Haus der Statistik in Berlin: Neues Leben für DDR-Ikone
Nachhaltige Formen der urbanen Entwicklung verlangen den Einbezug aller Akteure in die Planung und Umsetzung. Ein modellhaftes Projekt in Sachen Bürgerbeteiligung und Gemeinwohlorientierung ist die Sanierung «Haus der Statistik» in Berlin, wo Planer, Bauherr und zukünftige Benutzer auf Augenhöhe kooperieren.
Quelle: Haus der Statistik
Das Haus der Statistik in Berlin, hier bereits mit dem Namenszug der Genossenschaft, welche die Umnutzung und Sanierung des ehemaligen Verwaltungsgebäudes mit plant und umsetzt.
Der Energiebedarf unserer Gebäude muss massiv sinken, wenn wir den Klimawandel langfristig bekämpfen wollen. Doch die Diskussion konzentriert sich vor allem darauf, wie Neubauten energiesparend konzipiert und erstellt werden können. In der Sanierung des Bestandes liegt indes der Hund begraben: 63 Prozent der Wohnungen in der Schweiz wurden vor 1980 gebaut, daneben existieren auch zahlreiche ältere Industrieareale. Die Instandstellung solcher bestehender Gebäude ist, bei einer langfristigen Betrachtung auch der Grauen Energie, sparsamer in Sachen Verbrauch und Emissionen als der allermodernste Ersatzneubau.
Doch bei der Sanierung von Bestandsbauten sind Zielkonflikte vorprogrammiert: zwischen Architektur und Denkmalpflege, zwischen Renditeerwartungen und sozialen Vorgaben, oder schlicht zwischen Mietern und Investoren. Im Rahmen des «Forum Wohnungsbau» der ETH Zürich widmete sich die Architektin und Stadtplanerin Regula Lüscher der Frage, wie diese unterschiedlichen Interessen unter einen Hut gebracht werden könnten. Sie war bis vor Kurzem Senatsbaudirektorin und Staatssekretärin für Stadtentwicklung in Berlin und in dieser Funktion an einem Sanierungsprojekt beteiligt, das in Sachen Planung und Bürgerbeteiligung neue Wege beschreitet: dem «Haus der Statistik».
Hotspot Stadtentwicklung
Das Gebäude, architektonisch beispielhaft für den modernen Baustil der DDR, steht gleich hinter dem Alexanderplatz und damit an einem Hotspot der Berliner Stadtentwicklung. Das 1972 erstellte Gebäude beherbergte zu DDR-Zeiten die «staatliche Zentralverwaltung der Statistik», nach der Wiedervereinigung hatte darin der Bundesbeauftragte für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes seinen Dienstsitz, die so genannte Gauck-Behörde, die den 45 000 Quadratmeter grossen Gebäudekomplex bis 2008 nutzte. Seither steht das Haus leer. «Bei der Sanierung und Umnutzung dieses Gebäudes wurde nun versucht, spezielle Formen der Beteiligung umzusetzen, ein Projekt im Bestand mit geteilter Autorenschaft zu realisieren, und zugleich eine am Gemeinwohl orientierte Stadtentwicklung zu praktizieren.»
Quelle: Gyula Nagy - Eigenes Werk, CC BY-SA 3.0
Ein beispielhafter Bau für die DDR-Moderne: Das 1972 errichtete Gebäude beherbergte ursprünglich die «staatliche Zentralverwaltung der Statistik» des damaligen Arbeiter- und Bauernstaats.
Ursprünglich hätte das Haus der Statistik wie viele DDR-Bauten abgerissen und durch einen Neubau ersetzt werden sollen, wie dies der gesellschaftlichen Verfassung nach der Wende entsprach. «Der Westen hat im Grund genommen ein Friendly Takeover vollzogen», sagt Lüscher. «Kulturell, ideologisch und politisch wurden dem Osten die westlichen Werte übergestülpt, und dazu gehörte auch, die Ostmoderne flächendeckend dem Abbruchhammer zu überstellen.» So wurde rund um den Alexanderplatz der Bestand quasi weggefegt und durch zehn neue Hochhäuser ersetzt. Auch für das Haus der Statistik gab es einen Bebauungsplan. Dieser sah lauter Ersatzneubauten vor, unter anderem ein «Rathaus der Zukunft», ein den sich wandelnden Ansprüchen genügendes Verwaltungsgebäude.
