11:02 BAUPROJEKTE

Rhätische Bahn: Knacknüsse für Tunnelbauer im Unterengadin

Geschrieben von: Claudia Bertoldi (cb)
Teaserbild-Quelle: Claudia Bertoldi

Reisende auf der Unterengadiner Strecke der Rhätischen Bahn zwischen Susch und Scuol-Tarasp ab Sagliano müssen zurzeit auf Schienenersatz umsteigen. Seit März werden der Giarsuntunnel, ein Portalbereich des Magnacuntunnels sowie weitere Streckenabschnitte instand gesetzt.

Der 172 Meter lange Giarsuntunnel wird komplett erneuert. Für die ersten 110 Meter ist ein zweischaliges, hufeisenförmiges Normalprofil vorgesehen, dessen Innenschale alle zehn Meter durch Fugen getrennt ist. 

Quelle: Claudia Bertoldi

Der 172 Meter lange Giarsuntunnel wird komplett erneuert. Für die ersten 110 Meter ist ein zweischaliges, hufeisenförmiges Normalprofil vorgesehen, dessen Innenschale alle zehn Meter durch Fugen getrennt ist. 

Rund um die Uhr, sieben Tage in der Woche, wird im Unterengadin an der Bahntrasse gearbeitet. Die Zeit drängt. Bis zum 6. Oktober sollen die wichtigsten Instandsetzungsarbeiten an den Tunneln abgeschlossen sein.

Um den knapp berechneten Ablauf und die Sicherheit garantieren zu können, wurde die Strecke deshalb seit dem 10. März komplett für den Verkehr gesperrt. Der Zugverkehr soll ab Oktober wieder aufgenommen werden, wird aber bis 2021 weiterhin wegen diverser Baustellen an der Gesamtstrecke in den Nachtstunden unterbrochen.

Das Kernstück der Instandsetzungsarbeiten an der Unterengadiner Strecke bilden die Arbeiten an den beiden Tunneln Giarsun und Magnacun. Sie sind besonders arbeitsintensiv. Vor allem die 250 Meter lange Instandsetzungsstrecke des Magnacuntunnels stellt die Tunnelbauer vor unerwartet grosse technische und logistische Herausforderungen. Die Baugrundverhältnisse und Bergwasser erschweren den Baufortschritt, weshalb das Bauprogramm bereits um einen Monat verlängert werden musste.

Die Tunnel und die dazugehörige Strecke wurden im Jahr 1913 in Betrieb genommen. Angesichtes der komplexen geologischen Verhältnisse gelten sie noch heute als ingenieurtechnische Meisterleistung, betrachtet man vor allem die damaligen technischen Voraussetzungen. Die Talflanke des Piz Cotschen auf dem 3,7 Kilometer langen Abschnitt zwischen Guarda und Ardez ist als massives Rutschgebiet «Murtera» bekannt.

Gesteinsschichten verschiedenen Alters werden unter anderem von Gneisen, Amphiboliten, Dolomit, Gips, Schiefer und Serpentiniten durchmischt, was dem Gelände eine sehr fragile Festigkeit verleiht. Um Stabilität und Sicherheit zu erreichen, hatten die Erbauer den Tunnel mit einer sehr massiven Konstruktion mit bis zu 1,25 Meter starken Tunnelwänden errichtet.

Ab dem Portal Seite Guarda wird im Magnacuntunnel auf einer Länge von 250 Metern ebenfalls ein zweischaliges, hufeisenförmiges Normalprofil eingebracht. Dafür muss der Tunnel erweitert werden. 

Quelle: Claudia Bertoldi

Ab dem Portal Seite Guarda wird im Magnacuntunnel auf einer Länge von 250 Metern ebenfalls ein zweischaliges, hufeisenförmiges Normalprofil eingebracht. Dafür muss der Tunnel erweitert werden. 

Dennoch zeigten sich bald starke Schäden. Vor allem der Untergrund übt ständig starken Druck auf das Bauwerk aus, was zu Profilverdrehungen und -verkippung, Rissen und Einbauchungen führt. Dadurch verursachte Wassereintritte und Eisbildung führten zu eine zusätzlichen Schädigung der Bauwerke. Seit der Inbetriebnahme der Strecke im Jahr 1913 mussten die Tunnel deshalb mehrfach saniert werden.

Schon beim Bau der Bahnstrecke waren verschiedene Varianten für den Streckenverlauf in Betracht gezogen worden, unter anderem auch ein tieferer Verlauf des Magnacuntunnels. Für die jetzt erfolgende Sanierung wurden erneut verschiedene Lösungsansätze zur Streckenführung überprüft. Die hohen Kosten und bautechnische Erwägungen bestätigten allerdings den Entscheid der einstigen Erbauer. Deshalb werden die beiden Tunnel mit gleichem Verlauf erneuert beziehungsweise teilersetzt.

«Die massiven Rutschungen am Hang führen zu einer Verschiebung von bis zu 10 Millimetern im Jahr. Der Giarsuntunnel muss deshalb auf der kompletten Länge von 172 Metern ersetzt werden», erklärt Bauleiter Jürg Schumacher während des Baustellenrundgangs. Auch am bereits in den 90er-Jahren letztmals instandgesetzten Magnacuntunnel werden die ersten 250 Meter der Portalzone West erneuert.

Die weiteren 1659 Meter des Tunnelverlaufs werden nicht erweitert. Es sind aber Instandhaltungsmassnahmen an der Tunnelverkleidung geplant, um weiterhin die Betriebssicherheit zu gewährleisten. Stellenweise müssen das Mauerwerk und die Spritzbetonschalung ersetzt sowie Abdichtungsmassnahmen vorgenommen werden.

