09:07 BAUBRANCHE

Grenchner Wohntage: Wohnen und Arbeiten rücken wieder zusammen

Geschrieben von: Stefan Gyr (stg)
Teaserbild-Quelle: Vinzent Weinbeer, Pixabay, Pixabay-Lizenz

Einst klar getrennte Welten, verschmelzen Wohnen und Arbeiten heute immer mehr. Die Corona-Krise hat die Entwicklung beschleunigt. Gemäss einer Umfrage bei Unternehmen und Angestellten könnten rund 30 Prozent der Büroarbeitszeit im Homeoffice geleistet werden.

Homeoffice Wohnen Arbeiten

Quelle: Vinzent Weinbeer, Pixabay, Pixabay-Lizenz

Das Arbeiten im Homeoffice dürfte auch nach dem Ende der Corona-Krise verbreitet bleiben.

«Wohnen und Arbeiten – Hand in Hand?»: So lautete das Thema der Grenchner Wohntage. «Wohnen und Arbeiten werden oft als klar voneinander getrennte Welten betrachtet, die nichts miteinander zu haben», sagte Bundespräsident Guy Parmelin, der prominenteste Redner an der Fachtagung. Dabei hat sich das Verhältnis zwischen dem häuslichen Leben und der Erwerbsarbeit im Verlauf der Zeit stark gewandelt. In der Vormoderne entsprach der Haushalt einer Produktionsgemeinschaft. Mit der Industrialisierung kamen die Heimarbeit und zunehmend auch die auswärtige Lohnarbeit auf. Spätestens seit der Nachkriegszeit hat die räumliche Distanz zwischen Wohn- und Arbeitsort stark zugenommen.

Heute rücken Wohnen und Arbeiten räumlich wieder zusammen. Neue Familien- und Lebensmodelle sowie Veränderungen in der Arbeitswelt deuten auf eine Trendwende hin. Wohnorte mit kurzen Distanzen, wo sich Hausarbeit, kulturelle und gesellschaftliche Aktivitäten sowie Erwerbstätigkeit miteinander verbinden lassen, sind gefragt. Das urbane Leben mit seinen vielfältigen Möglichkeiten gewinnt an Attraktivität. Planungsbehörden sehen in der Schaffung nutzungsoffener Räume, geeignet für Wohnen und Arbeit, Möglichkeiten zur Innenentwicklung und Aufwertung des öffentlichen Raums. In dieser Annäherung erkennen auch immer mehr Unternehmen Vorteile für sich: Imagegewinne, Vereinfachung der Kundenbeziehungen oder flexiblere, Selbstverantwortung fördernde Anstellungsverhältnisse.

Wohnung als Operationszentrum

Die Corona-Krise habe das Verhältnis zwischen Arbeit und Wohnen in ein neues Licht gerückt, erklärte Parmelin. Arbeitnehmer und Schülerinnen wurden ins Homeoffice geschickt. Die Wohnung wurde plötzlich für alle Haushaltsmitglieder zu einem – je nachdem bequemen oder beengenden ­– Operationszentrum für unterschiedlichste Tätigkeiten, und dies im 24-Stunden-Betrieb. «Wohnen und Arbeiten sind nicht mehr zwei getrennte Welten, sondern gehen vielmehr ineinander über», so Parmelin. Doch die Tendenzen zur Verschmelzung der Wohn- und Arbeitswelten seien schon vorher da gewesen. Das Virus habe wie in manchen anderen Bereichen als Beschleuniger von Entwicklungen gewirkt, die ohnehin bereits im Gang waren. Die Digitalisierung habe dabei neue Möglichkeiten geschaffen.

Bundespräsident Guy Parmelin Grenchner Wohntage

Quelle: Stefan Gyr

Der Bedarf an grossen Wohnungen steige, sagte Bundespräsident Guy Parmelin.

Erste Folgen der Pandemie sind laut Parmelin jetzt schon zu sehen. Wenn die Wohnung auch zum Büro werde, benötige man mehr Platz. Der Bedarf an grossen Wohnungen steige. Das müssten Architekten schon heute berücksichtigen. Zugleich könnte die Entwicklung in den Städten zu einer grösseren Nachfrage nach Coworking-Spaces führen, weil in vielen Wohnungen zu wenig Platz für die berufliche Arbeit zur Verfügung stehe.

