08:59 BAUPROJEKTE

Pilotprojekt Schliengerweg in Basel: Bauen mit dem, was gegeben ist

Geschrieben von: Manuel Pestalozzi (mp)
Teaserbild-Quelle: Solanellas Van Noten Meister GmbH

Für ein Mehrfamilienhaus im Klybeck-Quartier von Basel mussten im Architekturwettbewerb Projekte eingereicht werden, die eine Netto Null-Bilanz in Aussicht stellen. Den Entwurfsteams stand ein Katalog mit Baumaterialen aus dem Rückbau von Liegenschaften zur Verfügung. Das siegreiche Projekt wartet mit funktionalen Grundrissen auf und soll bis 2026 realisiert werden. Es wird sich auch wieder einfach zerlegen lassen.

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Quelle: Solanellas Van Noten Meister GmbH

Die südliche Schmalseite des Wohnhauses grenzt an den Rheinweilerweg. Hier gibt es einen direkten Zugang in den Hofraum, von dem die Kindergärten und die Wohnungen ebenfalls zugänglich sind.

Der Schliengerweg ist ein gerader Strassenzug zwischen dem Riehenring und dem Horburgpark im Norden der Stadt Basel, im Klybeckquartier auf der rechten Rheinseite. Das bekannte Entwicklungs­gebiet Klybeck befindet sich ganz in der Nähe. Die Umgebung ist vorstädtisch und heterogen bebaut; Blockrandfragmente, kleinere Reihenhäuser und Gewerbebauten wechseln sich ab. Die Eckparzelle bei der Kreuzung mit dem Rheinweilerweg, die nach diesem Projektwettbewerb neu bebaut werden soll, ist aktuell eine eingezäunte Freifläche mit kleinen Schutzbauten und Mulden, eine Art Werkhof, der ­direkt an die Kapelle St. Theresia vom Kinde Jesu grenzt. 

Das Grundstück gehört dem Kanton Basel-Stadt. Dessen Grosser Rat hat sie 2019 vom Verwaltungs- ins ­Finanzvermögen übertragen. Immobilien Basel-Stadt möchte auf der Fläche von rund 400 Quadratmetern jetzt einen Neubau mit Wohnungen für kinderreiche Familien bzw. Grosshaushalte und einem ­Regelkindergarten sowie einem heilpädagogischen Kindergarten im Erdgeschoss errichten. Für dieses Pilotprojekt schrieb der Kanton einen anonymen Projektwettbewerb im offenen Verfahren aus.

Hohe Nachhaltigkeitsziele

Fast so wichtig wie das Raumprogramm sind bei diesem Projekt die ökologischen Zielsetzungen. Denn am Schliengerweg soll mit dem Ziel «Netto Null» bis 2040 ein Pilotprojekt klima- und ressourcenschonend errichtet und betrieben werden. Von ihm wird also erwartet, dass es Energien aus erneuerbaren Quellen nutzt, diesbezüglich eine ausgeglichene energetische Bilanz präsentiert und auch einen Beitrag zur Anpassung der Stadt an die prophezeite Klimaerwärmung leistet. Der Kanton stellte den am Wettbewerb beteiligten Teams ein Tool zur Ökobilanzierung zur Verfügung, das zwingend zu verwenden war. Mit dem Tool können Bauteile bezüglich Materialwahl, Schichtaufbau und Schichtstärken verglichen und optimiert werden. Dies geschieht nach der Methode der Lebenszyklusanalyse auf Basis adaptierter Werte der «Ökobilanzdaten im Baubereich» der KBOB, Stand 2016.

Das ist nicht alles: Die multiple Vorbildfunktion des Neubaus soll auch in den Bereich der Kreislaufwirtschaft hineinreichen, was diesen Wettbewerb wirklich ­speziell macht. Der Kanton leistete diesbezüglich etliche Vorarbeit: Er erstellte für den Wettbewerb und weitere Projekte einen Bauteilkatalog mit vorhandenen gebrauchten Bauteilen zur Wiederverwendung. Sie stammen von Rückbauprojekten aus dem Kantonsgebiet. Diese Teile stellte er einerseits sicher und lagerte sie ein. Andere sind noch nicht demontiert aber «markiert» und kategorisiert, denn ihre Demontage steht fest. Wenn diese erfolgt, sollen auch sie zwischengelagert werden. Im Katalog fanden die Planungsteams diese Bauteile ­digital als Zeichnung erfasst und fotografisch dargestellt. 

Situation

Quelle: Solanellas Van Noten Meister GmbH

Das Haus soll mit der benachbarten Kirche zusammengebaut werden.

Explosion

Quelle: Solanellas Van Noten Meister GmbH

Das Wettbewerbsprojekt wurde präsentiert als Summe von Katalog- und anderen Teilen, dieim Idealfall von abgerissenen älteren Bauten stammen und an ihm wiederverwertet werden.

