Herausfordernder Ersatzneubau der Staumauer am Grimsel
Beim Bau der Staumauer Spitallamm direkt vor der bestehenden Talsperre am Grimselpass handelt es sich um ingeniöse Massarbeit. Den Neubau nötig macht eine Bauwerkstrennung. Für die Erweiterung der Speicherkapazität hat die Kraftwerke Oberhasli AG weitere baureife Projekte in der Schublade.
Quelle: grimselfoto.ch, D. Bürki
Beim Seitenaushub für den Ersatzneubau der Staumauer Spitallamm beim Grimselpass sehen die Bohr- und Sprengzyklen alle zwei Tage einen Abschlag von drei Metern vor.
Im Sockelbereich sind Arbeiten bei der Bodenplatte für die Betonmischanlage im Gange. Um Platz zu schaffen für den Baubetrieb, wurde dazu die Aare auf 120 Metern aufgeschüttet. Auch der Grundablass der alten Mauer wurde bereits definitiv geschlossen und ein Erschliessungsstollen zur alten und neuen Mauerkrone gebaut.
Vorangetrieben werden zudem die Aushubarbeiten bei den beiden Seitenfundamenten der Staumauer mittels Sprengungen und Abtragungen im über 100 Meter hohen, steilen Fels. Die Dringlichkeit des Sanierungsbedarfs bei der alten Mauer zeigte sich in den letzten Jahren immer mehr.
Planänderung zur Bauzeit
Nötig geworden war der Neubau insbesondere wegen einer Bauwerkstrennung, die auf mehrere Ursachen zurückzuführen ist. Zum einen handelt es sich bei der Talsperre Spitallamm (siehe «Pioniertat in der Schweiz») um eine Bogengewichtsmauer, bei der neben der Krümmung vor allem das Gewicht der Betonmasse die Kräfte des Wasserdrucks zurückhält. Zu Baubeginn wurde der Mauerbeton in einzelne Etappen unterteilt, deren Stärke jedoch zu gross bemessen wurde. Als Folge davon waren die Abbindetemperaturen deutlich zu hoch.
Als Konsequenz entstand nach den ersten Etappen die Idee, den Bauplan zu ändern. Der Vorsatzbeton auf der Wasserseite wurde separat hochgezogen. Dieser wurde durch eine vertikal und horizontal verlaufende, später verfüllte Bresche, auch Trog genannt, vom Massenbeton getrennt, sodass sich der Massen- und Vorsatzbeton nicht zu einem einheitlichen Betonkörper verbinden konnten.
Quelle: KWO
Die Bauwerkstrennung führte bei der alten Staumauer zu undichter Stellen, sodass in den 40er-Jahren Massnahmen ergriffen wurden.
Lösung verschärfte Problem
Die Bauwerkstrennung manifestierte sich schon nach der Inbetriebnahme in Form von undichten Stellen. Die Nutzung der Mauer war allerdings nicht eingeschränkt, die Sicherheit nicht tangiert. Gleichwohl sah man in den 40er-Jahren die Lösung des Problems bei Dichtungsinjektionen aus Zementmilch. Knapp 100 Kubikmeter Injektionsgut wurden seeseits auf rund 8000 Quadratmeter in den Betonkörper gepresst. Die Massnahmen führten allerdings nicht zu einer Verbesserung der baulichen Situation, sie verschärften im Gegenteil das Problem, weil das Injektionsmaterial zusätzlichen Raum beanspruchte. Schätzungen zufolge betrug das mittlere Volumen des eingespritzten Materials rund ein Zentimeter.
Durch die Injektionen löste sich die gesamte Schale des Vorsatzbetons vom Rest der Mauer und zusätzlich entstand unter der Krone ein horizontaler Riss. «Aber erst in den 60er-Jahren hat man dann das Problem in der gesamten Tragweite erkannt», sagt Benno Schwegler, Leiter Projekte sowie stellvertretender Leiter Bau und Ökologie bei der Kraftwerke Oberhasli AG (KWO), beim Gang über die Baustelle.
Damals erbrachten Untersuchungen definitiv den wissenschaftlichen Nachweis der Bauwerkstrennung zwischen Vorsatz- und Massenbeton, weshalb das Überwachungssystem verstärkt wurde. Seit 1996 registrierten weitere Instrumente dann bei der Mauerkrone Bewegungen des Vorsatzbetons in Richtung See, vier bis fünf Zentimeter waren das seither insgesamt.
