Projekt «Neighbours»: Schweizer Pavillon an der Architekturbiennale 2023
Die Architekturbiennale startet am 20. Mai. Karin Sander und Philip Ursprung haben dafür das Projekt «Neighbours» entworfen. Darin zeigen die beiden Pavillons der Schweiz von Giacometti und von Scarpa aus Venezuela in ihrer unmittelbaren Nachbarschaft. Es gibt viele Details, die zeigen, wie Scarpa unmittelbar auf den Entwurf von Giacometti reagierte und in seinem Gebäude fortführte. Der utopische Moment besteht darin, eine Biennale ohne Grenzen zu imaginieren, welche ihrerseits politische Differenzen überwinden soll. Karin Sander und Philip Ursprung zielen letztlich auf eine Veränderung der Ausstellungskultur ab.
Quelle: Martin Lauffer
Gesamtansicht des Schweizer Pavillons mit den entfernten Gittern.
Zwei nationale Pavillons und eine zugleich verbindende wie trennende Mauer stehen im Zentrum Ihres Projektes «Neighbours». Wird man einfach eine Mauer oder Mauern sehen?
Karin Sander: Oder keine Mauern? Andere Mauern? Wir tragen eine Mauer ab und öffnen den Schweizer Pavillon zu seinem Nachbarn hin. Wir zeigen die beiden Pavillons der Schweiz und Venezuela in ihrer unmittelbaren Nachbarschaft und die ineinander übergehenden Aussenbereiche. Diese beiden Pavillons – und das ist einzigartig in den Giardini –, bilden ein Ensemble von skulpturaler und architektonischer Qualität, obgleich sich beide auf Grund ihrer Funktion als Nationalpavillons auf der Biennale immer getrennt präsentieren. Uns interessieren die beiden Gebäude, der Schweizer Pavillon von Bruno Giacometti (1952) und die unmittelbar darauffolgende Antwort seines Kollegen Carlo Scarpa für den Venezolanischen Pavillon (1954), ihre offensichtlich miteinander verbundenen Grundrisse, die in unserer Ausstellung «Neighbours» sichtbar werden. Die Ziegelsteine aus der abgetragenen Mauer werden zu «Sitzmauern» umgebaut.
Ihr Projekt «Neighbours» zeigt die räumliche und bauliche Nähe des Schweizer Pavillons zu seinem venezolanischen Nachbarn sowie die berufliche Verbundenheit der beiden Architekten, dem Schweizer Bruno Giacometti und dem Italiener Carlo Scarpa. Wie zeigen Sie diese Verbundenheit?
Karin Sander: Wir zeigen die Originalzeichnungen, also die Entwürfe für die beiden Pavillons von Scarpa und Giacometi im Masstab 1:3,75 im grossen Malersaal als grossen Teppich, den die Besucher betreten und die Ausstellung als Ganzes überblicken können.
Der Schweizer und der venezolanische Pavillon bilden ein Ensemble von architektonischer und skulpturaler Qualität. Können Sie ein paar Beispiele nennen?
Philip Ursprung: Der Schweizer Pavillon war fertig, bevor Giacometti wissen konnte, wer der Nachbar sein würde. Scarpa war ein Architekt, der stets vom Kontext aus entwarf. Er zeichnete den Schweizer Pavillon und zog Verbindungslinien zu den anderen Pavillons in den Giardini. Weil die Parzelle sehr klein war, nutzte er die bestehende Gartenmauer, um den Eingang zum Venezuelanischen Pavillon zu rahmen. Statt Ziegeln nutzte er Sichtbeton, ein bewusster Kontrast. Giacomettis überdeckten Säulengang führte er quasi fort. Selbst bei den Massen der Mauern gibt es Korrespondenzen.
Karin Sander: Es gibt eine besondere Stelle, wo sich die Mauern der beiden Pavillons begegnen und wie aneinanderschmiegen. Sie berühren sich kaum und dabei schieben sie sich fast übereinander. So gibt es viele Details, die zeigen, wie Scarpa unmittelbar auf den Entwurf von Giacometti reagierte und ihn in seinem Gebäude fortführte. Dazuhin setzt er den venezolanischen Pavillon wie eine Skulptur auf einen erhöhten Sockel, umgeben von einem Fundamentgraben.
Quelle: Saskja Rosset
Philip Ursprung und Karin Sander, die das Konzept «Neighbours» für die Architekturbiennale 2023 entwickelt haben.
Dennoch werden sie aufgrund ihrer repräsentativen Funktion getrennt gedacht und entsprechend bespielt.
