Kirchenarchitektur im Wandel der Zeit
Traditionell sind Gotteshäuser eine Aufgabe, die Architekten zu Höchstleistungen treibt. Kirchenarchitektur ist wohl eine Bauform, die am wenigsten der reinen Form verpflichtet ist und zu Experimenten einlädt. Bauwerke von den Anfängen des Christentums bis heute.
Der Begriff Kirche bezeichnet einerseits die Gemeinschaft der Christen und andererseits das Bauwerk, dass von einer Religionsgemeinschaft zum Gebet, zur Andacht und für Gottesdienste genutzt wird. Der Sakralbau als solcher hat seit jeher eine besondere Herausforderung an die Erbauer und Architekten gestellt. Man dürfte sagen, dass eine spirituelle Empfindung für die Kirchenarchitektur meistens grundlegend war und immer noch ist. Trotz aller Frömmigkeit muss man hinzufügen, dass auch das Profane eine Rolle gespielt hat. Auch wenn für den Kirchenbau das Sakrale vorwiegen soll, hat man immer das Spannungsfeld zwischen dem Gemeinschaftlichen und persönlich individuellen Rechnung zu tragen.
Frühchristlicher Kirchenbau
Ursprünglich sind die ersten Christen in die Katakomben geflüchtet, um sich von den Römern zu verstecken. Als das Christentum sich langsam verbreitete und an Akzeptanz gewann, wurden die alten römischen Basiliken (Gerichtssäle) zu den ersten christlichen Versammlungsorte umgestaltet. Wohl das allererste christliche Bauwerk ist die Kirche San Stefano Rotondo in Rom. Lange dachte man, dass dieser Rundbau ein römisches Bauwerk sei. Die Grundmauern des äusserst einfachen Gebäudes mit seinen zehn Toren wurden auf Ruinen aus der römischen Zeit errichtet. Die Kirche mit dem Grundmass einer Ellbogenlänge gilt als Abbild des himmlischen Jerusalems. Die feierliche Stille des Raumes, voller Musikalität, entspricht noch heute einem menschlichen Grundbedürfnis – die Sehnsucht nach lebendiger Ruhe. San Stefano ist eine Kirche in seinem ursprünglichen Sinn. Als bekannte Beispiele der frühen byzantinischen Sakralarchitektur sind Santa Sophia in Konstantinopel und San Vitale in Ravenna. Die zentrale Kuppel von San Vitale wurde aus einer Vielzahl von Tonkrügen gebaut, die ineinander gesteckt und mit Mörtel ausgegossen sind. Ein hölzernes Dach schützt diese Konstruktion vor der Witterung.
Die romanischen Kirchen sind von einer würdevollen und kräftigen Klarheit. Wobei die konstruktiven Bauteil von einer primitiven Schlichtheit durchdrungen sind. Die nachfolgende Gotik sah Le Corbusier im Grunde genommen nicht als Architektur im strengen Sinne des Wortes an. Die Gotik galt schlechthin als eine Erfindung des aufstrebenden Geistes – die Kirche als Abbild des Himmels. Da die Konstruktion der Kathedralen nicht im Gleichgewicht war, benötigten sie, um die gotischen Gewölbe zu tragen, im Aussenbereich riesige fliegende Strebepfeiler. Der Chorraum der Kathedrale von Beauvais in Frankreich erzählt seine eigene Geschichte dieses konstruktiven Kampfes. Immer wieder musste dieses Bauteil neu errichtet werden, da das Gewölbe gleich mehrere Male eingestürzt war. Die restlichen Teile der Kathedrale wurden dadurch nie gebaut.
Die britische Gotik ist im Gegensatz zu den Strömungen in Frankreich durch einen menschlicheren Massstab gekennzeichnet. Ein intimes Beispiel ist die vielschichtige Kirche in Ottery St. Mary in Devon (England), die eine kleine Ausgabe der nahe gelegenen Kathedrale von Exeter ist. In Blythburgh, Grafschaft Suffolk, steht Holy Trinity, die man «Cathedral of the Marshes» nennt. Die Kirche besitzt unzählige gotischen Fenster und wirkt wie ein modernes Glashaus. Der Weiss getünchte Innenraum wird von gewaltigen Eichenbalken überspannt. Sitzt man im Innern, wird diese grossartige Stille des Raumes plötzlich durch das Krachen des Eichengebälk durchbrochen. Eine moderne Interpretation von Holy Trinity ist die Kirche Mater Misericordiae in Baranzate bei Mailand von Angelo Mangiarotti. Die äussere Hülle dieser Kirche besteht als gleichförmigen grossen Glaspaneelen mit dazwischen liegender Isolation.