Abriss verhindert
Doch eine Gruppe engagierter Künstlerinnen und Künstler schaffte es, 2015 den Verkauf und Rückbau des alten DDR-Gebäudes zu verhindern. Es gelang ihnen, eine öffentliche Diskussion um die Zukunft des Gebäudes anzuregen, unter anderem mit einer Kunstaktion: Sie brachten an der Fassade ein riesiges Poster im Stile einer offiziellen Bauinfotafel an, mit der Aufschrift «Hier entstehen für Berlin: Räume für Kultur, Bildung und Soziales». Daneben wurden auch Flüchtlinge aus Syrien temporär im Gebäude untergebracht. Und hinter all dem formte sich die «Initiative Haus der Statistik» – ein Bündnis aus Künstlerkollektiven, Verbänden, sozialen und kulturellen Einrichtungen, Stiftungen, Vereinen und Einzelpersonen, die das Gebäude erhalten und schützen will.
Quelle: Haus der Statistik
Die gemischte neue Nutzung auf einen Blick: Das bestehende Haus der Statistik befindet unten links, mit «Kultur» und «Verwaltung» bezeichnet. Dahinter kommen einige Neubauten zu liegen.
Nach 2015 änderten sich auch die politischen Vorzeichen. Das zuvor stets klamme Bundesland Berlin beschloss den Wiedereinstieg in die Wohnraumförderung. Es wurde das Berliner Modell der kooperativen Baulandentwicklung geschaffen. Dieses verpflichtet private Bauherrn mittels städtebaulichen Verträgen, bei Neubauten 30 Prozent geförderten Wohnraum zu erstellen. Im Fall von Wohnbaugesellschaften sind es sogar 50 Prozent. Beim Alexanderplatz wurde der ursprüngliche Masterplan verändert: In der Zwischenzeit war der Respekt vor den Bauten der DDR-Moderne gewachsen. Die Berliner Politik beschloss, das Bestandgebäude zu erhalten – ein Erfolg für die «Initiative Haus der Statistik», die sich zum gleichberechtigten Partner entwickeln sollte.
Fünf unterschiedliche Kooperationspartner
Aus der Initiative ging die «ZUsammenKUNFT Berlin eG – Genossenschaft für Stadtentwicklung» (ZKB) hervor. Mit ihr wurde – trotz des monströsen Namens – die Beteiligung der Bürgerschaft neu organisiert und auf eine rechtlich stabile Grundlage gestellt. Die Genossenschaft ist eine von fünf Partnerinnen der Kooperationsgemeinschaft «Koop5», die seit 2018 eine gemeinwohlorientierte Entwicklung rund ums Haus der Statistik realisiert. Konkret wird man in gemeinsamer Verantwortung Raum für Kunst, Kultur, Soziales und Bildung, bezahlbares Wohnen, ein neues Rathaus für den Bezirk Mitte sowie Verwaltungsnutzungen realisieren, dies in den Bestandsgebäuden und durch 65 000 Quadratmeter Neubau auf dem Areal.
Quelle: Haus der Statistik
Nur vorübergehender Leerstand nach Auszug der DDR-Behörden: Wahrscheinlich verfügen nur wenige Städte verfügen über eine derart vielseitige, flexible Szene wie Berlin, wenn es um die Zwischennutzung von Freiflächen geht.
Die fünf Partner sind:
- Die Senatsverwaltung für Stadtentwicklung, die städtebauliche Workshops umsetzt.
- Der Bezirk Mitte, der das Planungsrecht schafft und Besteller des neuen Rathauses ist.
- Die Wohnungsbaugesellschaft Mitte, die 300 bezahlbare Wohnungen und die dazu gehörige Infrastruktur erstellt.
