Baukulturerbe in Kerzers FR: Schalten und walten und queren
Beim Bahnhof von Kerzers FR durchdringen sich die Geschichte und die Gegenwart des Verkehrs besonders intensiv. Das historische Stellwerk dokumentiert als Museum, wie einst der Schienenverkehr geregelt wurde. Die Stahl-Passerelle aus dem frühen 20. Jahrhundert konnte ebenfalls gerettet werden – man besteigt sie auf eigenes Risiko.
Quelle: Manuel Pestalozzi
Das historische Stellwerk des Bahnhofs von Kerzers steht bei der Kreuzung zweier Regionallinien. Von der historischen Passerelle bietet sich ein guter Gesamtüberblick.
Der Bahnhof von Kerzers war eine Destination an den Europäischen Tagen des Denkmals 2024. Die üblichen Führungen im Stellwerk (siehe Kasten «Führungen im Stellwerk» ganz unten) wurden entspannt ins allgemeine Besuchsprogramm des Wochenendes integriert. Das war eine kluge Idee, denn der Bahnhof passte ausgezeichnet zum Thema der Tage: «Vernetzt». Auf dem Bahnhofsareal trifft man auf «das einzige normalspurige Schienenkreuz von Streckengleisen schweizweit», wie bei Wikipedia nachzulesen ist.
Kerzers befindet sich am Südwestrand des Grossen Mooses, der landwirtschaftlich intensiv genutzten Ebene zwischen Murten-, Neuenburger- und Bielersee. Die Gemeinde liegt schon seit der Antike an wichtigen Verkehrswegen; die Römerstrasse von Aventicum (Avenches) nach Salodurum (Solothurn) führte durch den Ort. 1876 eröffneten die Chemins de fer de la Suisse Occidentale die Broyelinie. Kerzers erhielt einen Bahnhof in der Ebene westlich des Ortskerns. Die Nebenlinie führt bis heute von Lyss (BE) in südwestlicher Richtung über Murten und Payerne nach Palézieux (VD). Kerzers erhielt seinen Bahnhof. 1901 folgte die Strecke Bern-Neuenburg, erstellt von der Bern-Neuenburg-Bahn (BN), heute Teil der BLS Lötschbergbahn. Sie durchquert das Gemeindegebiet nordwestlicher Richtung und dient ebenfalls dem Regionalverkehr.
Im Winkel von 30 Grad
Die beiden Bahnlinien treffen beim Bahnhof Kerzers aufeinander. «Eigentlich wollte man damals die Strecke aus Bern in den bestehenden Bahnhof einleiten», erklärt Pio Brönnimann. Das Gründungsmitglied des Vereins Passerelle Kerzers weiss über die Geschichte Bescheid und kann auch sagen, weshalb es nicht dazu gekommen ist: «Die Bauern wollten das Land nordwestlich des Bahnhofs für den Bogen durchs Moos in Richtung Neuenburg nicht abgeben.» Daher entschied man sich für eine raum- und schienensparende Kreuzung der beiden Linien etwas südlich der Bahnhofgebäude, in einem Winkel von 30 Grad. Die Züge nach Neuenburg halten nach der Kreuzung südwestlich des Bahnhofs, in einer sanft geschwungenen Linkskurve unter dem weiten Himmel vom Grossen Moos. Perrons flankieren die Gleise, sie sind bis heute nicht überdacht. Ein historisches und zwei modernere Wartehäuschen bieten etwas Witterungsschutz. Heute von Bern eintreffende S-Bahnkurse werden in dieser Kurve getrennt; der vordere Teil der Komposition fährt nach Neuenburg, der hintere mit umgekehrter Fahrtrichtung durch das Broyetal nach Murten – über eines der beiden Verbindungsgleise auf den stumpfwinkligen Seiten des Kreuzes. Bei den S-Bahnkursen nach Bern werden die Zugteile hier wieder zusammengefügt.
Quelle: ETH-Bibliothek Zürich, Bildarchiv / Stiftung Luftbild Schweiz
Die Luftaufnahme aus dem Jahr 1949 zeigt den Bahnhof, die Passerelle und die Kreuzung. Die Gleise konnten auch ebenerdig überquert werden.