Karin Sander: Die nationalen Pavillons in den Giardini sind Orte der internationalen Begegnung, und der politischen Neutralität. Hier begegnen sich Menschen aus aller Welt, soziale, politische und kulturelle Unterschiede, geografische Entfernungen treten für einen Moment in den Hintergrund. Es eröffnet sich hier eine weltpolitische Perspektive, und so werden entfernte Regionen wie die Schweiz und Venezuela zu Nachbarn, was durch die ineinander verschränkten Grundrisse der beiden Architekten noch einmal besonders herausgestellt wird.
Philip Ursprung: Der Boden gehört Venedig und wird den diversen Nationen jeweils für einen symbolischen Betrag vermietet. Sie unterstehen den Gesetzen von Venedig und Italien. Fast alle haben eine Flagge, aber es sind keine Botschaften. Dennoch zeugen sie vom friedlichen Wettstreit der Nationen, wie die Olympiade, die gleichzeitig mit der Biennale Ende des 19. Jahrhunderts gegründet wurde.
Wo ist die politische Ebene?
Karin Sander: Wir denken die Funktionen der beiden Pavillons und ihren Umraum in den Giardini weiter, wir schaffen neue Sichtachsen, lösen ihre räumliche Trennung mit künstlerischen Mitteln auf.
Können Sie dies ausführen?
Karin Sander: Indem wir den Schweizer Pavillon zu seinem Nachbarn hin öffnen, wir tragen eine Wand ab, und so hinterfragen wir sowohl die räumliche, kulturelle und politische Abgrenzung als auch Konventionen nationaler Repräsentation, die immer auch wieder durch die eingeladenen Teams in Frage gestellt wird.
Philip Ursprung: Auf politischer Ebene ist der Dialog derzeit nicht möglich. Pro Helvetia darf offiziell nicht mit dem Venezuelanischen Ministerium kommunizieren. Die Ausstellung ist deshalb keine Kooperation. Inoffiziell waren wir mit den Kuratoren des Nachbarpavillons in Kontakt. Wir reisten nach Venezuela, um die dortige Situation zumindest ein bisschen besser zu verstehen. Im Buch lassen wir die beiden Pavillons miteinander sprechen und lassen diverse Stimmen aus Venezuela zu Wort kommen.
Quelle: Martin Lauffer
Aussenbereich des venezolanischen Pavillons mit den sich aneinanderschmiegenden Mauern der beiden benachbarten Pavillons.
Wie muss man sich diese Abläufe des Hinterfragens vorstellen?
Karin Sander: Indem man sich den Abläufen vor Ort, der Choreografie stellt und die Ausstellung besucht. Wir wollen, dass die Besucherinnen und Besucher die Ausstellung vor Ort erleben und nicht erlesen. In einer utopischen Geste stellen wir dem Ort eine poetische Wirklichkeit gegenüber, die für einen Moment einer neuen Sichtweise Raum gibt.
Philip Ursprung: Wir öffnen eine Mauer und entfernen die Gitter. Wie zeigen die vereinigten Grundrisse. Diese Geste ist symbolisch, denn dadurch fallen die realen Grenzen ja nicht weg. Das utopische Moment besteht darin, eine Biennale ohne Grenzen zu imaginieren, welche ihrerseits politische Differenzen überwinden könnte.
Inwiefern passt Ihr Konzept ins übergeordnete Konzept der Architekturbiennale 2023?
Karin Sander: Alle Pavillons verstehen sich als Labor der Zukunft, in denen etwas ausprobiert und ausgestellt wird, so auch unser Konzept. Ich freue mich auf diese Nachbarschaft.
Philip Ursprung: Teil unserer Ausstellung ist ein Manifest. Darin schreiben wir, dass die Konkurrenz der Länderpavillons ein Anachronismus sei und dass Pavillons, wie wir alle, einander vermehrt Sorge tragen müssen. Wir zielen auf eine Veränderung der Ausstellungskultur.
Das Projekt «Neighbours»
Karin Sander und Philip Ursprung vertreten die Schweiz an der 18. Internationalen Architekturausstellung – La Biennale di Venezia. Zwei nationale Pavillons und eine zugleich verbindende wie trennende Mauer stehen im Zentrum des Projektes «Neighbours» von Karin Sander und Philip Ursprung für die Architekturbiennale 2023. Indem sie die Architektur selbst zum Exponat machen, eröffnen die Künstlerin und der Architekturhistoriker dem Publikum neue Perspektiven auf die territorialen Beziehungen innerhalb der Giardini della Biennale.
Architekturbiennale 2023: Wann und wo
Kommissärin: Schweizer Kulturstiftung Pro Helvetia
Sandi Paucic, Projektleiter, Rachele Giudici Legittimo, Projektmanagerin
Eröffnung des Pavillons: Donnerstag, 18. Mai 2023 um 14 Uhr 45
Ausstellung: 20. Mai bis 26. November 2023
Ort: Schweizer Pavillon, Giardini della Biennale di Venezia