business Exellence. Jacobi war einerseits in der Forschung am IVT der ETH Zürich tätig, anderseits als Strassenbaupraktiker in verschiedenen Funktionen vom Bauführer bis zum Abteilungsleiter Strassenbau einer grossen Bauunternehmung. Seit 2009 ist er Kantonsingenieur und Leiter des Tiefbauamtes des Kantons Basel-Landschaft. Für den Bauingenieurnachwuchs setzt sich Oliver Jacobi seit 2001 ein. Bis 2008 war er Prüfungsexperte am «Tech Burgdorf» und seit 2007 Beirat der Berner Fachhochschule, Departement Architektur, Holz und Bau. (md)
Hintergrund
Die ETH Zürich und das Departement Bau, Umwelt und Geomatik haben bereits 2002 beschlossen, den damals vakanten Lehrstuhl für Strassenverkehr und Strassenbau nicht mehr zu besetzen. Dies geht aus einem Brief von Bundesrat Didier Burkhalter an die Konferenz der Bau-, Planungs- und Umweltdirektoren (BPUK) hervor. Stattdessen wurde ein Lehrstuhl für integrierte Transportsysteme geschaffen, der heute von Professor Ulrich Weidmann gehalten wird.
Wie Burkhalter in seinem Schreiben erläutert, geschah diese Schwerpunktverschiebung auf Wunsch des «Gesetzgebers», sprich, der Eidgenössischen Räte, die im ETH-Gesetz von den Technischen Hochschulen in Lausanne und Zürich eine stärkere Koordination bei der Besetzung ihrer Lehrstühle forderten. Da an der EPF Lausanne bereits ein Lehrstuhl für Strassenbau mit angegliedertem Labor existiert, musste die ETH Zürich im Namen der Koordination auf ihren eigenen Strassenverkehrs-Lehrstuhl verzichten. Die Entscheidung wurde 2009 bestätigt, als das Departement Bau, Umwelt und Geomatik nochmals und gegen den Antrag des betroffenen Instituts für Verkehrsplanung und Transportsysteme (IVT) entschied, «längerfristig auf eine eigene Strassenverkehrsprofessur zu verzichten».
Seit 2002 existiert am IVT in Zürich lediglich ein Fachbereich Individualverkehr, wo zwei Titularprofessoren (also ohne eigenen Lehrstuhl und dazugehörigem Budget) Lehre und Forschung im Strassenbau pflegen. Nach der Pensionierung der beiden Lehrkräfte im kommenden Jahr soll am IVT eine Forschungsgruppe Strassenverkehrstechnik geschaffen werden, wie aus einem Brief des IVT an die Konferenz der Kantonsingenieure (KKI) hervorgeht. Die Stelle des Leiters der Forschungsgruppe soll dieses Jahr ausgeschrieben werden. Die IVT-Leitung gibt sich im Brief überzeugt, dass sie damit ihren Beitrag zur Weiterentwicklung der Strassenverkehrstechnik zu leisten vermag. (md)