Die Renaissance-Kirchenarchitektur ist gekennzeichnet durch eine kühle, beinahe unpersönliche Klarheit, wie beispielsweise im Innenraum von Andrea Palladios Santa Maria Maggiore in Venedig. Erst im Frühbarock hat Francesco Borromini mit der San Carlo alle Quatro Fontana in Rom die äussere Fassade in eine schwungvolle Form gebracht. Ein zeitgenössisches Beispiel ist die Kirche in Imatra von Alvar Aalto.
Anfang der Moderne
Im 19. Jahrhundert wurden Kirchen in nachahmender historisierenden Stilen gebaut, die heute vielfach von der Denkmalpflege überschätzt werden, so die neugotischen Kirchen in der Schweiz. Die starren Konfessionsgrenzen wurden durch den Strukturwandel in der Bevölkerung durchbrochen. Der Kirchenbau war formal nicht mehr eine Frage des Glaubens, sondern des architektonischen Ausdrucks. Ein Bruch mit dem Historismus kam besonders in konstruktiver Hinsicht durch die Verwendung von Sichtbeton zum Ausdruck.
Der erste Sakralbau mit armierten Eisen entstand um 1900 in Paris: Saint-Jean-de-Montmartre von Anatole de Baudot. Zwanzig Jahre später errichtete Auguste Perret in einem Vorort von Paris ein Gotteshaus konsequent in Sichtbeton. Mit Notre-Dame du Raincy, die von ausgesprochener Filligranität gekennzeichnet ist, kündigt sich eine neuartige Kirchenarchitektur an. Giovanni Michelucci (1891-1990) hat in Italien zwei fantasievolle Kirchen gebaut. Unweit von Florenz steht sein Gotteshaus «Autostrade del Sole», das als eine Art «Wandel-Durchgang» konzipiert ist. Seine zweiter Bau ist die Gedächtniskirche in Longarone (Veneto), der an die Stauseekatastrophe, bei der das Dorf fast völlig zerstört wurde, erinnert. Dieser Rundbau in weissem Beton verbindet den Kirchenraum, den Pfarr- und Gemeindesaal sowie einen Ausstellungsbereich im Untergeschoss. Dort wird die Katastrophe von Longarone eindrücklich veranschaulicht. Eine lang gezogene äussere Rampe führt der Kirchenmauer entlang zu einer Dachterrasse, auf der unter freiem Himmel Gottesdienste und Konzerte abgehalten werden. Das Bauwerk besteht ausschliesslich aus Sichtbeton und die Böden aus grossen Natursteinplatten, die dunkelgrau mit orangefarbenen Adern gestrichen sind.
Um 1918 wanderten die Eltern des Architekten Jack Coia zu Fuss von Neapel nach Glasgow aus. Jack wurde auf dem Weg in Wolverhampton geboren. Seine Eltern brachten die «Gelati» (noch heute die Beste in der Welt) nach Schottland. Ein Jahr nach Le Corbusier hat Jack Coia 1969 die «Royal Gold Medal for Architecture» erhalten. In seiner Ansprache hat er zum Ausdruck gebracht, dass Kirchenarchitektur diejenige Bauform sei, die am wenigsten an der reinen Funktion verpflichtet ist. Coia war nicht besonders fromm, aber als Katholik ging er immer wieder zum Erzbischof von Glasgow, um an Bauaufträge zu gelangen. Ursprünglich arbeitete er mit zwei Architekten, die später starben. Er übernahm den Namen für sein berühmtes Atelier GKC (Gillespie, Kidd & Coia). Später kamen die beiden Professoren Isi Metzstein und Andy MacMillan hinzu. Zusammen haben sie unter anderen etliche Kirchen in Schottland gebaut. Ein hervorragendes Bauwerk des Ateliers ist Robinson College in Cambridge, fast ausschliesslich aus einem roten eisenhaltigen Backstein erstellt. Eine intime Kapelle mit grossen Farbfenstern, vom Künstler John Piper erstellt, beherrscht die Westwand des Bauwerks.
Das erste moderne Gotteshaus des Atelier GKC steht in Glenrothes, dann folgte die kraftvolle Backsteinkirche St. Brides in East Kilbride New Town, später die leider abgebrochene Kirche St. Benedict in Drumchapel bei Glasgow. Diese besitzt eine äusserst dynamischen Dachkonstruktion. Das Kloster St. Peters College, Cardross bei Glasgow an der Clyde, ist sehr «corbusianisch», jedoch grundverschieden von Sainte-Marie de La Tourette bei Lyon. St. Peters ist vor allem in der Ausbildung des Schnitts von Interesse. Die Priesterzellen sind auf zwei Seiten auf abgestuften Terrassen angeordnet und der dazwischen liegende Innenraum bildet in der Mitte den Eingangsbereich, an einem Ende die Kirche und am anderen das Refektorium. Ein trauriges Kapitel zeitgenössischer Architektur: Da der Priesterstand in St. Peters langsam ausstarb, begann man sich am Gebäude zu bedienen und entwendete zum Beispiel sämtliche Fenster. Heute ist das Kloster eine Ruine unter Denkmalschutz. Es bestehen zwar Bestrebungen, es wieder aufzubauen. Aber ob dies je gelingt, ist mehr als unsicher.