Zum Teil irreversibel verformt
Die Verformungen gehen zwar zurück, wenn der See gefüllt ist, doch sind diese teilweise irreversibel. Prognosen auf Basis von Messungen über mögliche künftige Bewegungen des Betonkörpers zeigten, dass sich die Verformungen langfristig nicht mehr im Toleranzbereich befinden könnten, auch im Hinblick auf grössere Erschütterungen. Denn Kraftwerksbetreiber müssen den Nachweis erbringen, dass ein Stauwerk auch Erdbeben übersteht, deren Amplitude nur einmal in einer Zeitspanne von 10000 Jahren registriert wird.
Das ursprüngliche Sanierungsprojekt sah vor, den Vorsatzbeton abzubrechen und zusammen mit der geplanten Mauererhöhung neu aufzubauen. Das wäre jedoch mit Betriebseinschränkungen verbunden gewesen und mit hohen Einnahmeausfällen, da über mehrere Jahre nur bei leerem Seebecken hätte gearbeitet werden können. Auch wäre die Beherrschung der Sedimente wegen der Zuflüsse nach der Schneeschmelze schwierig gewesen, weshalb der Entscheid zugunsten eines Neubaus fiel.
«Die Lösung mit dem Ersatzneubau hat den Vorteil, dass während der Bauzeit der See fast uneingeschränkt genutzt werden kann», sagt Schwegler. Nach der Einreichung des Baugesuchs im Mai 2017 lag ein Jahr später die Baubewilligung vor. «Ohne Einsprachen», wie Schwegler betont. Sonst wäre es schwierig geworden, dass die Termine für das Bauprogramm hätten eingehalten werden können. Die neue Staumauer kommt direkt vor die alte Bogengewichtsmauer zu stehen.
Neben der Bauwerkstrennung laufen beim Massenbeton zudem Alkali-Aggregat-Reaktionen (AAR) ab. Das sogenannte Betonquellen ist beim Spitallamm kein akutes Problem. «Allerdings könnte der Beton langfristig auch an Festigkeit verlieren», schätzt Schwegler die Sachlage ein. Hinzu kommt die Verlandung beim Grundablass, welche mittel- bis langfristig die Nutzung der Stauanlage einzuschränken droht.
Neubau unvermeidlich
Der seitliche Fundamentaushub soll noch dieses Jahr ungefähr die halbe Höhe der Mauer erreichen. Damit die Staumauer im Fels verankert werden und den Druck der grossen Wassermassen auf die Widerlager übertragen kann, wird das Fundament auf beiden Seiten des Betonbogens bis zu 25 Meter in den Felsen getrieben, in der Mitte des Mauerfusses werden es rund zehn Meter sein.
Rund 70000 Kubikmeter Granitgestein müssen für die Fundamente insgesamt abgetragen werden. Ziel bei den Seitenfundamenten ist es, mit Bohr- und Sprengzyklen alle zwei Tage einen Abschlag von drei Metern realisieren zu können. Das Bauprogramm sieht vor, den Fundamentaushub bis August nächsten Jahres abschliessen zu können.
Wegen der durch die Sprengungen ausgelösten Erschütterungen wurden bei Mauer und See das Instrumentarium des bereits vorhandenen Überwachungsdispositivs erweitert und möglichst automatisiert. Tachymeter auf beiden Talseiten registrieren halbstündlich anhand von Messpunkten die Bewegungen von Mauer und Felsen. Pendel messen Verformungen der Mauer, weitere Systeme liefern Daten über das Sickerwasser und den Auftrieb.
Am Fuss der Mauer sichern Arbeiter den Installationsplatz vor möglichem Steinschlag ab. Oberhalb des Platzes müssen dazu zwei Felspakete mit Ankereinheiten gefestigt werden, 23 Meter sind die Verankerungen lang. Mit Felsnägeln und Ankern gesichert werden muss auch die Ausbruchstelle des Seitenaushubs.
Zuschlagsstoffe aus Aushubmaterial
Bei den Betonarbeiten wird die Mauer in 15 Meter breite Blöcke unterteilt, wobei jeweils jeder zweite Block, die sogenannten Vorläufer, vorauseilend in Etappen betoniert wird. Betoniert werden danach die Blöcke dazwischen, die Nachläufer. Der gestaffelte Bauablauf erlaubt es, die Temperaturen beim Abbinden des Betons besser beherrschen zu können. Auf der Baustelle übernehmen zwei Turmdrehkräne die Feinlogistik des Betons.
