Platanenwürfel
Ein konstruierter, begehbarer Baum oder ein architektonisches Bau(m)werk, das je nach Jahreszeit sein Gesicht verändert? Was die Besucher der Landesgartenschau in Baden-Württemberg 2012 erwartet, ist ein sinnlicher, meditativer Ort an der Grenze von Natur und Architektur. Bis zum nächsten Jahr, muss der pflanzliche Kubus aber vor allem eins: kräftig wachsen.
Das Baufeld in Nagold, Baden-Württemberg, ist mit Fundamenten vorbereitet, auch die 800 Platanen harren «als vorkultivierte Fertigteile» auf ihren Einsatz. Im Juni soll es losgehen, «dann bauen wir die knapp drei Meter langen Pflanzen nach unseren Plänen zusammen.» Architekt Ferdinand Ludwig ist Mitglied des Forschungsgebiets Baubotanik, das 2007 am Institut «Grundlagen Moderner Architektur und Entwerfen» der Universität Stuttgart gegründet wurde. In interdisziplinären Arbeitsteams aus Naturwissenschaftlern, Ingenieuren, Geisteswissenschaftlern und Architekten werden hier Forschungsthemen mit botanischem, tragwerksplanerischem und kulturtheoretischem Schwerpunkt bearbeitet.
Steht der Platanenkubus in ein paar Wochen, ist das bislang grösste lebende Gebäude errichtet, bei dem alle verwendeten Pflanzen zu einem einzigen Organismus verwachsen: Zehn mal zehn Meter misst die Grundfläche, und auch in der Höhe wird es ein zweistöckiges Bürogebäude überragen. Die geometrische Form weist das «Baum-Haus» als artifizielles Bauwerk aus, ebenso das technische Stahlgerüst, das die Pflanzen so lange stützt, bis die Stämme durch Dickenwachstum robust und belastbar sind. Als Ziel schwebt dem Architekten klar vor Augen: Die Platanen sollen später alle Lasten tragen und selbst als Gerüst für die eingezogenen Treppen und Besuchergalerien dienen. Mindestens zehn Jahre wird es aber noch dauern, dann haben sich die Pflanzenteile zu einer stabilen baulichen Struktur zusammengefügt.
Pflanzen können fusionieren
Das baubotanische Konstruktionsverfahren, das beim Platanenkubus zur Anwendung kommt, ist die Pflanzenaddition: Junge, in grossen Kübeln wurzelnde Pflanzen werden durch eine spezielle Methode, die an die jahrhundertealte Pfropf-Technik im Gartenbau erinnert, so miteinander verbunden und räumlich angeordnet, dass sie zu einer einheitlichen pflanzlichen Fachwerkstruktur verwachsen. Um dies zu erreichen, werden die Pflanzen miteinander verschraubt. Imitiert werden hier Bedingungen, unter denen auch in der Natur Verwachsungen entstehen, etwa wenn Wurzeln oder Äste sich zufällig berühren.
In laufenden Studien untersuchen die Architekten, Ingenieure und Botaniker um Ferdinand Ludwig verschiedene Verbindungsmethoden, unter anderem auch mit elastischen Bändern. «Hier muss man allerdings aufpassen: Die Bäume können leicht stranguliert werden.» Erforscht wird auch der Einfluss der Baumart auf das Verwachsungsergebnis: Dazu wurden zehn verbreitete Wald- und Parkbäume ausgewählt, die sich in ihren anatomischen Eigenschaften und ökologischen Verhaltensmustern unterscheiden. Platanen zeigen sich besonders verbindungsfreudig: Die einzelnen Pflanzen fusionieren zu einer physiologischen Einheit und gehen eine feste Holzverbindung ein, die als mechanisch belastbares Tragwerk brauchbar ist.
Das «Baum-Haus» als begehbarer Erlebnisraum
Während der Gartenschau wird der Platanenkubus zum sinnlich-räumlichen Erlebnis: Die Besucher können die zur Versorgung der Pflanzen eingezogenen Plattformen betreten und gleichsam hinter die Kulissen der baubotanischen Arbeiten blicken. Die technischen Einrichtungen zur lokalen Bewässerung und Düngung – Schläuche, Regler, Sensoren und Ventile – werden als erkennbares Konstruktionselement innerhalb eines architektonisch gestalteten Raums wahrgenommen – der gleichzeitig auch lebender Naturraum ist: Täglich wachsen die grünen Wände – jetzt noch aus ihren Pflanzenkübeln – ein Stückchen weiter in den Himmel. Dank des üppigen Austriebs aus der Stützenstruktur ergeben sich dichte, grüne Blätterwände, die den akustischen Trubel auf dem Veranstaltungsgelände dämpfen. Legt man den Kopf in den Nacken, blickt man in eine wogende Baumkrone, Licht fällt gebrochen ins Innere und bildet tanzende Schatten – eine Atmosphäre wie in einem natürlich gewachsenen Wald. Während der Giessintervalle ist ein regelmässiges Tropfen zu hören, als hätte es einen kurzen Schauer gegeben. «Normalerweise», sagt Ferdinand Ludwig, «blickt man von aussen auf einen Baum. Hier ist es umgekehrt: Man hat das Gefühl, in einem Baum zu sitzen, während man nach draussen blicken kann.»