Darüber hinaus hielt der Katalog fest, wie viel zusätzliche CO2-Emissionen durch die Wiederverwendung von Bauteilen in grossem Umfang vermieden werden können. Dieses «Angebot» war als eine Empfehlung zu verstehen. Es stand den Planungsteams frei, andere wiederverwendbare Bauteile vorzuschlagen oder in den Entwurf zu integrieren, wenn sie überzeugt waren, dass diese auch tatsächlich zur Verfügung standen. Dabei waren allerdings die Distanzen zu den Rückbauorten oder Lagern sowie die eingespeicherten CO2-Werte mit zu berücksichtigen. Die maximale Transportdistanz wurde auf einen Radius von zirka 100 Kilometern begrenzt. Die Verfügbarkeit beziehungsweise die «Quelle» der betreffenden Teile waren durch das ­betreffende Planungsteam sicherzustellen.

Eine Waschküche im Dach

Insgesamt 46 Entwurfsteams wagten sich an diese ungewöhnliche Aufgabe und reichten ein Projekt ein. Alle wurden zur Beurteilung zugelassen. Am zweiten Jurytag beteiligte sich auch eine Expertin zum Thema Bauteilkatalog an den Beratungen, wie andere beigezogene Fachleute erläuterte sie ihre Vorprüfungsergebnisse und beantwortete Fragen des Preisgerichts. Für die beiden Projekte an der Spitze beschloss man, den Entwurfsteams eine optionale ­Bereinigungsstufe nach SIA 142 i - 403d zu gewähren. Sie hatten rund zwei Monat Zeit, erkannte Schwächen in den Projekten zu beseitigen. Die Arbeit der Jury mündete danach in die einstimmige Empfehlung an die Auftraggeberin, das Team des erstrangierten Projekts «L’ECLISSE», Solanellas Van Noten Meister GmbH, Zürich, und Bauingenieur Thomas Kohlhammer, Zürich, mit dessen Weiterbearbeitung zu beauftragen.

Der siegreiche Entwurf besteht aus einem dreigeschossigen, rechteckigen Volumen mit einem Attikageschoss und einem darüberliegenden Dachraum. Es ist mit der benachbarten Kirche zusammengebaut und vervollständigt die Strassenzeile entlang dem Schliengerweg. Am Rheinweilerweg, bei der Schmalseite des Gebäudes, ist ein eingefriedeter, begrünter Hofraum zwischen ihm und der benachbarten Bauzeile frei zugänglich. Sowohl die Kindergärten im Erdgeschoss als auch die Wohnungen in den oberen Etagen sind vom Schliengerweg wie auch von diesem Hofraum her ­erschlossen.

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Quelle: Solanellas Van Noten Meister GmbH

Eine «Rohbauästhetik» prägt das Ambiente. Teile der Tragstruktur sollen vom Parkhaus Lysbüchel übernommen werden.

Secondhand Tragstruktur

In der Bereinigungsphase entschloss sich das Entwurfsteam, auf eine energieintensive Unterkellerung des Gebäudes zu verzichten und die dort eingeplanten Nutzungen über das ganze Haus und in den erwähnten Dachraum zu verteilen. In letzterem sind die Haustechnik, Estrich­abteile, die Waschküche und ein Trocknungsraum untergebracht. Am südlichen Ende leitet er auf eine gemeinschaftliche Terrasse über. Ein Treppenhaus und ein rollstuhlgängiger Lift führen an der strassenseitigen Längsfassade in die oberen Geschosse. 

In den beiden Regelgeschossen sind je zwei Fünfeinhalbzimmer-Wohnungen, im Attikageschoss zwei Viereinhalbzimmer-Wohnungen untergebracht, entlang der Hofseite erstrecken sich Terrassen als private Aussenräume. Die Privatzimmer sind um Gemeinschaftsbereiche mit zentralen Küchen-/Nasszellen­körpern angeordnet. Die meisten besitzen neben der eigentlichen Zimmertüren zusätzlich grosse Schiebetüren. Sind diese alle geöffnet, bilden die Wohnungen ein einziges Raumkontinuum.

Bei der Materialisierung zeigt sich, wie das siegreiche Projektteam mit dem Bauteil­katalog umgegangen ist. Als Tragstruktur wird ein Skelettbau vorgeschlagen, welcher modular aus Stahlbeton-, Stahl- und Holzelementen aufgebaut wird. Dabei sind 85 Prozent der tragenden Elemente Bauteile aus rückgebauten Gebäuden. Der K­anton ergänzt in seiner Mitteilung zum Wettbewerb, dass die Rippendecken und Stützen aus dem Rückbau des heute noch stehenden Lysbüchel-Parkhauses stammen werden. Der Aufbau des Tragwerks soll ­einem logischen Konstruktionsprinzip der Bauteilverbindung folgen, welches auf ­geschraubten und/oder formschlüssigen Fügungsprinzipien basiert. Der Verzicht auf gegossene und geschweisste Verbindungen soll eine einfache Montage und eine simple zukünftige Rückbaubarkeit ermöglichen. 