Nachfrage nach Büroflächen stabil

Fast die Hälfte der Erwerbstätigen in der Schweiz könnten theoretisch im Homeoffice arbeiten. Und das mobile Arbeiten wird weiter zunehmen. Das ergab eine Umfrage des Beratungsunternehmens Wüest Partner bei 500 Schweizer Unternehmen. Vor der Krise wurde der Homeoffice-Anteil an der gesamten Büroarbeitszeit in der Schweiz auf zwölf Prozent geschätzt. Heute könnten gemäss den Umfrageergebnissen rund 25 bis 30 Prozent der Büroarbeitszeit auf Distanz geleistet werden, erklärte Hervé Froidevaux, Direktor für die Suisse Romande bei Wüest Partner. Trotzdem dürfte die Nachfrage nach Büroflächen insgesamt stabil bleiben. Denn die Unternehmen wollen wachsen. Gleichzeitig wird der rückläufige Bedarf an Büroarbeitsplätzen durch andere steigende Flächenbedürfnisse wettgemacht.

Gemäss einer weiteren Umfrage von Wüest Partner bei rund 1000 privaten Haushalten würden rund drei Viertel der Büroangestellten gerne mehr im Homeoffice arbeiten. Für die Befragten liegt der optimale Homeoffice-Anteil an der Gesamtarbeitszeit bei durchschnittlich 30 bis 35 Prozent. Somit stimmen die Wünsche der Beschäftigten hier ziemlich gut mit den Erwartungen der Arbeitgeber überein. Wichtiger geworden ist für viele Arbeitnehmer die Wohnqualität. Die Bedeutung der Lage der Wohnung oder des Hauses wie auch der Inneneinrichtung hat zugenommen.

Die Telearbeit ermögliche für viele Menschen andere Arbeits- und Wohnformen, so Froidevaux. Wohnorte, die zuvor als zu weit entfernt von den Arbeitsplatzzentren galten, gewinnen an Attraktivität. Bedingung ist dabei ein schneller Zugang zu guten Grundinfrastrukturen. So erfreuen sich vor allem touristische Orte immer grösserer Beliebtheit. Auch alternative Arbeitsformen in Wohnortnähe, beispielsweise in Coworking-Spaces, dürften zunehmen. Die Anbieter flexibler Arbeitsplätze werden sich dabei wahrscheinlich immer stärker voneinander abheben, was Standort, Ausstattung, Zusatzleistungen und Preis anbelangt.

Selbstversorgung und -verwaltung

Im Freidorf in Muttenz BL wurde bereits vor 100 Jahren versucht, Wohnen und Arbeiten in Einklang zu bringen. Die Genossenschaftssiedlung mit 150 grosszügigen Wohneinheiten wurde vom späteren Bauhaus-Direktor Hannes Meyer auf der grünen Wiese vor den Toren der Stadt Basel erbaut. «Das Freidorf war von Anfang an mehr als ein Bauprojekt», sagte Conradin Bolliger von der Siedlungsgenossenschaft Freidorf. Die Gründer und Siedler waren fast ausschliesslich Mitarbeitende des Verbands Schweizerischer Konsumvereine (VSK), der heutigen Coop-Genossenschaft. Sie verfolgten eine Ideologie der Selbstversorgung und der Selbstverwaltung und wollten Wohnraum dem Profitdenken entziehen. Es gab sogar ein Freidorf-Geld, mit dem im eigenen Genossenschaftsladen bezahlt werden konnte.

Freidorf Muttenz Genossenschaftssiedlung

Quelle: nchenga, CC BY-NC 2.0, flickr.com

Genossenschaftssiedlung von internationaler Ausstrahlung: das Freidorf in Muttenz.

Das Freidorf war damit weit mehr als eine Arbeitersiedlung. Es bot nicht nur günstigen Wohnraum für die Mitarbeitenden – von Arbeitern über Kadermitglieder bis zu Direktoren. «Das Freidorf war auch ein Lebensmodell», so Bollinger. Es habe das gesamte Leben der dort wohnenden Familien geprägt. Die Genossenschaftssiedlung habe aber auch dunkle Tage durchlebt: finanzielle Abgründe, ideologische Richtungswechsel, Konflikte mit der Denkmalpflege. Heute sei das Freidorf ein Vorzeigeprojekt von internationaler Ausstrahlung, das Antrieb und Inspiration für unzählige weitere Genossenschaften sei.

