Sind mehr ÖV und dichtere Städte doch keine Lösung?
Den Ausbau des ÖV und die Verdichtung der Städte betrachtet Vincent Kaufmann – Professor für Stadtsoziologie und Mobilitätsanalyse an der ETH Lausanne – mit kritischem Blick. In einem Interview in der aktuellen Ausgabe der „Neuen Zürcher Zeitung“ rät er zu mehr Bedacht bei der Planung von Verkehrsprojekten und äussert seine Skepsis gegenüber „der Absolutheit der nachhaltigen Stadt“.
In der Schweiz sind neun von zehn Erwerbstätigen Pendler. Davon benutzt über die Hälfte für den Arbeitsweg nicht S-Bahn, Bus und Co. sondern das Auto. Dies zeigen vor Kurzem veröffentlichte Zahlen aus dem Jahr 2011 des Bundesamtes für Statistik. Dennoch ist die Anzahl der Menschen, die per ÖV an ihren Arbeitsplatz fahren, im Vergleich zum Jahr 2000 angestiegen, von 26 auf 29 Prozent. Zunehmend überfüllte Züge während der Rushhour zeugen von diesem Trend. Soll nun der Ausbau der Verkehrswege weiter vorangetrieben und weiter in Transportmittel investiert werden? Professor Vincent Kaufmann, Professor für Stadtsoziologie und Mobilitätsanalyse an der ETH Lausanne, rät in einem Interview in der „Neuen Zürcher Zeitung“ dazu, den Ausbau des Verkehrs mit mehr Bedacht anzugehen und mögliche Auswirkungen zu bedenken.
„Erst haben wir die Autobahnen gebaut, und jetzt bauen wir die Eisenbahnen aus. Wir machen unser Land noch kleiner, als es ohnehin schon ist“, kritisiert er. Vor allem die Beschleunigung und er Angebotsausbau bei der Bahn hätten zu langen Pendlerdistanzen geführt. Daneben weist er darauf hin, dass die einzelnen Agglomerationen „die Städte von heute“ sind. In diesen Räumen werde gependelt. Die Frage sei, ob man über sie hinaus pendeln solle. Hier seien die Verkehrwege ein zentrales Instrument der Steuerung. Viele Kantone hätten das erkannt, auf Bundesebene sei man aber nicht so weit. „Es gibt niemanden, der den weiteren Ausbau der Bahn darauf überprüft, ob er von einer übergeordneten Warte aus erwünscht ist.“ Als ein in diesem Zusammenhang gutes Beispiel führt er die Stadt Zürich an: Ihm scheine der Ansatz wegweisend, den man dort mittelfristig für die Weiterentwicklung der S-Bahn wähle. Hier werde vor allem im inneren Kreis der Agglomeration ausgebaut, dort wo die bauliche Dichte hoch sei.
Der „Grill-Effekt“
Kritisch sieht er auch die bauliche Verdichtung. Man solle dort verdichten, wo die bauliche Dichte hoch und die Akzeptanz gross sei. „Die Kernstädte haben eine grosse Verantwortung.“ Sie sollten vermehrt wieder über ihre Grenzen hinaus denken, anstatt sich zunehmend abzuschotten. Indem sie etwa den Autoverkehr immer mehr beschränkten, vergrösserten sie die Belastung durch ihn im ersten Agglomerationsgürtel. Dadurch sinke die Attraktivität dieser Vororte, es bestehe das Risiko der Ghettobildung und die Menschen würden noch weiter hinaus ziehen.
Skepsis zeigt er auch gegenüber „der Absolutheit des Modells von der nachhaltigen Stadt“ und weist auf eine Untersuchung der ETH Lausanne hin, bei der sich zeigte, dass Menschen mit Auto und Haus ökologisch nicht schlechter und teilweise gar besser abschneiden als Städter. „Wir nannten es den Grill-Effekt: Wer weniger dicht wohnt, bleibt am Wochenende eher zu Hause.“ Das sei von Bedeutung in einer Zeit, in der der Freizeitverkehr relativ den grössten Teil der Mobiliät ausmache. (mai)
Das Interview finden Sie hier: www.nzz.ch