Auch der zwischen den beiden Tunneln liegende, 94 Meter lange, offene Abschnitt ist zu erneuern. «Die Schäden an der Brücke über den Aua da Magnacun sind zwar geringer als an den Tunneln, sie muss aber dennoch abgebrochen und ersetzt werden», sagt Schumacher.

Auf engstem Raum zwischen den Tunnelportalen befinden sich die Zufahrt zum Magnacuntunnel (rechts) und die Baustelleneinrichtung, die teilweise auf der alten Strasse zu stehen kam. Belieferung und Abtransport erfolgen über die neue Kantonsstrasse (links v

Quelle: Claudia Bertoldi

Auf engstem Raum zwischen den Tunnelportalen befinden sich die Zufahrt zum Magnacuntunnel (rechts) und die Baustelleneinrichtung, die teilweise auf der alten Strasse zu stehen kam. Belieferung und Abtransport erfolgen über die neue Kantonsstrasse (links vorn).

Exakt koordinierter Bauablauf

Was für Aussenstehende kaum einsehbar ist, zeigt sich vor Ort als Grossbaustelle, auf der unter sehr schwierigen Bedingungen gearbeitet werden muss. Die Platzverhältnisse sind sehr beengt, liegen die offenen Gleisabschnitte doch oft oberhalb der Kantonsstrasse, die andererseits durch das Flussbett der Inn begrenzt wird. Zudem reiht sich ein Bauabschnitt an dem anderen. Eine ausgeklügelte Logistik ist erforderlich, um sich nicht gegenseitig zu behindern.

Zwischen Giarsun- und Magnacuntunnel ist es besonders eng. Die kurze, offene Strecke, auf der auch die Brücke erneuert werden muss, dient als Standort der Baustelleneinrichtung sowie Einfahrtsbereich für die Arbeiten am Magnacuntunnel. Neben den Flächen des einspurigen Gleisbetts kann nur die alte schmale Kantonsstrasse genutzt werden.

Aber so kann der Verkehr unter Beachtung der ein- und ausfahrenden Baufahrzeuge auf der Kantonsstrasse fast ungestört weiterfliessen. Der Giarsuntunnel wird aus Richtung Guarda aufgefahren. Hier herrschen ähnlich beengte Verhältnisse, allerdings liegen die Baustelleneinfahrt und Baustelleneinrichtung oberhalb am Hang.

Die Instandsetzung des Giarsuntunnels war aus Sicherheitsgründen dringend nötig. Er verfügte weder über einen Handlauf, noch Beleuchtung oder Kommunikationseinrichtungen. Zudem wurden die Vorschriften bezügliche Lichtraumprofil und nötigen Raum für Dienst- oder Fluchtwege nicht eingehalten.

Nachdem bereits 1997 ein 20 Meter langer Bereich der ursprünglichen Tunnelverkleidung aus Natursteinmauerwerk in Spritzbetonbauweise ersetzt werden musste, muss nun aufgrund der starken Schädigung das komplette Bauwerk erneuert werden.

Fugen kompensieren Bewegungen

Untersuchungen zeigen, dass die Bewegungen der Grossrutschung «Murtera» nicht aufgehalten werden können. Deshalb müssen der Streckenabschnitt und die drin enthaltenen Kunstbauten mit «beweglichen Fugen» zur Verminderung von Schäden ausgeführt werden.

Die Arbeiten im Tunnel sind in drei Abschnitte mitunterschiedlich grossen Normalprofilen gegliedert. Auf den ersten 110 Metern wird im Bereich der geringen gleichmässigen Verschiebungen ein zweischaliges, hufeisenförmiges Normalprofil 1 eingebaut. Zirka alle zehn Meter wird die Innenschale durch eine 100 Millimeter breite, radiale Fuge getrennt. Dieser Nutzraum dient der Aufnahme translatorischen Verschiebungen des gesamten Querschnitts.

Auf den darauf folgenden, 30 Metern langen Tunnelabschnitt sind besonders starke horizontale Verschiebungen quer zur Tunnelachse zu verzeichnen. Deshalb wird in diesem Abschnitt in Normalprofil 2 mit zweischaligem, elliptischem Ausbau mit Sohlgewölbe ausgeführt.

Im Eingangsbereich des Magnacuntunnel wird von gleichmässigen Schiebungen ausgegangen. Die Arbeiten auf dem 250 Meter langen Teilstück werden mit Normalprofil 1 entsprechend dem ersten Abschnitt des Giarsuntunnels ausgeführt.

Zurzeit erfolgt in beiden Tunneln der Vortrieb, das bedeutet, es wird abgebrochen und das Tunnelprofil erweitert. Im dahinter liegenden bereits erweiterten Bereich werden Rohre eingebohrt, die dem Tunnel die notwendige Flexibilität verleihen, danach werden Bewehrungsgitter gesetzt und das Tunnelprofil ausgespritzt.

Rund 100 Mitarbeiter sind im Einsatz, um die Rohbauarbeiten der Tunnel inklusive Provisorien für Bahntechnik und elektrische Ausrüstung bis Oktober fertigzustellen. Die Gesamtkosten dieses Bauloses belaufen sich auf 44 Millionen Franken. Im Anschluss wird der Innenausbau in Nachtbetriebsphasen ausgeführt.

Die Arbeiten an der Brücke und den Stützmauern der offenen Strecke werden 2020 ausgeführt. Die Instandsetzung der Unterengadiner Strecke soll bis Ende März 2021 abgeschlossen sein.

Weitere Details zu den Arbeiten lesen Sie in der aktuellen Ausgabe des Baublatts Nr. 28.

Geschrieben von

Ehemalige Redaktorin Baublatt

Claudia Bertoldi war von April 2015 bis April 2022 als Redaktorin beim Baublatt tätig. Ihre Spezialgebiete waren Architektur- und Technikthemen.

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