- Das Berliner Immobilienmanagement, das die Verwaltungsnutzung baut, also das neue Rathaus.
- Die ZKB, die als Sachwalterin der Interessen und Forderungen der Initiative Haus der Statistik fungiert, die also nicht selber baut, sondern Konzeptausschreibungen vor- nimmt und Nutzungen transparent vergibt.
Präzise Rollenverteilung
Die fünf Partner haben in diesem Prozess also höchst unterschiedliche, präzise zugeordnete Rollen: Der Senat kümmert sich um die fachlichen und politischen Stadtentwicklungsziele, fördert gute Architektur und eine gemischte Stadt. Er organisiert aber auch die Zwischenfinanzierung, damit die Bürgerinitiative überhaupt handlungsfähig wird. Der Bezirk Mitte ist die Instanz der Lokalpolitik, steht im engen Kontakt mit den lokalen Akteuren, programmiert das neue «Rathaus der Zukunft» in engem Beteiligungsprozess mit der Bevölkerung.
Die Wohnbaugesellschaft ist der «Bezahlbarmacher», vertritt die anonymen Nutzer, die auf bezahlbaren Wohnraum angewiesen sind. Die Immobiliengesellschaft ist der kommerzielle Sofortumsetzer, der unter hohem Produktionsdruck den dringenden Bedarf an Raum für die Verwaltung abdecken muss. Und schliesslich die Genossenschaft, die Regula Lüscher die «Allesandersmacher» nennt: «Sie bildet vor, während und nach dem Bauprozess die Netzwerke in die Politik, Verwaltung und Bürgerschaft; sie ist für die Kontinuität zuständig, steuert die Pioniernutzungen, ist Anwältin des Bestandes und setzt sich für die Anliegen der Nachhaltigkeit und Kreislaufwirtschaft ein.» Als gemeinsame Ziele erarbeiteten die Kooperationspartner:
- Die gemeinsame und gegenseitige Verantwortung, die sich bis in die Nutzung hinein verstetigt.
- Die Verpflichtung, Gemeinwohl zu realisieren.
- Die breite Mitwirkung der Stadtgesellschaft in das Verfahren zu integrieren.
- Eine Quartiersentwicklung mit einer Nutzungsvielfalt aus Wohnen, Verwaltung, Sozialem und Kultur.
- Die Nutzung des Ortes und der aussergewöhnlichen Lage im Stadtgebiet. die Schaffung eigener Nachhaltigkeitsstandards.
Quelle: Christian Muhrbeck
Exkursion mit interessierten Bürgerinnen und Bürgern: Für das Haus der Statistik wurden neue Wege der Bürger-beteiligung entwickelt, die für solche Projekte Schule machen könnten – und sollten.
Gemischte Stadt
«Es soll auf diese Weise eine gemischte Stadt entstehen, mit Raum für Wohnen und Arbeiten, für Kultur und Natur, für Frei-zeit und sozialen Austausch. Dafür aber brauchte es auch Akteure, die aus ganz unterschiedlichen Richtungen und mit ganz unterschiedlichen Zielsetzungen an die Aufgabe herangehen.» Dabei herausgekommen ist ein Konzept zur Erhaltung des Gebäudes und zu seiner Nutzung für Kunst, Kultur, Bildung, Verwaltung, Wohnen sowie für weitere Zwecke von allgemeinem Interesse.
Das Gebäude wird also im Zusammenspiel dieser fünf sehr unterschiedlichen Partner entkernt und für die neuen Nutzungen umgebaut. Hinzu kommen eine ganze Reihe neu zu erstellender Gebäude. Daneben finden laufend Pioniernutzungen statt – in erster Linie sind sie kultureller und künstlerischer Art, es gibt aber auch Angebote für Kinder und Jugendliche in der Nachbarschaft. Neben der «Koop5» kommen als weitere Player die Bürgerinnen und Bürger ins Spiel, «die sich in der Programmierung einbringen, die bei der Planung ein Mitspracherecht haben, die Pioniernutzungen betreiben und sich als Nachbar äussern.» Auch das Stadtparlament mischt mit: Es genehmigt den Grundstückskauf und das Erbbaurecht für die Bauvorhaben, daneben genehmigt es auch den Bebauungsplan und spricht Gelder für öffentliche Investitionen.
