08:59 BAUPROJEKTE

Wohnüberbauung «Am Rain» in Luzern: Das, was bleibt, wird ganz anders

Geschrieben von: Manuel Pestalozzi (mp)
Teaserbild-Quelle: Bischof Föhn Architekten ETH SIA, Zürich

Die Wohngenossenschaft Geissenstein hat südlich von Luzerns Stadtzentrum ein kleines Wohnquartier errichtet. Die Bautätigkeit erstreckte sich über weite Teile des 20. Jahrhunderts, aber das ursprüngliche Ideal der Gartenstadt ging nie verloren. Die Aktualisierung eines Teilgebiets wird dieses Ideal neu interpretieren – unter Nutzung der bestehenden Bausubstanz, wie das siegreiche Projekt eines Projektwettbewerbs vorsieht.

Visualisierung Wohnüberbauung Am Rain Luzern

Quelle: Bischof Föhn Architekten ETH SIA, Zürich

Der bestehende Strassenzug «Am Rain» soll zu einer Spielstrasse und zu einem Begegnungsort werden.

Das Gebiet Geissenstein befindet sich auf einer Geländeterrasse am Nordhang des Biregghügels. Unter ihr liegt die Ebene am südlichen Seeufer, in der sich das Gleisfeld von Luzerns Bahnhof ausbreitet. Auf dem Land des Anwesens Obergeissenstein realisierte die Eisenbahner-Baugenossenschaft Luzern, die heutige Wohngenossenschaft Geissenstein – EBG, ab 1912 eine Wohnsiedlung. Grundlage für die Anlage war der städtebauliche Entwurf des Luzerner Architekturbüros Möri und Krebs. Er entstammte einem internationalen Wettbewerb, dem die damalige Idee der Gartenstadt zugrunde lag. 

Gefragt waren geräumige, helle, heizbare Wohnungen, mit WC und zumeist auch Badezimmer in der eigenen Wohnung. Um eine gesunde Ernährung sicherzustellen, wurde für jede Wohnung ein Pflanzblätz für die Eigenversorgung verlangt. Der Entwurf verinnerlichte städtebauliche Prinzipien des damals einflussreichen Österreichers Camillo Sitte, die an verschiedenen Orten im deutschen Sprachraum zu anmutigen, oft dörflich wirkenden Stadtquartieren führte, die alle miteinander verwandt zu sein scheinen. Die Erweiterung der Siedlung erfolgte in diversen Schritten bis in die 1960er-Jahre.

Im Quartier sind heute Baustile und städtebauliche Vorstellungen aus unterschiedlichen Epochen präsent, immer mit dem Plan von Möri und Krebs als Hintergrund und dem in den frühen 1930er-Jahren realisierten «Dorfplatz» mit einem im Grundriss «z»-förmigen Repräsentativbau mit Konsum und Turmuhr als Zentrum. Von 2010 bis 2013 wurden südlich und östlich des Dorfplatzes Ersatzneubauten realisiert. Diese übernahmen Proportionen und Ausrichtung vom Bestand, so dass Alt und Neu eine Einheit bilden. Das ganze Gebiet der Siedlung ist im Bundesinventar der schützenswerten Ortsbilder der Schweiz von nationaler Bedeutung, abgekürzt ISOS, erfasst, mit unterschiedlichen Erhaltenszielen. Die Quartierstruktur ist weitgehend zu erhalten.

Quartier Geissenstein Luzern um 1920

Quelle: ETH-Bibliothek Zürich, Bildarchiv / Fotograf: Unbekannt / Ans_14515 / Public Domain Mark

Um 1920 wirkte das Quartier Geissenstein noch sehr ländlich.

Hohe Priorität für Freiräume

Der vorliegende Wettbewerb befasste sich mit der Teilsiedlung «Am Rain» mit sechs Mehrfamilienhäusern und Gartenparzellen entlang des gleichnamigen Strassenzuges. Sie befindet sich am nordöstlichen Rand des Quartiers und entstand im Zuge der zweiten Bauphase zwischen 1930 – 1955, zur selben Zeit wie der erwähnte Dorfplatz. Der Baubestand wurde damals nach Osten mit schlichten Blockbauten ergänzt, die Geschossigkeit erhöhte man gegenüber den älteren Bauten geringfügig.

