„Licht, Farbe und Sonne“
Wer im alpinen Hochtal baut, braucht gute Nerven. Die Innenarchitektin Mierta Lazzarini und der Architekt Kurt Lazzarini sprechen im Interview darüber, wie sich moderne Bauten in eine traditionsreiche Umgebung erfolgreich eingliedern lassen.
Herr und Frau Lazzarini, Sie sind offenbar hart im Nehmen. Sie bauen in den unwirtlichen Alpen. Was sind die Gründe für diesen geografischen Entscheid?
Kurt Lazzarini: Wir sind beide hier aufgewachsen und wohnen auch hier. Ausserdem arbeiten wir gerne mit unserer unmittelbaren kulturellen Umgebung.
Mierta Lazzarini: Ich habe zwar auch mehrere Jahre in Rom gewohnt. Es war mir jedoch immer klar, dass ich hier verwurzelt bin und eines Tages hierher zurückkehre. Meine Kultur ist mir nah und wichtig, obwohl es da auch Knackpunkte gibt: Vermarkten, verkaufen und trotzdem die Kultur zu erhalten ist seit Langem hier ein grosses und heikles Thema. Die Herausforderung, der wir uns in unserer Architektur stellen ist, Bauten so umzusetzen, dass sie, nicht wie andere Gebäude, nur lukrativ sind, sondern wirklich gut werden. Weil wir grossen Respekt gegenüber den alten Patrizierhäusern und unserer Geschichte haben, schaffen wir keine Plagiate unserer herkömmlichen Bündner Bauten. Wir setzen vielmehr den spekulativen Bauten aus den sechziger bis neunziger Jahren einen Gegenpol.
Astronomische Bodenpreise und die gewaltige Natur machen es Ihnen mit dem Bauen im alpinen Hochtal nicht leicht. Wie empfinden Sie die Unterschiede zum Bauen im Flachland?
ML: Mit den hohen Bodenpreisen müssen wir leben, das ist so, aber damit umgehen müssen die Auftraggeber. Uns beschäftigt dieses Problem vor allem gesellschaftlich. Im Unterland beispielsweise bauen Sie für 800 000 Franken ein Haus. Bei uns oben kostet allein das Land soviel. Private benötigen für den Traum eines Eigenheims in jedem Fall ein stattliches Budget. Wenn wir öffentliche Bauten realisieren, kommt das Land von den Gemeinden oder wir führen Sanierungen durch wie etwa bei Hotels. In dem Fall ist das Land bereits vorhanden. Allerdings werden im Engadin viele Projekte umgesetzt, bei denen nicht Qualität, sondern Mittelmass gefragt ist, weil sich das leichter verkaufen lässt. Das ist nichts für uns, und solche Investoren kontaktieren uns auch nicht ...
KL: ... nein, weil es uns wichtig ist, die Ursprünglichkeit und die Kraft der Berge auf hohem Niveau in unsere Projekte mit einfliessen zu lassen! Der Ort und das jeweilige Projekt sind dabei wesentlich, aber auch der jeweilige Bezug zur Umgebung. Licht, Farbe und Sonne zum Beispiel sind für uns hier oben zentrale Themen. In einer Stadt würden wir diese Inspirationsquellen so nicht finden. Auch das Klima im Engadin ist sehr speziell, das muss man sozusagen im Gefühl haben, wenn man hier baut. Im Winter herrschen oft Temperaturen von 30 Grad minus, was heisst, dass dann nicht mehr jedes Detail so funktioniert wie man es gerne hätte. Eis zum Beispiel macht vor einer schönen, bündigen Dachrinne nicht Halt und zwingt uns, nach neuen Lösungen zu suchen. Solche Umstände lassen sich durch Erfahrung beheben und durch die Überlegung, was in welcher Jahreszeit klimatisch genau geschieht. Wenn man sich diese Zeit nimmt, kann Schönes und Funktionales entstehen.
Theoretisch ist das sicher richtig. Aber die Bauvorgaben im Engadin sind eng gesteckt.
ML: Unsere Projekte sind speziell, das ist richtig, und für eine Umsetzung benötigen wir mehr Überzeugungsarbeit in den Gemeinden als andere. Obwohl die Architektur bei uns in den vergangenen zehn Jahren an Stellenwert gewonnen hat, wollen einzelne Gemeinden partout keine modernen Bauten und wehren sich.
Dann haben Sie ähnliche Verhältnisse wie in Südfrankreich oder in Italien?
ML: Ja, wenn sie durch solche Landschaften spazieren, sehen Sie selten moderne Architektur! Obwohl wir hier oben in den letzten Jahren einige Hindernisse dieser Art überwinden konnten, müssen wir noch immer viel Aufklärungsarbeit leisten. Die Vorurteile, denen wir hier begegnen, wenn wir eben kein neues altes Engadinerhaus bauen wollen, sind vergleichbar mit denjenigen in der Toscana. Das ist manchmal ermüdend. Auf der anderen Seite kann man hier nicht mehr bauen wie vor 300 Jahren, mit Stall und für eine Grossfamilie. Das kann hier niemand mehr bezahlen.