Quelle: Manuel Pestalozzi
Vom «Befehlsraum» des Stellwerks hat man einen direkten Blick auf die Gleisraute, die den Kreuzungspunkt konstituiert.
Dieses Kreuzen, Koppeln und Entkoppeln wird durch das Stellwerk von Kerzers symbolisiert. Der schmale zweigeschossige Bau mit Giebeldach und vormodernen Fensterbändern darunter steht im spitzen Gleiswinkel nördlich der Kreuzung, parallel ausgerichtet zur Broyelinie und dem Bahnhof gegenüber von deren Gleisen. Der freistehende und exponierte Bau, um 1901 fertiggestellt, gilt als Vertreter der ersten Stellwerkgeneration. Er steht als technikgeschichtliches und eisenbahnbetriebliches Kulturgut von nationaler Bedeutung unter Denkmalschutz und darf als eines der Wahrzeichen von Kerzers bezeichnet werden.
Das Stellwerk erfuhr über die Jahrzehnte verschiedene technische Updates und auch eine Verlängerung nach Süden. Man achtete aber darauf, dass der ursprüngliche Charakter gewahrt wurde. So konnte die Anlage in den ersten Jahren des 21. Jahrhunderts elegant und diskret in ein Museum verwandelt werden. Seit die Weichen in Kerzers von Spiez BE aus gestellt werden, wäre eigentlich ein Rückbau des Gebäudes möglich. Die Bevölkerung wünschte sich aber dessen Erhalt. Diesem Wunsch wurde nach einem längeren Kampf entsprochen. Der Verein Stellwerk Kerzers ist seither für den Betrieb verantwortlich. Sowohl die ursprüngliche mechanische Weichenstellanlage wie auch die elektrische aus den 1960er-Jahren sind intakt und lassen sich erläutern und auch bedienen. Noch immer sind im Gebäude die Transmissionsdrähte gespannt, mit welchen einst die Weichen und Signale umgestellt wurden.
Auch alle, die sich für Architektur interessieren, kommen beim Stellwerk auf ihre Rechnung. Die Konstruktion ist einfach und inspirierend: Das «Befehlswerk» über den Gleisen lagert auf einem massiv gemauerten und verputzten Sockelgeschoss. Es ist über eine Aussentreppe aus Stahl zu erreichen. Der Boden besteht aus Doppel-T-Trägern, die als Konsolen in der Fassade erkennbar sind. Der Aufbau wurde in Holzriegelbauweise ausgeführt. Die geschlossenen Partien fachte man mit roten Sichtbacksteinen aus, wobei jedes Feld ein geometrisches Ornament aus hellen Steinen erhielt. Sämtliche Bauteile sind noch weitgehend im Originalzustand. Die Fenster wurden durch eine mit Isolierverglasung versehene Neukonstruktion mit aufgesetzten Sprossen ersetzt. Das Bauwerk, heute im Besitz der Gemeinde Kerzers, ist gleichzeitig schmuck und kompakt. Es verbindet die von seiner ursprünglichen Aufgabe geforderte Sachlichkeit mit dem Wunsch nach bescheidener Anmut und ist somit eine prominente Hommage an die baukulturelle Relevanz aller Technik- und Infrastrukturbauten.
Quelle: Manuel Pestalozzi
Zum Stellwerksmuseum gehört auch eine vollständige und funktionstüchtige Läutwerkgruppe.
Quelle: Manuel Pestalozzi
Der «Befehlsraum» ist noch bedienbar. Die Fenster wurden ersetzt, mit einer vorgesetzten ursprünglichen Sprossengliederung.
