Peter Amacher, Geologe: Im Bann der Gotthard-Kristalle
Peter Amacher ist Chef der Mineralienaufsicht des Kantons Uri. Zurzeit ist er auf der Baustelle des zweiten Gotthardstrassentunnels unterwegs und sucht mit seinem Team nach Sprengungen den Fels ab. Denn die Bauarbeiten könnten Kristallklüfte zum Vorschein bringen und damit funkelnde Schätze. Um sie aufzustöbern braucht es Glück und Erfahrung.
Quelle: Simone Matthieu
Peter Amacher zeigt in seinem Büro ein besonderes Fundstück. Auch Hund Melk ist begeistert.
Warten. Das sei ein grosser Teil seiner Arbeit, sagt Peter
Amacher. Der Chef Mineralienaufsicht des Kantons Uri steht gelassen seit
ungefähr einer Stunde in eine Ecke gedrängt im so genannten Voreinschnitt. Das
sind die ersten rund 400 Meter im Nordportal der zweiten Gotthard-Strassenröhre
bei Göschenen. Bisher ist davon etwa die Hälfte geschafft. Amacher trägt seinen
orangen Bauoverall und Helm, schaut den riesigen Baggern zu, wie sie
Felsbrocken und Schutt von der Sprengung zuvor wegbringen – und achtet darauf,
dass er ja nicht im Weg steht. «Die Bauarbeiter sind unter Druck und schauen
nicht, ob noch jemand rumstolpert.» Ebenfalls im Voreinschnitt untergebracht
wird der Betonmischer, weil das Gelände um die Einfahrt so knapp ist.
Es scheint alles ein wenig ungewiss an Amachers Arbeit. Schon der Termin mit dem Baublatt musste kurzfristig von einem Tag auf den nächsten abgemacht werden – je nachdem, wie weit die Sprengarbeiten vorangekommen sind und ob überhaupt eine Chance besteht, zu sehen, wofür wir gekommen sind: Anzeichen von Kristallklüften. Nach jeder Sprengung suchen Amacher und seine sechs Mitarbeiter danach. Sie aufzustöbern ist Glückssache. Und natürlich die Erfahrung, die der Urner nach über 50 Jahren als Strahlner vorweisen kann. (Anm. d. Red.: Im Kanton Uri nennen sich die Strahler Strahlner und ihre Tätigkeit Strahlnen statt Strahlen. Deshalb schreiben wir das in diesem Artikel im Urner Dialekt). Quarzbänder im Gestein zeigen ihm, wo vielleicht etwas zu entdecken sein könnte.
Die Strahlner sind ein eigenes
Völkchen: Amachers Mitarbeiter sind bei ihm eingestellt, weil sie Freude am
Strahlnen haben. Finanziell gibt es ausser Spesen nichts zu holen für sie. Der
grosse Teil der Arbeit wird nach dem Feierabend getan: Dann können sich die
Strahlner in Ruhe an ihre Arbeit machen. Den Anzeichen nachgehen, ohne mit
einem der massigen Fahrzeuge zu kollidieren. Vielleicht hat einer der Poliere
auch schon einen Hinweis auf eine Kluft geben können, die sich gleich nach der
Sprengung gezeigt hat, nachdem sich der allgegenwärtige Staub etwas gelegt hat.
Quelle: Simone Matthieu
Peter Amacher in seinem Büro in Amsteg.
Quelle: Simone Matthieu
Nicht jeder Stollengang wird mit einem Fund belohnt. An diesem Tag war Amacher vergebens im Berg.
Strahlnen als 10-Jähriger
Peter Amacher ist Geologe, der 69-Jährige trägt ein
rot-weisses Stirnband unter seiner blond-grauen Haarmähne. An den Ohren baumeln
kleine goldene Creolen-Ohrringe – zehn Stück sind es. Er wohnt mit seiner Frau
und seinem weissen Schweizer Schäferhund Melk (eigentlich Melchior) in einem
Haus unter der Bahnbrücke in Amsteg. Sein Büro ist voll von verschiedenen
Kristallen, den Glanzstücken seiner privaten Sammlung. Ein paar sind aus dem
Stollen, viele vom Strahlnen in der Natur. Wie ein Berg ist Amacher nicht
aus seinem Gebiet zu versetzen: «Ich bleibe am liebsten in meiner Umgebung,
auch in meinen Ferien. Strahlnen ist eine einsame Arbeit. Doch ich bin gerne
da, wo ich niemandem Grüezi sagen muss.» Wenn man in den Bergen aufwachse, lebe
man mit, in, auf oder von ihnen. «Du musst den Berg verstehen, sonst wirst du
nicht alt.» Er war schon als 10-Jähriger mit seinem Onkel strahlnen.
Amacher empfindet seinen Job als Glück, als Privileg. Das
ist er auch: Einen festangestellten Strahlner gibt es weltweit nur einmal.
Strahlnen ist eigentlich ein Hobby. Die meisten Klüfte liegen nicht weit unter
der Oberfläche des Bodens. Wichtige Aspekte, die Amacher beim Strahlnen in der
Natur so gut tun, fehlen im Stollen: «Ich bewege mich gerne. Der Auf- und
Abstieg ist für mich immer ein Erlebnis, ich beobachte die Umgebung, Pflanzen,
Tiere.» Wenn er allein sei, unterhalte er sich sogar mit ihnen. Im Stollen
herrscht das genaue Gegenteil: Statt Sonne der Schein von Baustellenlaternen.
