Blick in die Kristallkugel
Wie leben und wohnen Frau und Herr Schweizer in zwanzig Jahren? Diese Frage beantwortete die Schweizerische Vereinigung für Zukunftsforschung (swissfuture) in einer Studie. Als Ausgangslage dienten vier verschiedene wirtschaftliche und gesellschaftliche Szenarien. Daraus folgerten die Autoren entsprechende Wohn- und Siedlungsformen.
Die in der Studie vorgestellten Szenarien für das Leben in der Schweiz der Zukunft zeigen, welch vielfältige Einflüsse das Leben bestimmen. Laut swissfuture werden nicht nur ökonomische, gesetzliche und demografische Rahmenbedingungen künftige Wohnformen prägen sondern auch gesellschaftliche Werte. Dass diese eine immer wichtigere Rolle spielen, zeichnet sich laut den Studienautoren bereits heute ab. Diese Trends werden wiederum stark von den Faktoren verfügbares Einkommen, Wohnungsangebot, Sicherheit und Vorschriften beeinflusst.
Die nachfolgend skizzierten vier Szenarien zum Wertwandel bis 2030 sind zu Ende gedachte Extrementwicklungen.
Ego
Merkmale: Die Schweiz hat 9,5 Mio. Enwohner. BIP-Wachstum +2% p.a. Arbeitslosigkeit 3%. Keine EU-Mitgliedschaft. Zuwanderung netto 45'000 p.a. Medianlohn Fr. 8'500.-, Geburtenrate 1,5 Kinder. Personen/Wohnung: 2, Referenzzinssatz: 4%. Technologisch hochgerüstete Wohnungen. Viel Urbanität.
Die Wirtschaft floriert. Dank eines Ausbildungsniveaus und der Globalisierung kann sich die Mehrheit der Schweizer Bevölkerung einen aufwendigen Wohn- und Lebensstil leisten. Starke Mobilität, Zunahme von Fernbeziehungen, Patchworkfamilien sowie eine hohe Zuwanderungsrate verändern den Lebensstil nicht nur bei privilegierten Berufseliten. Weil der Energiebedarf infolge dieser Trends steigt, baut die Schweiz zwei neue Atomkraftwerke. Der Zersiedlung kann kein Einhalt geboten werden, das Mittelland ist zu einem einzigen Siedlungsbrei geworden. Zudem wurde die Lex Koller abgeschafft, aufgrund dessen hat sich der Handel mit Land und Liegenschaften globalisiert - mit hohen Preisen. Alles ist privatisiert. Die Landwirtschaft ist zu einer Mischung aus Landschaftspflege und Folklore geworden. Bevölkerungswachstum und Einwanderung hält die Bautätigkeit auf hohem Niveau.
Um den Platzbedarf zu befriedigen, entstehen in allen Städten Hochhäuser, oft direkt neben den alten Ortskernen. Die allgemeine Deregulierung führt zu einem Stilmix, Architektur ist zu eine Prestigeangelegenheit - extravagante Bauten häufen sich. Verstärkt entwickeln sich auch neue Wohnformen, wie Wohnung mit Dienstleistungsangebot. Das Haus ist für die meisten nicht mehr da, um sein ganzes Leben darin zu verbringen. Häuser und Wohnen werden verhältnismässig schnell gekauft und verkauft, entsprechend den sich ändernden Lebensumständen. Zwar wird energiebewusst gebaut, aber ein Haus muss nicht länger als 60 Jahre halten - die nächste Generation soll nach eigenem Geschmack etwas Neues realisieren. Altes wird schneller abgebrochen und neues schneller gebaut. Der Mieterschutz ist aufgehoben. Die Bedeutung genossenschaftlichen Wohnens hat abgenommen.
Clash / Wiedersprüche
Merkmale: Die Schweiz hat 8,7 Mio. Einwohner. BIP-Wastum +0,5% p.a. Arbeitslosigkeit 9%. EU-Mitgliedschaft. Zuwanderung netto 22'000 p.a. Medianlohn Fr. 7'000.-, Geburtenrate 1,2 Kinder. Personen/Wohnung: 2,4, Referenzzinssatz: 6%. 40% bis 50% der Wohnungseigentümer können die Zinsen nicht mehr bezahlen.
Gegen 2030 herrscht in ganz Europa und der Schweiz Inflation. Die hohen Hypothekarzinsen führen zum Platzen der Immobilienblase. Es wird nur noch geflickt und das Nötigste gemacht. Man schränkt sich ein. Einfache multifunktionale Möbel helfen den begrenzten Wohnraum besser auszunützen. Die Bau- und Renovationstätigkeit ist marginal.
Die Mittelschicht wird immer kleiner. Die Arbeitslosigkeit ist mit 9 Prozent hoch, Kinder sind zum Armutsrisiko geworden. Konservative Werte und Rollenmuster sind wieder verbreitet. Die Sozialwerke müssen massiv sparen und familiäre Solidarität gewinnt an Wichtigkeit. Es kommt zu starken, auch räumliche Trennungen von Ethnisch-sozialen Schichten.
Balance
Merkmale: Die Schweiz hat 9,5 Mio. Enwohner. BIP-Wachstum +1,5% p.a. Arbeitslosigkeit 2%. EU-Mitgliedschaft. Zuwanderung netto 36'000 p.a. Medianlohn Fr. 8'000.-, Geburtenrate 1,8 Kinder. Personen/Wohnung: 2,3, Referenzzinssatz: 5%, Ökologisches, altersdurchmischtes Wohnen. 2023 wurde das letzte Atomkraftwerk abgeschaltet.
