Bauen mit lebendem Material
Baubotaniker versuchen, die ästhetischen Qualitäten wachsender Pflanzen mit den Anforderungen statischer Prinzipien und den Mitteln architektonischer Konstruktion zu verbinden. Das Ergebnis: Pflanzen-Bauwerke, die als autonome Persönlichkeiten bestehen.
Der Begriff «Baubotanik» wurde am Institut «Grundlagen Moderner Architektur und Entwerfen» der Universität Stuttgart entwickelt und beschreibt die Idee, architektonische Tragstrukturen mit lebenden Holzpflanzen zu bilden. Hinter diesem Ansatz steht ein Anliegen, das in der Geschichte der modernen Architektur zu ganz unterschiedlichen Experimenten mit den verschiedensten Technologien geführt hat: Die Belebung und Verlebendigung der toten, gebauten Welt.
Die «Baubotanische Pflanze»
Baubotanische Gebilde und Bauwerke, die Pflanzen nicht als Gestaltungselement, sondern als wesentlichen Bestandteil der Konstruktion verwenden, sind lebende Bauten im wörtlichen Sinn: Weil die Lebensäusserungen der Pflanze zu Lebensäusserungen des gesamten Bauwerks werden. Im Frühling entfaltet nicht nur die einzelne Pflanze ihre Blätter – die architektonische Konstruktion als Ganzes spriesst und grünt. «Lebende Bauten wie unser Gartenpavillon aus über hundert Weidenstämmlingen ändern ihr Aussehen auf harmonische, sehr natürliche Weise im Rhythmus der Jahreszeiten», erzählt Thomas Speck, Direktor des Botanischen Gartens in Freiburg. «Welches andere Bauwerk kann so viele verschiedene Gesichter zeigen?» Technische und pflanzliche Elemente werden in der Baubotanik so miteinander verbunden, dass sie zu einer gemeinsamen Struktur verwachsen und einzelne Pflanzen zu einem neuen, grösseren Gesamtorganismus verschmelzen. Der Architekt konstruiert ein Bauwerk, gleichzeitig aber auch einen pflanzlichen Organismus: die «baubotanische Pflanze». Sie entsteht durch den Akt des Bauens in ihrer geplanten Grösse – unterscheidet sich diesbezüglich also von einem gewöhnlichen Baum, der einen kontinuierlichen Wachstumsprozess durchläuft.
Mit der baulichen Fertigstellung ist das lebendige Bauwerk dennoch nicht abgeschlossen. Da Pflanzen-Bauten in der Regel über kein Fundament im herkömmlichen Sinn verfügen, werden alle Lasten ausschliesslich von der lebenden Tragstruktur aufgenommen und dann in den Boden abgeleitet – dort ist das Bauwerk durch die Wurzeln verankert. Durch Dickenwachstum müssen sich die anfangs flexiblen und dünnen Pflanzenstämme also noch zu einem zunehmend robusten und belastbaren biologischen Gerüst entwickeln. Thomas Speck fasziniert dabei die Fähigkeit der Pflanzen, sich selbstständig an die Lasten zu adaptieren: «An Konstruktionspunkten, an denen starke Belastungen etwa durch Wind auftreten, bilden die Stämmlinge mehr Holz aus.»
Die Natur biegen und formen
Nur wenige Pflanzenarten kommen für baubotanische Konstruktionen in Frage. Denn die morphologischen und biomechanischen Anforderungen, die an das lebende Baumaterial gestellt werden, sind hoch. «Pflanzen, die man zu komplexen Strukturen verbinden möchte, müssen möglichst lange, dünne Stämmlinge von vier bis sechs Metern ausbilden, flexibel und verformbar sein, aber dennoch eine hohe Festigkeit und dynamische Belastbarkeit aufweisen», sagt Speck. Darüber hinaus sollten die Pflanzenstämme ein mechanisch 'gutmütiges' Bruchverhalten (nicht splitternd) und die Fähigkeit zur Schwingungsdämpfung zeigen, schnell wachsen und sich im Boden selbstständig bewurzeln. Weitere wichtige Eigenschaften: hohe Regenerationsfähigkeit, schnelle Anpassung an wechselnde äussere Einflüsse, allgemeine Robustheit und hohe Resistenz gegen Schädlinge und Fäulnisbakterien. «Ganz wesentlich ist auch die Fähigkeit der Pflanze zu Kontaktverwachsungen mit Nachbarstämmen.» Anzuchtversuche und Bauexperimente verschiedener Forschungsinstitute haben gezeigt, dass Weiden, Pfahlrohr, Bambus, verschiedene Kletterpflanzen und vor allem Platanen besonders geeignete Eigenschaften aufweisen, zu temporären Leichtbauwerken – Pavillons, Lauben, Festzelten, Naturzäunen, Kinderspiel-Iglus – verarbeitet zu werden. Da Pflanzen-Bauwerke naturfreundlich konstruiert sind, sieht Thomas Speck weitere Einsatzmöglichkeiten in Naturschutzgebieten, «ich denke da an Vogelbeobachtungsstationen oder Aussichtsplattformen».
