09:11 BAUBRANCHE

Peter Amacher, Geologe: Im Bann der Gotthard-Kristalle

Geschrieben von: Simone Matthieu
Teaserbild-Quelle: smd

Peter Amacher ist Chef der Mineralienaufsicht des Kantons Uri. Zurzeit ist er auf der Baustelle des zweiten Gotthardstrassentunnels unterwegs und sucht mit seinem Team nach Sprengungen den Fels ab. Denn die Bauarbeiten könnten Kristallklüfte zum Vorschein bringen und damit funkelnde Schätze. Um sie aufzustöbern braucht es Glück und Erfahrung.

Peter Amacher im Büro zu Hause

Quelle: Simone Matthieu

Peter Amacher zeigt in seinem Büro ein besonderes Fundstück. Auch Hund Melk ist begeistert.

Warten. Das sei ein grosser Teil seiner Arbeit, sagt Peter Amacher. Der Chef Mineralienaufsicht des Kantons Uri steht gelassen seit ungefähr einer Stunde in eine Ecke gedrängt im so genannten Voreinschnitt. Das sind die ersten rund 400 Meter im Nordportal der zweiten Gotthard-Strassenröhre bei Göschenen. Bisher ist davon etwa die Hälfte geschafft. Amacher trägt seinen orangen Bauoverall und Helm, schaut den riesigen Baggern zu, wie sie Felsbrocken und Schutt von der Sprengung zuvor wegbringen – und achtet darauf, dass er ja nicht im Weg steht. «Die Bauarbeiter sind unter Druck und schauen nicht, ob noch jemand rumstolpert.» Ebenfalls im Voreinschnitt untergebracht wird der Betonmischer, weil das Gelände um die Einfahrt so knapp ist.

Es scheint alles ein wenig ungewiss an Amachers Arbeit. Schon der Termin mit dem Baublatt musste kurzfristig von einem Tag auf den nächsten abgemacht werden – je nachdem, wie weit die Sprengarbeiten vorangekommen sind und ob überhaupt eine Chance besteht, zu sehen, wofür wir gekommen sind: Anzeichen von Kristallklüften. Nach jeder Sprengung suchen Amacher und seine sechs Mitarbeiter danach. Sie aufzustöbern ist Glückssache. Und natürlich die Erfahrung, die der Urner nach über 50 Jahren als Strahlner vorweisen kann. (Anm. d. Red.: Im Kanton Uri nennen sich die Strahler Strahlner und ihre Tätigkeit Strahlnen statt Strahlen. Deshalb schreiben wir das in diesem Artikel im Urner Dialekt). Quarzbänder im Gestein zeigen ihm, wo vielleicht etwas zu entdecken sein könnte. 

Die Strahlner sind ein eigenes Völkchen: Amachers Mitarbeiter sind bei ihm eingestellt, weil sie Freude am Strahlnen haben. Finanziell gibt es ausser Spesen nichts zu holen für sie. Der grosse Teil der Arbeit wird nach dem Feierabend getan: Dann können sich die Strahlner in Ruhe an ihre Arbeit machen. Den Anzeichen nachgehen, ohne mit einem der massigen Fahrzeuge zu kollidieren. Vielleicht hat einer der Poliere auch schon einen Hinweis auf eine Kluft geben können, die sich gleich nach der Sprengung gezeigt hat, nachdem sich der allgegenwärtige Staub etwas gelegt hat.

Peter Amacher im Büro zu Hause1@s_matthieu

Quelle: Simone Matthieu

Peter Amacher in seinem Büro in Amsteg.

Amacher im Stollen8@s_matthieu

Quelle: Simone Matthieu

Nicht jeder Stollengang wird mit einem Fund belohnt. An diesem Tag war Amacher vergebens im Berg.

Strahlnen als 10-Jähriger

Peter Amacher ist Geologe, der 69-Jährige trägt ein rot-weisses Stirnband unter seiner blond-grauen Haarmähne. An den Ohren baumeln kleine goldene Creolen-Ohrringe – zehn Stück sind es. Er wohnt mit seiner Frau und seinem weissen Schweizer Schäferhund Melk (eigentlich Melchior) in einem Haus unter der Bahnbrücke in Amsteg. Sein Büro ist voll von verschiedenen Kristallen, den Glanzstücken seiner privaten Sammlung. Ein paar sind aus dem Stollen, viele vom Strahlnen in der Natur.  Wie ein Berg ist Amacher nicht aus seinem Gebiet zu versetzen: «Ich bleibe am liebsten in meiner Umgebung, auch in meinen Ferien. Strahlnen ist eine einsame Arbeit. Doch ich bin gerne da, wo ich niemandem Grüezi sagen muss.» Wenn man in den Bergen aufwachse, lebe man mit, in, auf oder von ihnen. «Du musst den Berg verstehen, sonst wirst du nicht alt.» Er war schon als 10-Jähriger mit seinem Onkel strahlnen.