Passerelle als «Kirsche auf dem Sahnehäubchen»
Zur Kreuzung gehört neben dem Stellwerk auch eine Passerelle. Sie verläuft zwischen diesem und der Gleisraute. Viele Einheimische sind wie beim Stellwerk auch mit ihr eine emotionale Bindung eingegangen. Ihr Bau folgte auf die Einweihung der Linie Bern-Neuenburg. Sie verbindet die Gemeinde mit ihrer einstigen Allmend und dem Grossen Moos, führte ursprünglich also vom Siedlungsgebiet ins Ackerland. Als Grund für den Bau wird der Wunsch der Gemeinde genannt, einen früheren Niveauübergang zu ersetzen. Historische Aufnahmen zeigen allerdings, dass diese Verbindung über das Bahnhofgelände mit den ebenerdig verlegten Gleisen recht mühelos und möglich war, ohne Treppensteigen, ohne Umweg und auch mit kleineren Fahrzeugen – so, wie es auch die Kundschaft der Bahn tun musste. Die Vermutung liegt deshalb nahe, dass bei der Passerelle eine Spur urbane Sehnsucht mitspielte und man den Bahnhof um ein aufregendes «städtisches» Element ergänzen wollte. Dass die Stahlfachwerk-Konstruktion im Volksmund auch «Eiffelturm von Kerzers» genannt wird, deutet ebenfalls an, dass die Passerelle als eine Anbindung an die moderne Welt aufgefasst wurde. Primär ist der Übergang ein Aussichtspunkt, der einen weiträumigen Blick auf den Kerzner Abschnitt dieser modernen Welt gestattet. Der Stahl für die Konstruktion stammte übrigens aus dem Werk Differdingen in Luxemburg, auch bekannt für seine charakteristischen Breitflanschträger, wie sie gemäss der Legende beim richtigen Eiffelturm ähnlich verbaut wurden.
Auch diesem in die Jahre gekommenen Bauwerk drohte der Abriss. «Nach der Einweihung der neuen Bahnhofsunterführung beschlossen die Verantwortlichen die Entfernung», erzählt Pio Brönnimann. Der Bauingenieur führte mit anderen den Protest dagegen an und leistete einen wesentlichen Beitrag an den Fortbestand der historischen Struktur an ihrem ursprünglichen Ort. Dabei waren zahlreiche Herausforderungen zu meistern – vor allem solche technischer und regulatorischer Natur. So musste die Überquerung beispielsweise angehoben werden, um dem Lichtraumprofil von Doppelstock-Zugkompositionen zu entsprechen. Heute steht die Passerelle auf diskreten Betonsockeln, die einige zusätzliche Stufen notwendig machte. Die historische Struktur ist nun ein abgehobenes und begehbares Museumsstück. Es bleibt eine beliebte Aussichtswarte über dem Bahnbetrieb.
Für die dringend nötige Sanierung wurde die Konstruktion der Passerelle zerlegt, im Werk sandgestrahlt und gestrichen. Zu stark beeinträchtigte Teile ersetzte man. Das Vorgehen war pragmatisch; defekte Nieten wurden durch Schrauben ersetzt, deren Köpfe teilweise Nieten imitieren. Neue Leuchtkörper, die sich im Stil der Passerelle angleichen, sorgen bei Dunkelheit für einen sicheren Tritt. Über den Fahrleitungen brachte man hinter den Fachwerkträgern schützende Gitter und Bleche an. Dennoch entsprechen insgesamt die Absturzsicherungen nicht den gängigen Normen – und wieder einmal wundert man sich, welchen Gefahren unsere Vorfahren ihre Mitmenschen aussetzten. Trotzdem liess sich ein Kompromiss finden. Schilder auf den untersten Stufen auf beiden Seiten der Passerelle warnen: Betreten auf eigene Gefahr. Finanziert wurde die Sanierung durch Sammelaktionen, wobei der Kanton Freiburg und der Bund die wichtigsten Spender waren. Auch die SBB beteiligte sich an den Konservierungsanstrengungen. Die 2021 wiedereröffnete Passerelle steht nun unter der Obhut des Vereins, und auch dieses Wahrzeichen von Kerzers darf einer gedeihlichen Zukunft entgegenblicken.
Führungen im Stellwerk
Der Verein Stellwerk bietet auf dem Bahnhofsgelände Führungen an, bei denen die mechanischen Funktionen der Stellwerksanlage demonstriert werden und sich das Stellwerk besuchen lässt. Die Relaistechnik der Stellwerkelektrik funktioniert und wird zu Museumszwecken unterhalten. Originalsteuerbefehle des heutigen BLS-Stellwerks lassen sich durch ein Interface in der historischen Anlage lesbar machen. Alles funktioniert wieder wie in alten Zeiten: Signale, Barrieren, Weichenrückmeldungen, Blockausleitungen werden in der historischen Anlage angezeigt. Die Führungen finden auf Anmeldung statt und stellen unter anderem auch eine anregende «promenade architecturale» in Aussicht.