08:38 BAUBRANCHE

Europäische Tage des Denkmals 2022: Freizeit-Denkmale

Geschrieben von: Manuel Pestalozzi (mp)
Teaserbild-Quelle: Manuel Pestalozzi

Freizeit-Bauten leisten einen wertvollen Beitrag an die Baukultur – auch in der Schweiz. Ihnen war die 29. Ausgabe der Europäischen Tage des Denkmals gewidmet. Dass sich die Themenwahl lohnte, zeigte sich in St. Gallen und in Arbon am Bodenseeufer.

Fussballstadion Espenmoos St. Gallen

Quelle: Manuel Pestalozzi

Die Tribüne am Spielfeldrand macht aus dem Espenmoos eine «Kathedrale des Fussballs».

Ohne Freizeit will der Mensch nicht leben. Er kann sie zum Ausruhen verwenden und dem Nichtstun frönen. Oder er kann sich nach freiem Willen nutzlosen Dingen hingeben, einfach weil sie Freude bereiten. Manche teilen ihre Freizeit gerne mit anderen. Gemeinsam «poolen» sie die Mussestunden. Die einen schaffen etwas miteinander, andere beteiligen oder ergötzen sich als Publikum an einem Spiel. Und schliesslich ist auch gemeinsames Nichtstun eine populäre Freizeitvariante.

So verschieden die Weisen sind, die Freizeit zu geniessen, so vielseitig sind auch die baulichen Spuren, welche sie in der Landschaft hinterlassen. Die Nationale Informationsstelle zum Kulturerbe (NIKE), die Dachorganisation, welche die von zahlreichen Institutionen organisierten Anlässe der Europäischen Tage des Denkmals zentral vermarktet, lockte das Publikum in diesem Jahr mit Kunsteisbahnen, Lustparks, antiken Amphitheatern, verschiedenen Arten von Bädern oder Sportstadien. Alle haben eine Geschichte und kämpfen um den Fortbestand in unversehrtem Zustand.

Die Themenwahl fand offenbar Anklang. NIKE registrierte am Wochenende des 10. und 11. September mehr als 45‘000 Personen, die an den verschiedenen Anlässen teilnahmen. Einen besonderer Erfolg waren die Europäischen Tage des Denkmals dieses Jahr in der Romandie, wo mehr als die Hälfte der gezählten Besucherinnen und Besucher aufmarschierten.

Einen Löwenanteil trug die Stadt Genf bei, in der es nicht bei Führungen blieb, sondern Freizeitaktivitäten angeboten wurden, beispielsweise Dayclubbing (Nachtclubbesuche bei Tag), Kajakfahrten auf der Rhone oder Fussball spielen, wo es Normalsterbliche normalerweise nicht dürfen. Ob das Bewusstsein für die Anliegen des Denkmalschutzes dabei geweckt wurde, sei dahingestellt, jedenfalls erhielt der Anlass eine erfreulich grosse Aufmerksamkeit.

Die Bedeutung des Fussballs in St. Gallen

Den Berichterstatter zog es statt nach Genf an das andere Ende der Schweiz – nach St. Gallen und Arbon. In St. Gallen lockte die Veranstaltung «Kathedralen des Fussballs». Sie fand auf der Tribüne des Stadions Espenmoos statt. «St. Gallen ist nicht nur eine Kulturstadt, sie ist auch eine Fussballstadt», hiess das Motto, das einigen leicht in den falschen Hals geraten könnte.

Niklaus Ledergerber, scheidender Leiter der städtischen Denkmalpflege, liess die Geschichte des Fussballs in St. Gallen Revue passieren. Sie begann im späten 19. Jahrhundert und war ein Import aus Rorschach, genauer aus dem dortigen Institut Wiget. Dieses beschäftigte Sprach- und Turnlehrer aus England, deren Begeisterung für das Spiel sich auf ihre Schüler übertrug. Der Ball wurde über verschiedene Wiesen gekickt: im unteren Brühl, östlich der Altstadt, oder auf der Kreuzbleiche an der westlichen Peripherie, die man sich mit dem exerzierenden Militär teilen musste. Sie gilt als Gründungsort des FC St. Gallen.

Fussballstadion Espenmoos St. Gallen

Quelle: Manuel Pestalozzi

Die Espenmoos-Tribüne kehrt der Stadt den Rücken zu – es ist allerdings ein ausgesprochen schöner Rücken.