Die Wohngenossenschaft kam in den vergangenen Jahren zum Schluss, dass die bestehende Wohnüberbauung «Am Rain» nicht mehr den Anforderungen an die heutigen Standards entspricht. Die Bausubstanz erachtete man als sanierungsbedürftig. Ersatzneubauten waren bereits vorher, im Zuge der erwähnten Erneuerung im südlich anschliessenden Gebiet, angedacht gewesen, Zustandsanalysen unterstützen auch jetzt eine Lösung mit Ersatzneubauten. Mit dem Projektwettbewerb im offenen Verfahren wurde nach einer solchen gesucht. Hohe Priorität hatte eine besonders sensible Eingliederung in den ortsbaulichen Kontext, unter Berücksichtigung bisheriger Studien, dem Umgebungskonzept Geissenstein und der Stellungnahme der Stadtbaukommission. Die neue Wohnüberbauung hatte eine ortsbaulich verträgliche Bebauungsdichte mit vier überirdischen Geschossen aufzuweisen, anzustreben war eine Geschossfläche von zirka 6000 Quadratmetern, die aber 6500 Quadratmeter nicht übersteigen durfte. Als sehr wichtig wurde auch der Umgang mit den Freiräumen bezeichnet. Ihnen spricht man eine wichtige Rolle im gemeinschaftlichen Zusammenleben zu, man betrachtet sie als identitätsstiftend für die Gartenstadt-Siedlung.

Zur Wunschliste der Genossenschaft zählte ausserdem die Sicherstellung eines preisgünstigen Wohnangebots. Angesagt war ein einfaches statisches Konzept mit übereinander liegender Tragstruktur und Schächten mit durchgehender vertikaler Lastabführung sowie Bausysteme, welche eine einfache, unabhängige Erneuerung der einzelnen Bauteile mit unterschiedlicher Lebensdauer ermöglichen. Zur Erreichung der Zielwerte vom SIA-Effizienzpfad Energie erwartete man Baukörper mit guter Kompaktheit. Hinsichtlich der Bewohnerinnen und Bewohner möchte man eine gute Durchmischung erreichen, mit verschiedenen Wohnungstypen. Als Zielwert wurden insgesamt 55 Wohnungen genannt. Auf eine Autoeinstellhalle wollte man nicht verzichten.

Wohnüberbauung Am Rain Luzern Situation

Quelle: Bischof Föhn Architekten ETH SIA, Zürich

Im siegreichen Wettbewerbsprojekt werden fünf der sechs Bestandsbauten mit An- und Aufbauten ergänzt. Der sechste Bau weicht einem kreisrunden Pavillon und einer unterirdischen Einstellhalle.

Wohnüberbauung Am Rain Luzern Erdgeschoss

Quelle: Bischof Föhn Architekten ETH SIA, Zürich

Der Siedlungsteil ist gut ins Wegnetz eingebunden. Die Plattform am oberen linken Bildrand wird eine Aussicht auf die Umgebung und den See bieten.

Mit Bestand weiterplanen

59 Entwurfsteams meldeten sich zum Verfahren an, 50 von ihnen reichten Projekte ein, die alle ein Vorprüfungsverfahren überstanden. Die anschliessende Begutachtung durch die Wettbewerbsjury mündete in einer Rangierung von sechs Projekten und in die einstimmig abgegebene Empfehlung an die Wohngenossenschaft Geissenstein, das Team des Projektbeitrags «… täglich frisches Obst und Gemüse» um das Büro Bischof Föhn Architekten ETH SIA, Zürich, mit der Weiterbearbeitung zu beauftragen.

Der Projektname erinnert natürlich an das ursprüngliche Gartenstadtideal, welches die Siedlung bis heute prägt, und das die heute wieder populäre Selbstversorgung mit frischen Lebensmitteln umfasst. Der Projektvorschlag, vom Beurteilungsgremium als «erfrischend» taxiert, verfolgt das Ziel, einen möglichst grossen Teil der bestehenden Struktur und der vorhandenen Materialien zu bewahren. Die unveränderte Setzung der Volumen wird gemäss ISOS-Eintrag erwartet und macht auch insofern Sinn, als der Strassenzug «Am Rain», die den Siedlungsteil parallel zum Hang durchquert, in seinem Verlauf nicht verändert werden durfte. Konkret schlägt das Entwurfsteam anstelle von Ersatzneubauten mit gleichartiger Bebauungstypologie den Erhalt der bestehenden Gebäudestruktur sowie ein daran verdichtendes Anbauen und Aufstocken vor.