Statt frischer Bergluft Staub und Russ, statt Ruhe Lärm und Geschäftigkeit.
Doch auch das fesselt Amacher, wie seine lange Amtszeit belegt. Süchtig sei er
geworden, gesteht er. «Beim Bau der Neat war ich nach wenigen Tagen Ferien
richtiggehend auf Entzug.» Er erzählt von Arbeitern, die ihr Leben lang im
Stollen waren: «Das lässt einen nicht los.» Zudem könne man unter Tag auch im
Winter und bei schlechtem Wetter auf Mineraliensuche gehen. Und die Qualität
der Kristalle aus dem Tunnel sei ausserordentlich gut. Weil sie nicht an der
Oberfläche gelegen haben, wo ihr Glanz durch den Kontakt mit Säure und
Sauerstoff verloren gegangen wäre.
Quelle: smd
Glanzstück aus dem Gotthard-Tunnel: Ein Himbeerroter Pyrit auf Granit.
Zusammenarbeit mit Uni Genf
Ob am oder im Berg, etwas haben beide Arten des Strahlnens
für Amacher gemeinsam: Das schöne Gefühl, als erster Mensch einen Millionen
Jahre alten Kristall in den Händen zu halten. Als Geologe kann er an den Teilen
deren Geschichte ablesen. «Bei diesem hier war die erste Kristallisationsphase
vor rund 14,8 Millionen Jahren abgeschlossen», erklärt er dem Baublatt an einem
Mineral. Ursprünglich habe das Stück in einer Tiefe von neun bis zwölf
Kilometern gelegen, sei dann aber an die Oberfläche gepresst worden. Dies durch
die Erdplattenbewegung vor Millionen von Jahren, als die afrikanische gegen die
eurasische Platte stiess, und sich das Land zu den Alpen auffaltete. «Bald
werden sie an der Uni Genf die zweite Kristallisationsphase bestimmen. Wir
arbeiten mit ihnen zusammen, sie bestimmen unter anderem das Alter der
Mineralien.»
Zurück zum Stollen: Nach einer Stunde Warten gibt Amacher
auf. Leider konnte er dem Baublatt keinen neuen Fund präsentieren. Er wird
später, am Abend, wenn aller Schutt von den Sprengungen ausgeräumt ist,
nochmals nach Anzeichen auf Klüfte stöbern. Beim Bau der beiden
Gotthardstrassentunnel sowie den dazugehörigen Service- und
Infrastrukturstollen stiessen Amacher und sein Team auf 30 Kristallklüfte,
darunter drei grosse. Mindestens 1100 Kontrollgänge haben er und seine Leute
gemacht.
Die Schätze des Kantons Uri
Alle Schätze aus dem Gotthardtunnel gehören dem Kanton Uri.
Die Mineralien werden im historischen Schloss A Pro ausgestellt, einem
Wasserschloss in Seedorf UR: Funde vom Bau des ersten Gotthard-Strassentunnels,
der Neat oder der Kraftwerke Amsteg (Erneuerung) und Realp II. Und natürlich
die Funde aus dem zweiten Gotthard-Strassentunnel. Bei all diesen Projekten –
bis auf den ersten Gotthard-Strassentunnel – war Amacher Chef der
Mineralienaufsicht. Auffällig ist die Farbe der Kristalle aus dem zweiten Gotthard-Strassentunnel:
Amacher definiert sie als Himbeerrot. Ein ziemlich grosser Oktaeder in
Himbeerrot ziert ein Stück Granit. Es ist einer von Amachers Lieblingsfunden.
So etwas habe er in fünfzig Jahren nicht entdeckt.
Die Tätigkeit des Urners hier beim zweiten
Gotthardstrassentunnel wird bald nicht mehr so intensiv sein. Nun, da die
Arbeiten an der Hauptröhre begonnen haben und vor dem Portal die
Tunnelbohrmaschine (Durchmesser 12,2 Meter) zusammengesetzt wird. Man sieht
schon das Gerüst und erste Teile des Kopfes. Sie muss in ihrer ganzen Länge von
400 Metern in den Stollen eingeführt werden können, damit sie sich ab 2025
selbst «vorwärtsziehen» kann. Während die Maschine die Röhre bohrt, werden
hinter ihr sogleich Betonplatten rund um den entstandenen Tunnel verankert.
«Ich sehe daher angeschnittene Klüfte nicht mehr. Dann habe ich nur noch bei
den Querschlägen zum Sicherheitsstollen und den Ausstellnischen die
Möglichkeit, etwas zu finden.» Letztere werden alle 250 Meter hinter der Fräse
in den Fels gesprengt.
Der Gotthardstrassentunnell wird Amachers letztes offizielles Projekt sein: «Das will ich noch fertig machen, ich habe so viele gute Erinnerungen an dieses Zeit. Danach kann ich gut abgeben.» Schliesslich werde er bald 70. «Ich sehe nur so jung aus», scherzt er. In absehbarer Zeit braucht es also einen Nachfolger für diesen einmaligen Job. Ruhig im Schaukelstuhl sitzen wird Amacher nach seinem Rücktritt sicher nicht. Er hält im ganzen deutschsprachigen Raum Vorträge, will sein Wissen und seine Freude an den Mineralien an andere weitergeben. Im Winter unternimmt er regelmässig Skitouren – etwas 40 pro Saison. Und im Sommer kann er wieder Strahlnen gehen – dort, wo die Luft gut ist und er niemandem «Grüezi» sagen muss.