Ein anderer Spielort war die Weiherweid, in der Nähe der Badeweiher hoch über der Stadt. Hier, im Tal der Demut, plante die Stadt gegen Ende ihrer Gründerzeit-Boomphase ein Stadion für den FC St. Gallen mit Eisfeld. Die Massentauglichkeit des Standorts war bereits 1904 mit einem Eidgenössischen Schützenfest getestet worden. Eine Kurzrecherche hat ergeben, dass die Vereinsführung des FC St. Gallen die Anlage und ihren Betrieb unter anderem mit einem Beerenverkauf bestreiten wollte. Rund um das Stadion sollten dazu Himbeerhecken gepflanzt werden.

Niklaus Ledergerber wies in seinen Ausführungen darauf hin, dass es den lokalen Vereinen damals nur zwei Mal im Jahr erlaubt war, für Spiele Eintritt zu verlangen. Das Stimmvolk der Standortgemeinde Tablat, die später in St. Gallen eingemeindet wurde, schickte das Stadionprojekt 1910 mit einer wuchtigen Mehrheit bachab. Das ist nur schon wegen dem Flurnamen schade; der Spielort «Tal der Demut» hätte wohl manchen Matchkommentar mit Würze angereichert.

Bachab bewegte sich auch die Standortsuche für ein Stadion, nämlich der Steinach entlang, die sich in der Nähe der Weiherweid in die Stadt hinabstürzt und später in einem tiefen Tobel in Richtung Bodensee fliesst. Fündig wurde man im Espenmoos, einem Plateau am westlichen Rand der Schlucht, etwas unterhalb des Stadtzentrums, im Quartier Langgass – Heiligkreuz. Seinen Namen hat es übrigens nicht vom Baum Espe, er geht zurück auf das mittelhochdeutsche Wort Ezzisch, Saatfeld.

Die Stadt besass hier ein Grundstück, das dem FC St. Gallen zur Nutzung übergeben wurde. Bereits im Oktober 1910 wurden erste Spiele ausgetragen, auf der Südwestseite des Spielfelds entstand eine Tribüne, ein reiner Holzbau. 600 Zuschauerinnen und Zuschauer liessen sich in ihr unterbringen. «Während der Anbauschlacht im Zweiten Weltkrieg weigert sich der Club, Kartoffeln anzupflanzen», erzählte Niklaus Ledergerber, «dafür liess man Schafe weiden.» Das Gastrecht wurde diesen lebenden Rasenmähern noch bis in die 1950er-Jahre gewährt.

1944 kamen in der Stadt erste ernsthafte «Sportkathedralen-Gedanken» auf. Ideen für eine Multifunktionsanlage wurden gewälzt, ohne konkrete Resultate. Statt-dessen erweiterte man die Holztribüne auf dem Espenmoos, derweil die Spieler die verbleibende Matchzeit am Turm der nahen evangelischen Kirche Heiligkreuz ablesen mussten. Aus Holz war auch die Tribüne des SC Brühl im Krontal, auf der gegenüberliegenden Seite des Steinach-Tobels. Sie brannte 1958 nieder, der Club erhielt Gastrecht im Espenmoos, bis das heutige kleine Paul-Grüninger-Stadion wieder hergerichtet war.

Fussballstadion Espenmoos St. Gallen

Quelle: Manuel Pestalozzi

Die Profilglaswand hinter den Rängen der Tribüne wurde mit einem kleidsamen Drahtgeflecht bewilligungstauglich gemacht. Die alten Sperrholz-Schalenstühle ersetzen neue Modelle, die, leicht nach hinten abgekippt, die Fluchtwegmasse einhalten.

Bratwurst oder Muschel?

Die heutige Anlage Espenmoos wurde wesentlich geprägt durch die Initiative von Carlo Calzavara und Elio Cellere, beide Bauunternehmer italienischer Abstammung und zeitweilig Präsidenten des FC St. Gallen. Sie trieben den Ausbau des Stadions voran. Bauliche Zeugin dieser Initiative ist die grosse Stadiontribüne auf der Südwestseite des Spielfelds und am Rand des Plateaus, die 1969 eingeweiht worden ist. Im Grundriss ein schmales Kreissegment, in der Ansicht vom Spielfeld her ein flacher Bogen, machte sie aus dem Espenmoos tatsächlich so etwas, wie eine Fussballkathedrale. Architekt der Tribüne war der ansässige Architekt Kurt E. Hug, der in dieser klaren geometrischen Grundform seine gestalterischen Ambitionen ausleben konnte.

Auswärtige verglichen den gekrümmten Tribünenrücken bisweilen mit einer Bratwurst, Niklaus Ledergerber findet für das Bauwerk jenen mit einer Muschel passender. Die Zuschauerränge befinden sich in einem zum Spielfeld offenen Trichter. Das amplifizierte die Anfeuerungsrufe der Fans. Man könne den Effekt aus historischen Radioübertragungen heraushören, beteuerte Ledergerber.

