Distanz halten: Architekturhistorische Überlegungen zur Pandemie
«Soziale Distanz» bezeichnete bisher das Verhältnis
gesellschaftlicher Gruppen zueinander. Nun hat der Begriff eine komplett neue Bedeutung gewonnen. Die Publikation «Social Distance» des gta Verlags der ETH
Zürich dokumentiert bau- und architekturgeschichtliche Fakten zum Thema
«Abstand halten».
Quelle: Gerd Eichmann, CC BY-SA 4.0
«Abstand halten» ist seit letztem Jahr jedem vertraut. Beispiele der freiwilligen oder erzwungenen Distanzierung und damit verbundene bauliche Massnahmen sind seit Jahrhunderten dokumentiert.
Spätestens seit März 2020 ist es in aller Munde: «Social
Distancing». Abstand halten – in Fall der Coronavirus-Pandemie hiess es für
alle Isolation. Möglichst wenig Kontakt zu anderen Personen, keine Reisen,
Grenzschliessung, obligatorisches Homeoffice, Schulen geschlossen, keine
Besuche und Feste, PCR-Tests und Quarantäne. Die Menschen waren allein und
isoliert.
Und dennoch ist soziale Distanz keine Neuheit in der
Geschichte der Menschheit. «gta papers» hat diesbezüglich nach Details der
Architekturgeschichte gesucht. Als Anfang 2020 mit dem Zusammentragen des
Materials begonnen wurde, gab es Bedenken, dass zum Erscheinungstermin des
Buches die Krise bereits vorbei und halb vergessen sein könnte, so Herausgeber
Adam Jasper. Dies sei leider nicht der Fall, und so könne dieses Buch einen
Vergleich der aktuellen Situation – der neuartigen Coronavirus-Pandemie – mit
historischen Ereignissen herstellen.
Quelle: zvg
Innenseite der Buches: Abstand hielten und halten auch gehobenere Kreise, die sich bei kulturellen Events in eigener Loge präsentieren.
Gesellschaftliche Abgrenzung
Soziale Distanz ist ein subjektives Gefühl von Individuen,
welches das Mass der Zugehörigkeit zu anderen Mitgliedern der Gesellschaft
bestimmt. Sichtbar wird dies unter anderem in der Zugehörigkeit zu Kasten,
Klassen, Bevölkerungsschichten oder der machthabenden Elite. Diese Herkunft
oder Zugehörigkeit prägt dabei auch das Verhalten zueinander.
Noch heute besteht beispielsweise in Indien ein
Kastensystem, wo ein Hindu das ganze Leben lang an seine Kaste gebunden bleibt.
Diese menschenverachtende Einteilung ist laut der indischen Verfassung seit
1950 zwar rechtwidrig, doch die Realität ist anders. Doch auch in hochentwickelten
Demokratien herrscht immer noch Ausgrenzung. Psychisch Kranke oder Behinderte
werden weggesperrt. Bettler und Obdachlose sind im Alltag im öffentlichen Raum
nicht gern gesehen und werden lieber auf Distanz gehalten.
Quelle: Thomas Led, CC BY-SA 4.0
Die Wiener Pestsäule (einem so benannten Straßenzug) in der Wiener Innenstadt wurde nach der Pestaepidemie von 1679 errichtet.
Seuchen und Epidemien
Abstand halten und möglichst direkten Kontakt vermeiden war
auch im Mittelalter die einzige Möglichkeit, dem schwarzen Tod zu entgehen.
Pestepidemien rafften rund ein Drittel der Bevölkerung dahin. In der Wiener
Innenstadt erinnert die 21 Meter hohe barocke Pestsäule an die schlimmste
Pestepidemie in der Kaiserstadt im Jahr 1678.
Sie war als Mittelpunkt von Fürbitten, Litaneien und anderen
zeremoniellen Handlungen zur Abwendung der Seuche gedacht und wurde am
29. Oktober 1693 geweiht. Eine praktischere Massnahme war hingegen die
Errichtung sogenannter Pestmauern in den Städten und Dörfern, um Erkrankte und
Verstorbene zu isolieren. Eine der längsten ist die fast 25 Kilometer lange,
zwei Meter hohe Mauer im französischen Hochland des Comtat Venaissin. Sie wurde
ab dem Jahr 1721 errichtet, um die Ausbreitung der zwischen 1720 und 1723 in
der Provence wütenden Pest zu verhindern.
Quelle: Cornelius Hartz / pixelio.de
Im Jahre 1666 wurde über die Hälfte der Mainz-Kasteler Bevölkerung von der Pest dahingerafft. Um die katholische Kirche erbaute man eine sogenannte Pestmauer zur Eindämmung der Seuche. Dahinter wurden Kranke betreut und Verstorbene rund um das Gotteshaus bestattet.
Auch andere Epidemien wie die Cholera zwangen die Menschen
zu Massnahmen. Immer dichter besiedelte Gebiete boten ideale Voraussetzung zur
Ausbreitung von Krankheiten. Mangelnde Kenntnis und desaströse hygienische
Zustände führten zu einer hoher Kindersterblichkeit und niedrigen
Lebenserwartung. Cholerakarten geben heute noch Auskunft über die Ausbreitung in
europäischen Grossstädten im 19. Jahrhundert.
Es ist eine nicht leicht zu lesende Publikation. Vielen Aspekte, die teilweise weit in der Geschichte zurückliegen, zeigen, dass «Abstand halten» schon viele Generationen vor uns praktizieren mussten. Viele der gewonnenen Erkenntnisse dienten zu städtebaulichen Änderungen zugunsten der Hygiene und Gesundheitsvorsorge, von denen wir heute profitieren.
Quelle: zvg
Buchseite : Die Londoner Mauer und die Grosse Pest von 1665.
Buchtipp: Social Distance
gta papers 5, ETH Zürich, gta Verlag, 2021; Herausgeber Adam Jasper; mit Beiträgen diverser Autoren; Broschur; 198 Seiten, 109 Abbildungen; in englischer Sprache; ISBN 978-3-85676-415-9; 25 Franken