GrundrissEG

Quelle: Solanellas Van Noten Meister GmbH

Im Erdgeschoss (Plan links) sind die beiden Kindergärten untergebracht und das Treppenhaus befindet sich an der Fassade auf der Strassenseite.Die  Zimmer in den ersten beiden Obergeschossen (Plan rechts) sind mit Schiebetüren versehen, die ein durchgängiges Raumkontinuum entstehen lassen können.

Das oberste Geschoss ist in Holzleichtbauweise geplant: ein tragender und aussteifender Rahmenbau sowie Lignatur-Hohlkastenelemente als Tragwerk für die Dachkonstruktion. Als Gebäudehülle ist eine vorgehängte, leichte Fassade, befestigt an der inneren Hauptstruktur, vorgesehen. Das Projekt soll in Trockenbauweise realisiert werden, um möglichst sparsam mit Beton und Magerbeton umgehen zu können. Für die Fassade, das Dach und die Decken werden daher konstruktive Trockenbau Lösungen mit geringeren Schichtenaufbau und ökologischen Materialien vorgeschlagen.

Der Kanton Basel-Stadt ist zuversichtlich, dass die Realisierung dieser Liegenschaft nur rund halb so viel CO2 beansprucht, wie ein Neubau im Schweizer Durchschnitt. Da die geplante Photovoltaik-Anlage an der Fassade und auf dem Dach mehr Strom produziert als benötigt wird, soll das Gebäude zudem bereits nach sieben Jahren eine ­positive Gesamtenergiebilanz aufweisen. 


Nachgefragt ... bei Jonathan Koellreuter

Jonathan Koellreuter

Quelle: Immobilien Basel-Stadt

Jonathan Koellreuter ist Leiter Portfoliomanagement bei Immobilien Basel-Stadt.

Die beteiligten Projektteams mussten für ihre Wettbewerbseingaben ein Tool zur Ökobilanzierung verwenden. Hat es sich dabei bewährt? Steht das Tool auch einem breiteren Fachpublikum zur Verfügung?

Das «EcoTool» ist frei verfügbar auf www.ecotool.org. Auf Grundlage von wenigen Elementen können Planende, Ingenieure und Architektinnen damit die ökologische Gesamtbilanz von entworfenen Gebäuden abschätzen. Das Tool ermöglicht auch ein spielerisches Ausprobieren und Erkunden des Einflusses der Materialwahl auf die Ökobilanz, indem Materialien und Schichtdicken variiert oder eben wiederverwendete Bauteile eingesetzt werden.

Wir haben das «EcoTool» 2021 gemeinsam mit ZFP Ingenieure entwickelt und setzen es seither erfolgreich ein – so auch für den Projektwettbewerb der Liegenschaft am Schliengerweg 31. Es hat die Wettbewerbsteilnehmenden dabei unterstützt, möglichst umweltschonend zu bauen. Das hat sich ausgezahlt: Für den Bau der Liegenschaft benötigen wir nur rund halb so viel CO2 wie ein Neubau im Schweizer Durchschnitt.

Welche Erfahrungen machten Sie mit dem Bauteilkatalog, den sie den Projektteams zur Verfügung stellten?

Die Teilnehmenden haben das Angebot an Bauteilen rege genutzt und viele kreative Lösungen gefunden, die «Katalogartikel» in unseren geplanten Neubauten wiederzuverwenden.

Der Bauteilkatalog stellt bestimmte Secondhand-Bauelemente in Aussicht. Wer stellt sicher, dass diese zum richtigen Moment in den passenden Massen und Mengen und mit ausreichenden Standards hinsichtlich Sicherheit oder Lebensdauer geliefert werden können?

Zum einen kennen wir die Eigenschaften der Bauteile und wissen, wie sie in einem nächsten Lebenszyklus eingesetzt werden können. Zum anderen stellen wir über einen geeigneten Demontageprozess sicher, dass die Bauteile auch wieder eingebaut werden können. Da die Terminpläne von Demontage und Neubau nie zusammenpassen, stellen wir grosse Lagerflächen für die Zwischenlagerung zur Verfügung.

Ist die Idee des Bauteilkatalogs ein langfristiges Projekt des Kantons Basel-Stadt. Aufgrund seines Wesens hat er dynamisch zu sein. Wie muss man sich seine Zukunft vorstellen?

Wir stehen an Anfang einer kantonalen Kreislaufwirtschaft. Die beiden Projektwettbewerbe haben gezeigt, dass die Planenden durchaus bereit sind, sich auf neue Wege einzulassen. Bis sich unser Bauteilkatalog selbstverständlich füllt und leert braucht es aber noch viele Schritte – wir bleiben dran. Gleichzeitig wollen wir auch offen bleiben für neue technologische Entwicklungen, denn Wiederverwendung nur eine von vielem Möglichkeiten, Emissionen zu sparen.

Wo steht das Projekt am Schliengerweg aktuell? Wann ist mit dem Spatenstich, wann mit der Einweihung zu rechnen?

Wir rechnen damit, dass wir 2026 mit dem Bauen beginnen können.

(Interview: Manuel Pestalozzi)

Geschrieben von

Freier Mitarbeiter für das Baublatt.

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