Amacher empfindet seinen Job als Glück, als Privileg. Das ist er auch: Einen festangestellten Strahlner gibt es weltweit nur einmal. Strahlnen ist eigentlich ein Hobby. Die meisten Klüfte liegen nicht weit unter der Oberfläche des Bodens. Wichtige Aspekte, die Amacher beim Strahlnen in der Natur so gut tun, fehlen im Stollen: «Ich bewege mich gerne. Der Auf- und Abstieg ist für mich immer ein Erlebnis, ich beobachte die Umgebung, Pflanzen, Tiere.» Wenn er allein sei, unterhalte er sich sogar mit ihnen. Im Stollen herrscht das genaue Gegenteil: Statt Sonne der Schein von Baustellenlaternen. Statt frischer Bergluft Staub und Russ, statt Ruhe Lärm und Geschäftigkeit. Doch auch das fesselt Amacher, wie seine lange Amtszeit belegt. Süchtig sei er geworden, gesteht er. «Beim Bau der Neat war ich nach wenigen Tagen Ferien richtiggehend auf Entzug.» Er erzählt von Arbeitern, die ihr Leben lang im Stollen waren: «Das lässt einen nicht los.» Zudem könne man unter Tag auch im Winter und bei schlechtem Wetter auf Mineraliensuche gehen. Und die Qualität der Kristalle aus dem Tunnel sei ausserordentlich gut. Weil sie nicht an der Oberfläche gelegen haben, wo ihr Glanz durch den Kontakt mit Säure und Sauerstoff verloren gegangen wäre.

Himbeerroter Kristall aus Gotthard@smd

Quelle: smd

Glanzstück aus dem Gotthard-Tunnel: Ein Himbeerroter Pyrit auf Granit.

Zusammenarbeit mit Uni Genf

Ob am oder im Berg, etwas haben beide Arten des Strahlnens für Amacher gemeinsam: Das schöne Gefühl, als erster Mensch einen Millionen Jahre alten Kristall in den Händen zu halten. Als Geologe kann er an den Teilen deren Geschichte ablesen. «Bei diesem hier war die erste Kristallisationsphase vor rund 14,8 Millionen Jahren abgeschlossen», erklärt er dem Baublatt an einem Mineral. Ursprünglich habe das Stück in einer Tiefe von neun bis zwölf Kilometern gelegen, sei dann aber an die Oberfläche gepresst worden. Dies durch die Erdplattenbewegung vor Millionen von Jahren, als die afrikanische gegen die eurasische Platte stiess, und sich das Land zu den Alpen auffaltete. «Bald werden sie an der Uni Genf die zweite Kristallisationsphase bestimmen. Wir arbeiten mit ihnen zusammen, sie bestimmen unter anderem das Alter der Mineralien.»

Zurück zum Stollen: Nach einer Stunde Warten gibt Amacher auf. Leider konnte er dem Baublatt keinen neuen Fund präsentieren. Er wird später, am Abend, wenn aller Schutt von den Sprengungen ausgeräumt ist, nochmals nach Anzeichen auf Klüfte stöbern. Beim Bau der beiden Gotthardstrassentunnel sowie den dazugehörigen Service- und Infrastrukturstollen stiessen Amacher und sein Team auf 30 Kristallklüfte, darunter drei grosse. Mindestens 1100 Kontrollgänge haben er und seine Leute gemacht. 

Die Schätze des Kantons Uri

Alle Schätze aus dem Gotthardtunnel gehören dem Kanton Uri. Die Mineralien werden im historischen Schloss A Pro ausgestellt, einem Wasserschloss in Seedorf UR: Funde vom Bau des ersten Gotthard-Strassentunnels, der Neat oder der Kraftwerke Amsteg (Erneuerung) und Realp II. Und natürlich die Funde aus dem zweiten Gotthard-Strassentunnel. Bei all diesen Projekten – bis auf den ersten Gotthard-Strassentunnel – war Amacher Chef der Mineralienaufsicht. Auffällig ist die Farbe der Kristalle aus dem zweiten Gotthard-Strassentunnel: Amacher definiert sie als Himbeerrot. Ein ziemlich grosser Oktaeder in Himbeerrot ziert ein Stück Granit. Es ist einer von Amachers Lieblingsfunden. So etwas habe er in fünfzig Jahren nicht entdeckt.

Die Tätigkeit des Urners hier beim zweiten Gotthardstrassentunnel wird bald nicht mehr so intensiv sein. Nun, da die Arbeiten an der Hauptröhre begonnen haben und vor dem Portal die Tunnelbohrmaschine (Durchmesser 12,2 Meter) zusammengesetzt wird. Man sieht schon das Gerüst und erste Teile des Kopfes. Sie muss in ihrer ganzen Länge von 400 Metern in den Stollen eingeführt werden können, damit sie sich ab 2025 selbst «vorwärtsziehen» kann. Während die Maschine die Röhre bohrt, werden hinter ihr sogleich Betonplatten rund um den entstandenen Tunnel verankert. «Ich sehe daher angeschnittene Klüfte nicht mehr. Dann habe ich nur noch bei den Querschlägen zum Sicherheitsstollen und den Ausstellnischen die Möglichkeit, etwas zu finden.» Letztere werden alle 250 Meter hinter der Fräse in den Fels gesprengt.

Der Gotthardstrassentunnell wird Amachers letztes offizielles Projekt sein: «Das will ich noch fertig machen, ich habe so viele gute Erinnerungen an dieses Zeit. Danach kann ich gut abgeben.» Schliesslich werde er bald 70. «Ich sehe nur so jung aus», scherzt er. In absehbarer Zeit braucht es also einen Nachfolger für diesen einmaligen Job. Ruhig im Schaukelstuhl sitzen wird Amacher nach seinem Rücktritt sicher nicht. Er hält im ganzen deutschsprachigen Raum Vorträge, will sein Wissen und seine Freude an den Mineralien an andere weitergeben. Im Winter unternimmt er regelmässig Skitouren – etwas 40 pro Saison. Und im Sommer kann er wieder Strahlnen gehen – dort, wo die Luft gut ist und er niemandem «Grüezi» sagen muss.

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Freie Mitarbeiterin für das Baublatt.

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