Sion plant neues Mischquartier

Ein Gebiet mit Mischnutzungen wird gegenwärtig in Sion VS entwickelt: Ronquoz 21. Es erstreckt sich über 60 Hektar in unmittelbarer Nähe zum Bahnhof und Stadtzentrum. Das Areal wird heute hauptsächlich industriell genutzt. In den nächsten Jahren soll es zu einem gemischten Quartier mit Wohnungen, Büros, Läden, Gewerbe, Infrastrukturen und öffentlichen Räumen werden und so das Stadtzentrum erweitern. Dieser Wandel hat bereits 2014 mit der Ansiedelung des FH- und des ETH-Campus eingesetzt. 2050 könnte Ronquoz 21 über 12 000 Bewohner und Arbeitsplätze beherbergen, wie Stadtplanerin Lilli Monteventi Weber erklärte. Heute sind es rund 5000.

Aus einem städtebaulichen Wettbewerb der Stadt ging ein gemeinsames Projekt von Herzog & de Meuron und Michel Desvigne Paysagiste als Gewinner hervor. Dabei umrahmen die bebauten Strukturen eine grossflächige Erholungszone, und durch das Quartier zieht sich von Ost nach West ein bewaldetes Band. Der wirtschaftlichen Machbarkeit und den Grundbesitzverhältnissen sei von Anfang an das gleiche Gewicht beigemessen worden wie der formalen Qualität, sagte die Stadtplanerin.

Ronquoz 21 Sion Siegerprojekt Herzog & de Meuron

Quelle: Herzog & de Meuron

Ronquoz 21 in Sion: Das Siegerprojekt von Herzog & de Meuron und Michel Desvigne Paysagiste.

Eine weitere Voraussetzung für eine erfolgreiche Planung und Umsetzung sei eine «langfristige Gesamtkohärenz». Dieses Projekt werde sich über mindestens 30 Jahre hinweg weiterentwickeln. Eine der grössten Herausforderungen werde das Nebeneinander der heutigen industriellen Aktivitäten und der zukünftigen Nutzungsformen sein. Man habe sich deshalb für das Instrument des Leitplans entschieden, der eine gewisse Flexibilität, aber auch eine schrittweise Konsolidierung erlaube. Wichtig sei auch eine breite, regelmässige Absprache mit Vertretern der Politik und Zivilgesellschaft sowie mit den Grundeigentümern.

Weg vom Image als graue Maus

Als farblose Arbeiterstadt ist Grenchen SO verschrien. Es gibt keine historische Altstadt, keine lebendige Fussgängerpromenade und keinen direkten Gewässerzugang im Siedlungsgebiet. Der Wandel vom Bauerndorf zur Industriestadt habe sich hier sehr schnell vollzogen, sagte Stadtplaner Fabian Ochsenbein. Für die Abstimmung von Wohnen und Arbeiten sowie die Entwicklung von qualitätsvollen städtischen Räumen sei wenig Zeit geblieben. Die gewachsene kleinräumige Gewerbestruktur sei im Ortsbild noch sehr gut ablesbar.

Die Durchmischung, die sich in Grenchen natürlich ergeben hat, löst sich allerdings mehr und mehr auf. Die Wohn- und Arbeitsgebiete werden zunehmend getrennt. Das Ziel der Stadt sei es, ihre Qualitäten als Wohnort hervorzuheben und das Image als graue Maus loszuwerden, so Ochsenbein. Die Nutzungsdurchmischung soll erhalten bleiben, und attraktive Arbeitsplätze mit hoher Wertschöpfung sollen gefördert werden.

Grenchen Solothurn

Quelle: René Schulthess

Grenchen möchte verstärkt als attraktiver Wohnort in Erscheinung treten.

Bei der laufenden Ortsplanungsrevision werden entsprechende raumplanerische Massnahmen geprüft. Zur Stärkung der Identität will die Stadt publikumsorientierte Nutzungen im Zentrum fördern, neue Mischzonen festlegen und das strukturelle und bauliche Erbe besser erhalten und schützen. Eine neue Stadtachse soll eine attraktive Verbindung von den Wohnquartieren zum Zentrum und weiter zu den Arbeits- und Freizeitnutzungen im Süden der Stadt schaffen. Grenchen hat zudem erstmals zusammen mit den Nachbargemeinden Bettlach und Lengnau ein Agglomerationsprogramm erarbeitet.

Aufwertung des Bestands

Seit das revidierte Raumplanungsgesetz in Kraft getreten ist, haben Bund, Kantone und Gemeinden die Aufgabe, die Siedlungsentwicklung nach innen zu lenken, wie der Solothurner Kantonsplaner Sacha Peter erklärte. Eine solche Innenentwicklung solle die Potenziale der bestehenden Siedlungen aufgreifen und diese Gebiete zum Nutzen der Bevölkerung aufwerten. Um die Weichen für die Zukunft richtig zu stellen, müssten die Kantone und Gemeinden ihre Spielräume intelligent nutzen. Nicht überall alles, dafür das Richtige am dafür geeigneten Ort, laute hier die Kurzformel.