Der Architekt als Gärtner
Ein Architekt, der mit lebenden Pflanzen arbeitet, ist weniger Autokrat als Gärtner. Denn ein baubotanisches Werk funktioniert nur, wenn architektonische Idealvorstellungen mit den Gesetzmässigkeiten pflanzlichen Wachstums in Einklang gebracht werden können. Dem lebenden Baumaterial muss der Raum zugestanden werden, den es für seine Lebensvorgänge – zum Beispiel die Photosynthese – benötigt. Darüber hinaus bleibt das Bauwerk nur vital, wenn die «baubotanische Pflanze» ausgezeichnete Bedingungen vorfindet – und zeitlebens aufmerksam gepflegt wird. «Lebende Bauten machen Arbeit», sagt Thomas Speck und lacht, «sie wollen versorgt, gedüngt, eventuell bewässert und beschnitten werden, im Herbst muss das Laub weggeräumt werden.» Durch starke Verwilderung büssen Pflanzen-Bauten ihren architektonischen Charakter ein und verlieren schnell ihre Nutzbarkeit. Diese Abhängigkeit des pflanzlichen Bauwerks von seiner Pflege und den Standortbedingungen, gleichzeitig aber auch seine – notwendige – Anpassung an die gegebenen Umweltfaktoren, führen zu einer architektonischen Gesamtgestalt, die aus den Ereignissen resultiert, denen es im Lauf der Zeit ausgesetzt sein wird.
Autonomie der Natur
Der Architekt als Gärtner – er konstruiert also kein fertiges Gebäude, sondern plant und baut eine Ausgangskonfiguration, die den Entwicklungsprozessen eines lebenden Organismus unterworfen ist. Die Grundgeometrie bleibt zwar erhalten, doch verändern die Pflanzen durch teilautonome Wachstumsprozesse und kontinuierliche Adaption an das Ökosystem Stabilität, Funktionalität und nicht zuletzt auch Ästhetik, Form und Charakter des Bauwerks. Die Natur hat ihren eigenen Willen, durchkreuzt architektonische Planungen und botanische Vorhersagen – und macht gerade dadurch das Bauwerk zu einer autonomen Persönlichkeit.
von Alice Werner
Historischer Abriss
Pflanzen-Bauwerke sind in der Geschichte der europäischen Gartenkultur seit dem neunzehnten Jahrhundert dokumentiert. Drei bekannte Naturbau-Pioniere sind der schottische Geologe James Hall, der Gartenbauingenieur Arthur Wiechula und der amerikanische Farmer Axel Erlandson. Hall und Wiechula, fasziniert von den Prinzipien der gotischen Architektur, versuchten Formen – etwa aus gotischen Fenstern – mit Pflanzenmaterial nachzubilden. Wiechula sah besonders in der Gartenbaukunst Einsatzmöglichkeiten dieses Naturbauverfahrens. Der Amerikaner Erlandson dagegen wurde für seine architektonischen Baumplastiken berühmt: 1947 eröffnete er seinen ersten «Tree-Circus». Ausgestellt waren Pflanzen, die Erlandson in botanisch-technischen Experimenten zu geometrischen Strukturen und Gebrauchsgegenständen wie Leitern und Stühlen verwachsen liess.
Als Urform der Baubotanik gilt die Biotechnik der Khasi, eines Volkstammes im ostindischen Regenwald. Diese nutzen bereits seit Jahrtausenden das spezielle Wachstumsmuster der tropischen Würgefeige, um lebende Brücken zu bauen: Die langen Luftwurzeln, die der Baum ausbildet, werden über einen Fluss geleitet und zu netzartigen Gitterstrukturen verflochten. An den Kreuzungsstellen verwachsen die Wurzeln und verholzen mit der Zeit – eine stabile, begehbare Konstruktion entsteht.
Der Architektur-Futurist
Seine Ideen für die Zukunft könnten einem Science Fiction Film entsprungen sein: Lebende Häuser aus tierischem und pflanzlichem Gewebe. Den Plan, Architektur und Natur zu vereinen, umschreibt Mitchell Joachim mit dem Begriff Permakultur – Nahrungsproduktion, Energieversorgung, Landschaftsplanung und die Gestaltung sozialer Infrastruktur soll auf Basis ethischer Prinzipien zusammengebracht werden. Der 38-jährige Visionär ist Professor für Architektur an der renommierten New York University und Mitbegründer des Designbüros Terreform ONE – die Abkürzung steht für «Open Network Ecology» – einer Nonprofitkooperative für «philanthropische Architektur, Städtebau und ökologisches Design». Sein Projekt «Fab Tree Hab», bei dem Holzgewächse um eine Sperrholzkonstruktion wachsen, wurde im Museum of Modern Art (MoMa) in New York ausgestellt.
Seine Ideen für die Zukunft könnten einem Science Fiction Film entsprungen sein: Lebende Häuser aus tierischem und pflanzlichem Gewebe. Den Plan, Architektur und Natur zu vereinen, umschreibt Mitchell Joachim mit dem Begriff Permakultur – Nahrungsproduktion, Energieversorgung, Landschaftsplanung und die Gestaltung sozialer Infrastruktur soll auf Basis ethischer Prinzipien zusammengebracht werden. Der 38-jährige Visionär ist Professor für Architektur an der renommierten New York University und Mitbegründer des Designbüros Terreform ONE – die Abkürzung steht für «Open Network Ecology» – einer Nonprofitkooperative für «philanthropische Architektur, Städtebau und ökologisches Design». Sein Projekt «Fab Tree Hab», bei dem Holzgewächse um eine Sperrholzkonstruktion wachsen, wurde im Museum of Modern Art (MoMa) in New York ausgestellt. (aw)