Als der FC St. Gallen 2008 in den Kybunpark umzog und die Stadt die Anlage übernahm, bestand kein Zweifel, dass dieses Bauwerk schützenswert war. Von 2008 bis 2020 fanden in Etappen Sanierungsarbeiten statt. Im Inneren wurden zuerst die Garderoben mit einem griffigen Farb- und Signaletikonzept erneuert. Das Foyer mit der skulpturalen, modernistischen Treppe hinter dem Hauptzugang führte man zurück in den Ursprungszustand. 

Fussballstadion Espenmoos St. Gallen

Quelle: Manuel Pestalozzi

Das Foyer unter der Tribüne mit dem skulpturalen Treppenaufgang wurde entrümpelt und in den Originalzustand zurückgeführt.

In einer zweiten Etappe wurden auch die Zuschauerränge und die Fassade des Rückens saniert. Die alten Sperrholz-Schalenstühle ersetzte man durch neue, welche dank einem leichten Abkippen nach hinten den aktuellen Fluchtwegbestimmungen genügen. Die Aufgänge mussten durch das Entfernen einiger Sitzplätze breiter gemacht werden, aber der ursprüngliche Charakter bleibt unter dem leichten, von acht Stahlstützen getragenen Wellblechdach erhalten. 

Heute dient das Espenmoos verschiedenen Sportclubs als Spielstätte, so etwa dem FC St. Gallen Frauen oder dem FC Rotmonten. Die Tribüne behält so als Zeitzeugin und «lebendes Monument» ihre ursprüngliche Zweckbestimmung und ihren Status als «Kathedrale des Fussballs». Sie dokumentiert auch einen architektonischen Entwurf, der Einfachheit mit Eleganz verbindet, souverän die Schwere des Unterbaus mit der Leichtigkeit des Dachs zusammenführt und ein konsequentes statisches Konzept sichtbar macht. «Es ist ein sehr intelligentes Projekt», so Ledergerber.

Manifest der Befreiung am Bodensee

Das zweite Ziel der Freizeit-Denkmal-exkursion befand sich nicht allzu weit der Mündung der Steinach, in Arbon. Eigentlich ausserhalb, rund anderthalb Kilometer nordwestlich des Stadtzentrums, am Ufer des Bodensees. Hier, auf dem freien Feld zwischen Bahnlinie und Schilfgürtel, entstand in den 1930er-Jahren eine wahre Oase: das Strandbad Buchhorn. 

Es besteht aus einem winkelförmigen Trakt, der eine Liegewiese nach Westen und Süden abgrenzt. Am östlichen Ende markiert ein zweigeschossiger «Verwaltungsturm» beim Bahnübergang den Eingang. Tritt man durch ihn hindurch, glaubt man sich in die Vergangenheit zurückversetzt, in eine Zeit, in der «Licht, Luft und Sonne» als Befreiung von einengenden Konventionen verstanden wurde. Die Anlage befindet sich im Ursprungszustand und wird weiterhin im ursprünglichen Sinn betrieben und genutzt.

Strandbad Buchhorn in Arbon

Quelle: Manuel Pestalozzi

Beim Bahnübergang signalisiert ein kleiner Turm mit Vordach den Eingang ins Strandbad von Arbon. Die «Gebrauchsarchitektur» aus dem Jahr 1933 ist im Originalzustand.

Die von der Sektion Ostschweiz vom Bund Schweizer Architektinnen und Architekten (BSA) organisierte Führung ging einerseits auf die sozialhistorischen Umstände der Entstehung ein. Zudem wollte sie auf die Wichtigkeit von Architekturwettbewerben für die Förderung der Baukultur hinweisen. Die Historikerin Dr. Eva Büchi, liess die Geschichte der Volksbäder Revue passieren. In diesem Gebiet ist sie Expertin und hat über das Badeleben am schweizerischen Bodensee- und Rheinufer ein Buch verfasst. Sein Titel: «Als die Moral baden ging».

Auch am Rundgang waren sittliche Vorstellungen und Bedenken im Zusammenhang mit dem Baden das Thema ihrer Ausführungen. Die Trennung der Geschlechter in den vor neugierigen Blicken geschützten Kastenbädern und die strengen Bekleidungsvorschriften in diesen Anstalten waren nicht nach jedermanns und -fraus Geschmack. «Viele Paare wollten gemeinsam Baden, deshalb zogen sie wildes Baden irgendwo am Ufer dem Kastenbad vor», erzählte Büchi. Auch in Arbon wurde wildes Baden beobachtet und mitunter auch deutlich missbilligt. Es fand auch am späteren Standort des Standbads Buchhorn statt.