Eine umfassende Auseinandersetzung mit dem Bestand, das heisst mit dem bereits bebauten Gebiet, ist dabei laut Peter unerlässlich. Weitere wichtige Zutaten für eine qualitätsvolle Entwicklung seien vorausschauendes Handeln, eine Zusammenarbeit über Grenzen hinweg, die Orientierung an konkreten Fragestellungen, eine Abwägung der Interessen und Anreize. Der Solothurner Kantonsrat hat die Regierung bereits beauftragt, ein Anreizsystem zu entwickeln, um im Kanton «verdichtete, hochwertige und möglichst CO2-effiziente Bauweisen» zu fördern.

Abschied von Grenchen

«Die Wohntage haben Grenchen zur Hauptstadt des Wohnens gemacht», sagte Stadtpräsident François Scheidegger. Die Grenchner Wohntage erlebten in diesem Jahr ihre 25. Auflage. Die Jubiläumsausgabe wurde nicht als virtueller Event, sondern als Präsenzveranstaltung mit Covid-Zertifikatspflicht ausgerichtet. Denn der Anlass fand in dieser Form zum letzten Mal statt: Das Bundesamt für Wohnungswesen (BWO) kehrt Grenchen im Dezember den Rücken und zieht nach Bern. Wie es danach weitergeht, weiss noch niemand. Zwar hat laut Scheidegger ein inzwischen zurückgetretener Bundesrat versprochen, es werde die Wohntage weiter geben, wenn auch vielleicht in einer anderen Form. Doch BWO-Direktor Martin Tschirren konnte nicht viel versprechen. Man mache sich grundsätzliche Gedanken. «Eine Tagung in irgendeiner Form wird es auch in Zukunft geben. Wie und wo, ist noch offen, aber wir werden Grenchen im Herzen behalten.»

Die Wohntage wurden ins Leben gerufen, nachdem das BWO 1996 nach Grenchen gezogen war. Der Bund verfolgte damals eine gewisse Dezentralisierungsstrategie und bedachte die von der Uhrenkrise gebeutelten Städte am Jurasüdfuss mit nichtindustriellen Arbeitsplätzen: Das Bundesamt für Statistik wurde nach Neuenburg umgesiedelt, das Bundesamt für Kommunikation nach Biel und das Bundesamt für Wohnungswesen nach Grenchen. Neben dem BWO trugen die Stadt Grenchen, das Architekturforum Solothurn und der Kanton Solothurn die Wohntage.

Kernstück der Grenchner Wohntage war die Fachtagung, die sich an ein Fachpublikum aus den Bereichen Raum- und Städteplanung, Architektur, Forschung, Wissenschaft und Immobilienwirtschaft richtete. Der Anlass mauserte sich zum Stelldichein der Interessierten aus dem Wohnungswesen und wurde zu einer festen Grösse in der nationalen Agenda. In den letzten Jahren besuchten regelmässig zwischen 200 und 250 Personen die Fachtagung.

Die Themen wechselten sich ab. So diskutierten die Fachleute 2001 unter dem Titel «Wohnen: wie weiter?» die verschiedenen Vorschläge zum Mietrecht sowie zu einer zukünftigen Wohnraumförderung. Ein Dauerbrenner war das Thema des preisgünstigen Wohnraums. Mehrmals kamen die Rolle und die Bedeutung der gemeinnützigen Wohnbauträger zur Sprache. Aber auch die Aus- und Weiterbildung im Wohnungswesen war Gegenstand der Wohntage. So wurde hier das Lehrmittel «WohnRaum» für die Sekundarstufe vorgestellt, das vom BWO unterstützt wurde. In den vergangenen 25 Jahren sprachen vier Bundesräte an der Fachtagung. Mit einem Rahmenprogramm aus Kinoabenden und Ausstellungen wollten die Veranstalter zudem die breite Bevölkerung ansprechen. (stg)

Geschrieben von

Ehemaliger Redaktor Baublatt

Stefan Gyr war von April 2015 bis April 2022 als Redaktor für das Baublatt tätig. Seine Spezialgebiete waren politische, rechtliche und gesellschaftliche Fragen sowie Themen der Raumentwicklung.

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