Wenn die Ressourcen fehlen
«Als grösste Herausforderung für die Verwaltung sind die fehlenden Ressourcen für ein solches Projekt zu nennen, für deren Beibringung sehr viel Kommunikation nötig ist», so Regula Lüscher. «Dazu müssen Interessenkonflikte innerhalb der Berliner Politik geklärt werden, damit die Initiative diesen Konflikten nicht zu stark ausgesetzt ist.» Der Bezirk wiederum habe wenig Erfahrungen mit modernen Verwaltungsbauten; das Rathaus der Zukunft zu schaffen, dass für einen Betrieb im 21. Jahrhundert geeignet ist, seine eine komplexe Aufgabe, zumal in Berlin vielerorts immer noch preussische Zustände herrschen würden. Das Rathaus soll der Verwaltung dienen, aber auch der Begegnung, es soll Raum für Veranstaltungen sowie Ausstellungen bieten und es soll sich zum Quartier und zur Stadt Berlin hin öffnen.
Nach jahrlangen, komplexen Vorarbeiten konnten die Baumassnahmen am Haus der Statistik Mitte Mai 2022 offiziell aufgenommen werden. Im Rahmen der Entkernung fand auch eine aufwendige Schadstoffsanierung statt. Die Berliner Immobiliengesellschaft wird nun als ausführendes Unternehmen bis 2024 die umfang-reichen Bauarbeiten realisieren, durch welche moderne Büro- und Verwaltungsflächen ebenso wie soziokulturelle Räume entstehen.
Quelle: Haus der Statistik
Das Gebäude mit der aktuellen Aufschrift «Stop Wars», umgeben von zahlreichen Plattenbauten der DDR-Zeit: Das Umnutzungskonzept wurde an der Biennale Venedig 2021 mit dem «Goldenen Löwen» ausgezeichnet.
Flexibilität auf beiden Seiten
«Für den Paradigmenwechsel, der beim Haus der Statistik stattfand, brauchte es einerseits den Bürgerwillen und den Druck von der Strasse, der den Abriss verhinderte und die Forderung nach einer Nutzung fürs Gemeinwohl durch setzte», bilanziert Regula Lüscher, die an der Aufgleisung des Vorhabens massgeblich beteiligt war, bilanziert. Wobei es wichtig sei, diese Bürgerbewegung auf ein solides Fundament zu stellen und sie zu professionalisieren. «Daneben braucht es Politiker und Verwaltungsmenschen, die zuhören, Forderungen der Bürger aufnehmen und umsetzen. Dazu auch die nötigen Ressourcen und soziale Kompetenz in der Verwaltung.» Seien diese Voraussetzungen geschaffen, dann könne aus einem ursprünglichen Protest ein Mehrwert entstehen. «Dann wird aus Mitreden Mitmachen. Eine Bauwende ist möglich, die eine sozial nachhaltige Stadt als Ergebnis hat, aber sie ist ein Kraftakt und kann nur in einem Miteinander der verschiedenen Partner entstehen.» Das Ziel ist für Lüscher klar: «Wir müssen solche Pionierprojekte zur alltäglichen Praxis machen.»
Das Pionierprojekt «Haus der Statistik» erfuhr aus Fachkreisen allerhöchste Anerkennung: 2021 erhielt es an der 17. Architekturbiennale in Venedig den «Goldenen Löwen». Die Jury zeigte sich begeistert vom «inspirierenden kollaborativen Ansatz, der für Partizipation, Erneuerung und kollektive Verantwortung plädiert». Damit wurde es auch zu dem Vorzeigeprojekt der Ber-liner Stadtpolitik. Es steht als Modell dafür, wie nachhaltige Stadtentwicklung funktionieren kann, und wie partizipative Verfahren neue Wege der Planung möglich machen.
Weiterführender Link: https://hausderstatistik.org