Um das Bedürfnis nach dem gemeinsamen Baden in geordnete Bahnen zu lenken und ihm auch einen infrastrukturellen Rahmen zu geben, wurde 1928 die Gemeinschaftsarbeit Strandbad Arbon (Gastra) gegründet. Besonders engagiert waren neben der Gemeinde die Vereinigungen der Arbeiterschaft. «Ziel war die Lebensreform», sagte Büchi, also eine Existenz mit möglichst wenig einengenden Regeln, dafür mit viel Natur und frischer Luft – mithin eine Gegenwelt zum harten Alltag von Arbeiterinnen und Arbeitern in der Industrie.

Strandbad Buchhorn in Arbon

Quelle: Manuel Pestalozzi

Dank einer diskreten, ästhetisch zufriedenstellenden Ergänzung erreicht das Geländer der Terrasse die heute gesetzlich vorgeschriebene Höhe.

Strandbad Buchhorn in Arbon

Quelle: Manuel Pestalozzi

Die Liegewiese wird von einem winkelförmigen Gebäude eingefasst. Über den Garderoben erstreckt sich eine promenadenartige Terrasse, auf der sich auch ein Restaurant befindet.

Ueli Wepfer, Architekt aus Neuwilen, vertrat an der Führung den Organisator BSA Ostschweiz. Er hatte Recherchen zum Architekturwettbewerb und zum Autor des siegreichen Projekts angestellt, dem Architekten Edwin Bosshard. 4000 Franken Prämierung wurde den Teilnehmenden in Aussicht gestellt, als der Wettbewerb 1931 ausgeschrieben wurde. Die Projektverfasser mussten als Architekten im Thurgau zugelassen sein. Auf Edwin Bosshard, geboren 1904, traf dies zu. Nach einem längeren Aufenthalt in den USA und einem kurzen Praktikum bei Le Corbusier in Paris war er eben wieder in die Heimat zurückgekehrt und liess sich zuerst in Zürich, später in Winterthur nieder.

Sein Entwurf für das Standbad atmete den Geist der Moderne und der neuen Sachlichkeit, welche sich die Ziele der erwähnten Lebensreform zu eigen gemacht hatten. Der Betonskelettbau mit den Holzeinbauten wurde mitten in der Weltwirtschaftskrise, wie von Beginn weg geplant, in Fronarbeit ausgeführt. Die Anlage konnte auf die Badesaison 1933 eröffnet werden. Auf der grossen Sonnenterrasse, die sich über das Dach den ganzen Winkelbaus erstreckt und an ein Promenadendeck eines Ozeandampfers erinnert, fanden auch Tanzabende und Modeschauen statt.

Strandbad Buchhorn in Arbon

Quelle: Manuel Pestalozzi

Die Garderoben unter dem Betondach sind weitgehend im Originalzustand.

Seit seiner Eröffnung führte das Strandbad ein diskretes Dasein, wie es seiner schlichten Architektur auch sehr gut entspricht. Man trug ihm über die Jahrzehnte Sorge, und es präsentiert sich bis heute weitgehend im Originalzustand. In den 1990er-Jahren erfolgte eine diskrete Sanierung. Das Restaurant auf dem zum Ufer hin verlaufenden Terrassenteil wurde um eine Achse in Richtung See vergrössert. Edwin Bosshard hat den Bau derart geschickt ins Gelände eingebettet, dass es vom Zugangsweg her direkt und schwellenfrei zugänglich ist. Der Zugangsweg ist gleichzeitig auch der Radweg um den Bodensee.

Obwohl Arbon 1962 am Bodenseeufer auch noch ein Schwimmbad erhielt, mit Bassins und direkt beim Stadtzentrum, erfreut sich das weiter entfernte Strandbad nach wie vor grossen Zuspruchs. Es seien vor allem ältere Semester und Eltern mit kleinen Kindern, die hier verkehren, war auf Anfrage zu erfahren. Ein Teil der Garderoben wird mittlerweile für die Aufbewahrung tragbarer Boote und schwimmender Bretter genutzt.

Dass sich hier eine Anlage verbirgt, die es auch Wert ist, ein Freizeit-Ziel für Auswärtige zu werden, war die Erkenntnis, welche der Autor von diesen Europäischen Tagen des Denkmals mit nach Hause nahm. 

Geschrieben von

Freier Mitarbeiter für das Baublatt.

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