Die Schweiz hat eine florierende Wirtschaft und kann es sich leisten soziale und ökologische Werte umzusetzen. Die Gesellschaft ist grün orientiert. Im Zusammenhang mit der Nettozuwanderung, dem Bevölkerungswachstums und mit den ökologischen Baustandards bewegt sich die Bauwirtschaft auf einem hohen Niveau. Die Wohnungen sind im Schnitt etwas kleiner dimensioniert, lassen sich aber wegen flexibler Strukturen multifunktional nutzen. Neue, auch genossenschaftliche Wohnformen mit mehr Eigengestaltungsmöglichkeiten sind gefragt. Alte Liegenschaften werden renoviert und allenfalls durch Anbauten ergänzt. ist immer noch wichtig beim Wohnen. Ästhetik und hohe Nachhaltigkeitsstandards sind die neuen Statussymbole.
Der Staat greift stark in Wohnfragen ein, vor allem über Quotenregelungen: Es wird genau definiert, wie viel Prozent Familien, Kinder, Senioren, Schweizer und Ausländer in den Siedlungen wohnen sollen. Die vielen Services Publiques machen einen hohen Steuerfuss nötig. Die Steuerunterschiede zwischen den Kantonen wurden eingeebnet. Die Grundstücksgewinnsteuern sind hoch, für allein bewohnte Häuser oder für Zweitwohnungen sind die Steuern prohibitiv.
Eine Minderheit von Gegnern dieser sozial grünen Politik stört die staatlich verordnete Political Correctness, die starke Einmischung des Staates in Privatbelange, der sanfte Zwang zum gemeinsamen Gärtnern, Reinigen, Kinderhüten und ständig stattfindende Vollversammlungen.
Bio Control
Merkmale: Die Schweiz hat 7,9 Mio. Enwohner. BIP-Wachstum +0,1% p.a. Arbeitslosigkeit 8%. Keine EU-Mitgliedschaft. Zuwanderung netto 0 p.a. Medianlohn Fr. 5'000.-, Geburtenrate 1,2 Kinder. Personen/Wohnung: 2,5, Referenzzinssatz: 3%. Das Scheengen-Abkommen wurde gekündigt.
2020 wurde das letzte Atomkraftwerk abgeschaltet. Mit der Aufkündigung des Scheengen-Abkommens über die Personenfreizügigkeit wird die Zuwanderung praktisch unterbunden. Der durchschnittliche Monatslohn sinkt auf 5'000 Franken. Die demographische Stagnation, der spürbare Wohlstandsverlust wirkt demotivierend. Trotz eines grosszügigen Wohnungsbestandes gibt es rigorose gesetzliche Vorschriften zu Wohnstandards im Zusammenhang mit dem Energieverbrauch. Weil sie zu viel Energie verschleudernstehen zahlreiche ältere Gebäude leer. Damit verknappt sich der Wohnraum trotz sinkender Bevölkerung und wird staatlich kontingentiert. Die Schweizer entwickeln sich aus der Not heraus zu Gärtnern und Heimwerkern. Hotel Mama wird für junge Erwachsene zum Muss. Die Bautätigkeit schrumpft auf ein Minimum, mit ein Grund für die 8 Prozent Arbeitslosigkeit.
Extrem-Szenarien als Denkanstösse
Dies vier pointiert formulierten Szenarien sind extrem. Die Zukunft dürfte irgendwo dazwischen liegen. Das mag auch die Meinung der Verfasser der Studie sein. Allerdings wird bei allen Szenarien vorausgesetzt, dass die Mehrheit des Volkes das jeweilige Szenario gutheisst - oder sich zumindest damit abgefunden hat. Einige Szenarien gehen von einem radikalen Umdenken und Neuorientieren aus. Wegen der schwierigen direktdemokratischen Entscheidungsfindungen ist es vorstellbar, dass nur der eine oder andere Denkanstoss einmal Realität wird, niemals aber ein Gesamtszenario. Das egostische, deregulierte Szenario Ego oder das durchs Band kooperative, genossenschaftliche linksgrüne Szenario Balance ist jedes auf seine Weise absolutistisch. Das aber macht die Studie interessant, weil sie bewusst macht, dass es für die Schweiz keinen grossen allein selig machenden Zukunfts-Entwurf gibt. (mai)
Aktuelle Trends und absehbare Entwicklungen
Alterung der Bevölkerung: Im Jahr 2030 werden 25% der Bevölkerung über 65 Jahre alt sein. Heute schon lebt die Hälfte der 90-Jährigen in eigenen Haushaltungen. Wohnformen, die den Bedürfnissen Betagter mehr entgegenkommen, werden immer wichtiger - auch mit Betreuung oder Teilbetreuung.
Wohnungsbestand: In den letzten 30 Jahren hat sich der Wohnungsbestand von 2,7 auf 4 Millionen erhöht. Jahr für Jahr wurden in den letzten zehn Jahren 44'000 Wohnungen erstellt. Schreibt man diese Entwicklung fort, wird es in der Schweiz 2030 etwa 4,83 Millionen Wohnungen geben. Damit wird dann rund ein Viertel der Wohnungen jünger als 20 Jahre alt sein. Daraus folgert swissfuture, dass Szenarien für neue Wohnformen mit den Hüllen und Grundrissen auskommen müssen, die bereits bestehen.
Energie:Der heute rund 2 Millionen Einheiten umfassende Gebäudepark der Schweiz benötigt rund 50 Prozent des schweizerischen Energieverbrauchs. Davon entfallen 10 Prozent auf Bauprozesse und Baumaterialien. Versorgungssicherheit und ökologische Effekte werden künftig an Bedeutung noch zunehmen.
Wohnen:Die immer weniger gradlinigen Biografien der Menschen, neue Bedürfnisse und eine Vermischung von Wohn- und Arbeitswelt, lassen erwarten, dass flexible und multifunktionale Nutzungen vermehrt gefragt werden. (mai)