Mit den neuen seitlichen «Rucksäcken» und Zusatzgeschossen sollen fünf der sechs bisherigen Zweispänner, bei denen pro Etage zwei Wohnungen über ein Treppenhaus erreicht werden, in Laubenganghäuser mit drei Wohnungen pro Geschoss umgewandelt werden. Dieses Vorgehen stellt in den Worten des Entwurfsteams «unkonventionelle Wohnungsgrundrisse» in Aussicht. Das sechste Gebäude in der Reihe südlich von der Erschliessungsstrasse, bei deren östlichem Ende, soll einem Siedlungsplatz weichen, auf dem ein kreisrunder «Gnossi-Pavillon» mit einem sanft geneigten zwölfeckigen Zeltdach steht. Gleich daneben befindet sich die bestehende Rampe in die Tiefgarage der Nachbarbebauung. Über sie wird auch die Ergänzung von deren Einstellhalle für den Siedlungsteil erschlossen. Diese Ergänzung liegt unter dem Pavillon und tangiert den verbleibenden Bestand nicht.

Wohnüberbauung Am Rain Luzern Schnitt

Quelle: Bischof Föhn Architekten ETH SIA, Zürich

Bei der Erweiterung, der Aufstockung und der Modernisierung der bestehenden Bausubstanz sollen möglichst viele wiederverwertete Materialien zum Einsatz kommen.

Vision des Zusammenlebens

Das siegreiche Wettbewerbsprojekt will einen Beitrag ans Quartierleben leisten. Die Erschliessungsstrasse «Am Rain» sieht es als Ort der Begegnung und als Spielstrasse. Integraler Bestandteil der Begegnungszone sollen auch die erwähnten neuen Laubengänge sein, deren halbrunde Erschliessungstreppen vom Strassenraum her als turmartige Gebilde in Erscheinung treten. Als Pendant zum «Gnossi-Pavillon» am neuen Siedlungsplatz ist am Südrand des Entwurfsperimeters, am Weinbergliweg, ein Spielplatz mit einer runden Aussichtsplattform geplant, daran angrenzend ein Naturspielplatz mit Naturteich und Wildwiese. Von der Plattform ist der Vierwaldstättersee zu sehen. Sie hat das Potenzial, zu einem weiteren Identifikationspunkt der Siedlung zu werden. Nutzgärten sind im gut durchwegten, vielseitig an die Nachbarschaft angebundenen Grünraum zwischen den Giebelseiten der Häuser vorgesehen.

Der Wohnungsmix sieht im rückspringenden Attikageschoss der Aufstockungen kleinere 1,5- bis 3,5-Zimmer-Wohnungen vor. In den Normgeschossen liegen die je nach Baukörper individuell konzipierten 3,5- bis 6,5-Zimmer-Wohnungen. Die Wohnungen im Erdgeschoss befinden sich wie im Bestand im Hochparterre, besitzen aber über wenige Treppenstufen in einem überhohen Wohnzimmer einen direkten, ebenerdigen Gartenzugang. Die breite Laubengangzone dient als halböffentlicher Begegnungsort.

Visualisierung Wohnüberbauung Am Rain Luzern

Quelle: Bischof Föhn Architekten ETH SIA, Zürich

Die Hochparterre-Wohnungen erhalten ein Wohnzimmer mit direktem Ausgang in den Grünraum.

Ressourcen schonen

Die möglichst umfassende Wiederverwertung bestehender Strukturen und Materialien ist ein zentraler Bestandteil des siegreichen Wettbewerbsentwurfs. Er strebt den Re-Use der Bauteile aus den Bestandesbauten an: Dachbalken, Dachdeckung etc. Ziegelschrot und Aushubmaterial des Abbruchgebäudes sollen als Masse in den Bodenaufbauten der Bestandes-Holzbalkendecken Verwendung finden. Vorgeschlagen wird auch eine gemeinsam festgelegte Bauteilsuche, etwa nach Stahl oder nach Fassadenelementen aus Faserzement. Die Wiederverwendung der bestehenden Gebäudestruktur, wenig Aushub- und Erdarbeiten sowie der Einsatz von Bauteil-Re-Use ermöglichen nebst einer nachhaltigen Bauweise auch eine wirtschaftliche Projektrealisierung, zeigt sich das Entwurfsteam überzeugt.