Trotzdem sind die Baugesetze bei Ihnen restriktiv ...
KL: Auch wenn wir nicht in jeder Gemeinde auf Goodwill stossen und unsere Projekte abgelehnt werden, erstaunt es uns doch, dass wir für einige unserer Projekte tatsächlich Bewilligungen erhalten haben. Das zeigt, dass Behörden zwar durch uns gefordert werden aber auch mit uns mitwachsen.
ML: Diese sind offen und sehen, dass ein modern umgesetztes Engadinerhaus oder ein unter einem neuen Ansatz entworfener Dachvorsprung für unsere Gegend bereichernd sein kann. Das gängige Klischee, das moderne Bauten immer fade Betonklötze sein müssen, konnten wir in den sechzehn Jahren unseres Bestehens entkräften, indem wir – und natürlich auch andere Architekten – auch Neues und Erfrischendes aus Holz und Stein gebaut haben. Unser Bestreben, den Bauten eine gute Besonnung, Lebensqualität und ein schönes Erleben im Kontext mit der Aussenwelt zu geben, stossen bei Entscheidungsträgern auf immer mehr Interesse. Der Prozess hin zu einer modernen Bauweise braucht einfach Zeit, wie überall in naturnahen und traditionsbewussten Gegenden.
Die steilen Kiesdächer, die Ihren Stempel tragen, zeigen, wie man auf moderne Art gelungen mit Dacheis umgehen kann.
KL: Für diesen Entwurf eines Einfamilienhauses in Pontresina, den Sie ansprechen, war uns ein steiles Kiesdach wichtig. Das Grundstück dort liegt am Waldrand und neben einem Fluss und wir wollten einen einfachen, grob verputzten Körper hinstellen, der von der Landschaft sozusagen absorbiert wird. Die Form ist durch die Faltung dieses Ortes entstanden, und obwohl es sich bei diesem Dach offiziell um ein Satteldach handelt, hat das Haus eher eine kristalline Form. Ein Fünfeck, bei dem sich das Dach mehrfach neigt. Viele Leute fanden, dass so ein Dach – es hat eine ähnliche Struktur wie die Fassade – nicht möglich sei, weil das Eis und der Schnee zusammen mit dem Kies vom Dach herunterrutschen. Aber weil uns diese Lösung wie gesagt wichtig war, haben wir sie solange weiter entwickelt, bis sie funktionierte. Mittlerweile haben wir dieses Kiesdach erfolgreich bei zwei weiteren Projekten eingesetzt.
In den Bergen zu bauen, heisst Mehrkosten von mindestens 20 Prozent einzuberechnen und auch ein stressiges Timing bewältigen zu müssen. Richtig?
ML: Ja, wenn wir in der erweiterten Lawinenzone bauen, müssen wir zusätzlich Sicherheit gewähren, das schlägt natürlich zu Buche, ebenso wie etwa die Isolation eines Gebäudes. Diese muss nicht nur wegen der Kälte, sondern beispielsweise auch wegen des Radon, einem Gas, das hier aus der Erde tritt, einwandfrei durchgeführt sein. Was die Jahreszeiten angeht, so tun wir unser Bestes! Wenn der Winter mild war, können wir jeweils im April mit dem Aushub beginnen und ab Ostern anfangen, zu bauen. Die Witterungsbedingungen setzen uns terminlich natürlich schon stark unter Druck. Auch, dass in manchen Dörfern von Mitte Juli bis Mitte oder Ende August kein Aushub stattfinden darf, wegen des Tourismus.
Um in Europa Aufsehen zu erregen, scheint die Zeit dennoch zu reichen. Ihre Wohnüberbauung «Giardin» in Samedan hat für Farbe, Struktur und Oberfläche den Caparol Architekturpreis 2010 erhalten und den Zinnobergrün der Best Architects 09.
KL: Die Stampfbetonfassade, die wir für diesen Wohnturm und die beiden Einfamilienhäuser mitten im Dorf verwendet haben, gibt es bei uns eigentlich nicht. Die Umsetzung eines gedanklichen Entwurfes in ein Bild ist hier also, wenn Sie so wollen, ein Materialerfolg geworden. Wir haben das älteste Prinzip des Betons so aufgegriffen, dass es auch den heutigen Anforderungen genügt und frostbeständig ist. Dazu waren viele Gespräche mit Handwerkern nötig.
Vorhandene Ressourcen werden also wieder entdeckt und genutzt?
ML: Im Engadin müssen wir mit all unseren Ressourcen äusserst sanft umgehen! Vorhandenes soll umgestaltet oder abgerissen und neu bebaut werden. Mitten im Wald ein neues Häuschen hinzustellen ist heutzutage einfach nicht mehr tragbar.
KL: Ja, lieber als den Raubbau an der Natur zu fördern, die gestalterischen Möglichkeiten in der Architektur ein bisschen lockern. Dazu braucht es allerdings neue Gesetze.
von Delia Lenoir