Mit Baubotanik das Klima verbessern
Die sinnlichen Qualitäten machen auch die ökologischen Potentiale der Baubotanik unmittelbar spürbar: Durch die hohe Verdunstungsleistung der Blätter herrscht ein angenehmes, kühles Mikroklima. Und: Die Luft ist sauber, da die Platanen über ihre grossen Blattflächen Feinstaub in erheblichem Umfang binden können. «Durch die Pflanzenaddition», so Ludwig, «können in relativ kurzer Zeit botanische Strukturen geschaffen werden, die die ökologischen Kapazitäten Jahrzehnte alter Bäume aufweisen.» Zudem werden Platanen nicht nur sehr gross, sondern auch sehr alt. Ihre maximale Lebensdauer liegt bei 500 Jahren – ein Alter, das der kubische Platanen-Bau wohl nicht erreichen wird, « aus gärtnerischer Sicht sind die Punkte, an denen die Pflanzen mit technischen Elementen verwachsen, nicht immer ganz unproblematisch.» Ludwig geht aber von einer sicheren Lebensdauer um die 200 Jahre aus – der Durchschnittslebenszeit eines herkömmlichen Gebäudes aus Beton.
Als eine der wichtigsten Erkenntnisse, die Baubotaniker aus Anzuchtversuchen, langjährigen Pflanzenbeobachtungen und experimentellen Versuchsbauten gewonnen haben, ist die Einsicht, «dass botanische Entwicklungsprozesse eine Zwangsläufigkeit besitzen, die bereits im Entwurf eines baubotanischen Gebildes berücksichtigt werden muss.» Der Platanenkubus, als regelmässiger Würfel konzipiert, wird seine Gestalt im Laufe der Jahre durch Wachstumsprozesse jedoch verändern. Ferdinand Ludwig wagt eine Prognose: Die Geometrie der Pflanzenstruktur bleibt grundsätzlich erhalten, doch die Proportionen werden sich ändern. Verwachsen die Platanen zu einem dichten Geflecht, bildet sich oberhalb der baubotanischen Struktur eine Baumkrone aus, die den ursprünglich zum Himmel hin offenen Innenraum nach und nach schliessen wird. Gleichzeitig tritt im unteren Bereich die fachwerkartig ausgebildete knorrige Stammstruktur stärker hervor. Die verbliebenen technischen Elemente, etwa Treppen und Aussichtsplattformen, verwachsen fest mit den lebenden Konstruktionselementen. Diese angestrebte Teil-Verwilderung unterstützt den baumartigen Charakter des Gebildes.
Lebende Refugien im urbanen Raum
Für den Architekten Ludwig ist der Platanenkubus am besten als eine Fusion von Stadtbaum und Stadthaus zu beschreiben. Denn nach der Landesgartenschau bleibt das Pflanzen-Bauwerk in seinem urbanen Umfeld stehen: Umgeben von einer Reihe Stadtvillen, inmitten einer öffentlichen Grünfläche in Nagold, soll das baubotanische Haus als benutzbarer Naturraum – oder dreidimensionaler «Pocket-Park» – Erholung bieten. Waren die Baubotaniker in den letzten Jahren stark mit Grundlagenforschung beschäftigt, rücken momentan verstärkt Umsetzungsstrategien und Anwendungsmöglichkeiten in den Fokus. Im Zuge der weltweiten Urbanisierungstendenz scheint die Zukunft für die Baubotanik rosig: «Denn sie liefert die adäquate Technologie, um innerhalb kürzester Zeit in dicht bebauten Innenstädten und lärmenden, hektischen Metropolen grossvolumige Grünflächen auf kleinstem Raum zu schaffen, die unmittelbar nach baulicher Fertigstellung als lebende Refugien und grüne Lunge zur Verfügung stehen.» (Zitat Gerd de Bruyn, Institutsleiter «Grundlagen Moderner Architektur und Entwerfen» der Universität Stuttgart) Gerade in wild wuchernden asiatischen Mega-Citys mit ihren schlechten Umweltbedingungen könnte der künstliche Baum zum Strukturelement und positivem Lebensfaktor einer Stadt werden. Ferdinand Ludwig ist überzeugt: «Die Baubotanik ist die Zukunftsvision des Urbanen.» Denn dies sei ökologisches Bauen im eigentlichen Sinn.
von Alice Werner