Der Lastabtrag im Bestandsgebäude soll unverändert bestehen bleiben. Die bestehende Substanz wird als ausreichend für den Lastabtrag der leichten Holzbau-Aufstockungen erachtet. Die bestehenden Decken möchte man wo nötig verstärken, brandschutztechnisch ertüchtigen und mit einem trockenen Bodenaufbau ergänzen, um den Schallschutz zu verbessern. Die seitlichen Gebäudeerweiterungen sind in Massivholzbauweise angedacht, was einfache Details bei den Anschlusspunkten der Gebäudehülle zum Bestand ermöglicht. Die Erweiterungen optimieren die horizontale Aussteifung des Gesamtgebäudes, sie lassen eine Erdbebenstabilisierung auf Niveau Neubau erwarten. Die Aussenerschliessung soll als Stahlskelettbau mit vorgefertigten, schalltechnisch entkoppelten Laufflächen in Stahlbeton erfolgen.

Das Beurteilungsgremium des Wettbewerbs äusserte sich anerkennend zum pragmatischen Umgang mit dem Bestand und teilt die Meinung des Entwurfsteams, dass sich dieses Vorgehen auch positiv auf die Wirtschaftlichkeit auswirkt.



Nachgefragt ... bei Johannes Schlattau

Johannes Schlattau

Quelle: Wohngenossenschaft Geissenstein - EBG

Johannes Schlattau ist Leiter Bau, IT bei der Wohngenossenschaft Geissenstein – EBG.

Beim Wettbewerb entschied man sich für ein offenes Verfahren ohne Präqualifikation. Das Beurteilungsteam musste 50 Projekte begutachten. Hat sich diese Verfahrenswahl im vorliegenden Fall gut bewährt? Hätte aus Ihrer Sicht eine Präqualifikation die Lösungsvielfalt eingeschränkt?

Das offene Verfahren hat sich gut bewährt und war ausserdem ein expliziter Wunsch aus der vorhergehenden Generalversammlung. Die Frage nach einem anderen Verfahren mussten wir uns in diesem Fall also nicht stellen. Mit 50 Projekten steigt nicht nur der Aufwand, sondern vor allem auch die Qualität und Vielfalt innerhalb der Schlussauswahl.

Das Siegerprojekt schlägt einen «Gnossi-Pavillon» auf dem neuen Siedlungsplatz am östlichen Ende des Strassenzugs «Am Rain» vor. Bestehen schon Ideen, wie man diesen nutzen und bewirtschaften möchte?

Neben unseren grossen Festen der verschiedenen Kulturgruppen wie der «Wiipure-Chilbi» kann der Pavillon für private Anlässe, Sitzungen und mittelgrosse Veranstaltungen von intern und extern über die Website gebucht werden. Der Genossenschaftsraum war explizit im Wettbewerb gewünscht und eröffnet uns neue Möglichkeiten beim genossenschaftlichen Miteinander.

Die Aussentreppen der Häuser und die Laubengänge sind beim Siegerprojekt frei zugänglich. Gibt es diesbezüglich keine Sicherheitsbedenken?

Nein. Die Häuser mit den halböffentlichen Laubengangerschliessungen sind von der Strasse und den anderen Häusern gut einsehbar und erhöhen damit die Sicherheit.

Das Projekt sieht eine möglichst weitgehende Wiederverwendung bestehender Strukturen und Materialien vor. Das setzt auch eine gewisse Experimentierfreudigkeit und gegebenenfalls eine aktive Bauteilsuche voraus. Könnte das in der Realisierungsphase nicht das Zeitbudget belasten?

Für die Re-Use-Thematik haben wir separate Fachplaner beauftragt. Diese müssen uns nicht nur bei jedem Re-Use-Bauteil vom Kosten-Nutzen überzeugen, sondern sind ebenfalls für die Bauteilsuche und die Einhaltung der Termine zuständig.

Wo steht das Projekt aktuell? Sind der Baubeginn und die Fertigstellung schon bestimmt?

Wir haben mit den Architekten einen Grobterminplan für die nächsten Jahre aufgestellt. Der nächste Meilenstein wird jedoch die Urabstimmung unserer Genossenschaft, in welcher die Mitglieder über das Vorprojekt und die Projektkosten abstimmen dürfen und damit das Bauprojekt bewilligen.

(Interview: Manuel Pestalozzi)


Geschrieben von

Freier Mitarbeiter für das Baublatt.

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