Sakrale Bauten in der Schweiz
In der Schweiz entstanden Mitte des 20. Jahrhunderts zahlreiche reformierte und katholische Sakralbauten. Karl Mosers Sankt-Antonius-Kirche in Basel kennzeichnet einen Übergang vom Jugendstil in die Frühmoderne. Mit dem gerippten Tonnengewölbe in Sichtbeton und den grossflächigen pastellfarbenen Fenstern ist der Bau von kräftiger und erhabener Schönheit. In der Nähe steht Karl Egenders reformierte Kirche, die eine andere beinahe industrielle Sprache spricht. Der Bau bezaubert mit einer durchwegs erfinderisch entworfenen Stahlkonstruktion, die Intimität ausstrahlt. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurden in der Schweiz viele Kirchen erstellt. Teilweise sind sie durchzogen von schönen dekorativen, Betonelementen wie bei der St.-Felix-und-Regula-Kirche in Zürich. Sogenannte Zentralbauten versuchten, die Förderung der liturgischen Bewegung nach tätiger Teilnahme der Gläubigen am Gottesdienst im Raumkonzept aufzunehmen. Die St.-Karl-Kirche in Luzern von Fritz Metzger oder Bauten von Justus Dahinden sind dabei exemplarisch. Viele dieser Kirchen wollen zwar den Gemeinschaftsgedanken fördern, vergessen jedoch, dass «echte» Gemeinschaft nur dort gedeihen kann, wo ein gewisses Mass an Freiheit in der individuellen Religionsausübung möglich ist. Es fragt sich, wie Theo Gubser (Lehrer und Musiker in Gams SG) geäussert hat, ob diese Überbetonung des Gemeinschaftlichen zu einem Verlust des Individuellen führt. Fazit ist, es fehlen zum Beispiel Säulen, hinter der sich der «arme Sünder» verstecken kann, um Distanz zu Gott zu erhalten und sich wieder nach dem mystischen Zentrum auszurichten. Dieser Umstand ist unter anderem im Alten Testament (siehe Moses) als ein grundreligiöses Bedürfnis aufgeschrieben. In vielen halbrunden Kirchen wird man beinahe gezwungen, am Gottesdienst teilzunehmen. Letzten Endes kann echte Religiosität nur in einer weitgehend freiheitlichen Atmosphäre gedeihen. Dies will nicht heissen, dass der Zentralbau grundsätzlich keinen Raum lässt für die notwendige Intimität.
Öffnung der Kirche
Wie sieht die Zukunft der sakralen Architektur aus? Eine Möglichkeit wäre, die Kirche als strukturelles Gefäss zu erstellen, wie bei Los Almendrales in Madrid. 1962 bis 1965 baute der Architekt Jose M. Garcia de Paredes aus zahlreichen Betonpyramiden mit Oberlichtern einen sakralen Bau. Die Jacobus-Kirche in Düsseldorf-Eller, 1960 bis 1962 von Eckhard Schulze-Fielitz, besteht in der Grundstruktur aus einem dreidimensionalen, vorfabrizierten Stahlrahmengerippe. Es entstanden multifunktionale und unterteilbare Räume, die eine flexible Nutzbarkeit ermöglichten. Der Abendmahltisch (Altar) könnte während des Gottesdienstes hereingetragen werden, wie dies zum Beispiel Le Corbusier vor längerer Zeit vorgeschlagen hat. Ganz anders präsentiert sich der Neubau der Coventry Kathedrale von Basil Spence. Die 1951 in Bleistift gezeichneten Wettbewerbspläne von Spence bargen schon damals seine geniale Idee, die im Krieg bombardierte Kirche von Coventry mit seinen Grundmauern als Raum für äussere Gottesdienste bestehen zu lassen. Im rechten Winkel dazu, getrennt durch eine überdeckte Fussgängerpassage mit Bücherladen, entwickelte der Architekt einen lang gezogenen neuen anglikanischen Kirchenraum. Spence wurde von Gegner mit einer eher übertraditionalistischen Haltung kritisiert. So hat er im Laufe der Zeit seine Pläne modernisiert, ohne seine inspirierte Grundhaltung zu verlieren. Basil Spence ermöglichte zeitgenössischen britischen Künstlern sich im Bauwerk zu verewigen. Die Farbfenster von Coventry tragen eine eigenwillige Botschaft.
Die Zukunft der Kirchenarchitektur ist im Nebel verborgen. Sie müsste wahrscheinlich von der tieferen Besinnung des Wortes «katholisch», das beinhaltet «für alle Menschen», erfüllt werden. Voraussetzung für diesen neuen Geist ist, das Spannungsfeld zwischen Profanem und Sakralem neu zu erfinden.
von Bryan Thurston und Roland Merz