Das Gesteinsmaterial des Fundamentaushubs sowie von diversen Stollen findet Verwendung als Zuschlagsstoffe für den Beton. Ein neuer Ausgleichsstollen wird den Pegelstand der Wassermassen zwischen alter und neuer Mauer und dem Seebecken regeln. Der Fundamentausbruch wird dazu drei Kilometer talabwärts zur Deponie Gerstenegg transportiert, wo die Zuschlagsstoffe im temporär erstellten Kieswerk aufbereitet und danach zur Betonmischanlage auf der Baustelle geführt werden. Die Betonproduktion läuft Mitte 2021 an.
«In die neue Mauer fliesst ein Betonvolumen von rund 220000 Kubikmeter. Mit dem Aushubmaterial können wir die dafür benötigte Menge an Kies und Sand nur zu rund einem Drittel decken», sagt Schwegler. Deshalb muss auf das Material einer Aushubdeponie unterhalb der Talsperre des Räterichsbodensees zurückgegriffen werden, wo Ausbruch-
material aus den 70er-Jahren abgelagert ist (Umwälzwerk «Grimsel 2»).
Ausgeführt werden die Arbeiten von einer Arbeitsgemeinschaft, an der die Implenia Schweiz AG und die Frutiger AG mit je 42,5 Prozent beteiligt sind, sowie der Ghelma AG (15 Prozent). In den letzten Monaten hatten die Unternehmen rund 70 Arbeiter auf der Baustelle im Einsatz, sobald die Betonarbeiten anfallen, werden es 100 bis 120 sein. Berechnet und gestaltet hat die doppelt gekrümmte Bogenstaumauer die Stucky AG, ein weltweit tätiges Ingenieur- und Planungsunternehmen der Gruner-Gruppe.
Quelle: Stefan Schmid
Der Ersatzneubau sichert langfristig die Stromproduktion. Die Anlagen von «Grimsel 2» nutzen bereits das Pumpspeicherprinzip mit der Turbine (grün), Generator (gelb) und Pumpe (hellgrün), mit der das Wasser in den höher gelegenen Speichersee Oberaar befördert wird.
Nur von Mai bis Oktober
Bis 2025 wird die KWO 125 Millionen Franken in den Bau der neuen Mauer sowie weiterer Anlagen investieren. Um den Zusammenschluss des bestehenden Systems mit den neuen Anlagen zu ermöglichen, wird das Seebecken 2025 von Januar bis April komplett entleert. Der Grund: Im Winter führen die Zuflüsse im Einzugsgebiet des Grimselsees wenig Wasser, weshalb diese in den Wintermonaten besser beherrscht werden können und dadurch der Baubetrieb weniger gestört wird.
Nach Abschluss der Arbeiten kann der See dann wieder gefüllt und die Stromproduktion wieder aufgenommen werden, wobei der Ersatzneubau nicht direkt mit einer Kapazitätserweiterung der Stromproduktion durch einen Ausbau der Stromerzeugungsanlagen verbunden ist. Denkbar ist auch, dass noch vor Abschluss der Bauarbeiten ein letztinstanzliches Urteil des Bundesgerichts vorliegt, das die Erhöhung der Staumauern erlauben würde.
Die Erhöhung der Staumauer dient der Ausweitung der Speicherkapazität und damit der zusätzlichen Stromproduktion. Allerdings konzentrierten sich die Aktionäre der KWO derzeit nicht auf die Erhöhung der Staumauern an der Grimsel. Das Projekt habe im Moment keine Priorität, so Schwegler. Die Stromproduktion erhöhen sollen auch mehrere Ausbauprojekte, welche die KWO in der Grimselregion realisieren will. Dabei geht es darum, das bereits bestehende Kraftwerksnetz effizienter zu nutzen vor allem auch mehr Speicher für die Stromproduktion im Winter zu schaffen.
Weitere Ausbauschritte
Ein erstes mögliches Vorhaben betrifft das Projekt «Pumpspeicherwerk Grimsel 3» zwischen dem Räterichsbodensee und dem Oberaarsee. Mit dem Projekt liesse sich die Leistung der KWO-Anlagen im Umfang von 660 Megawatt steigern. Für das «Pumspeicherwerk Grimsel 3» sind Kosten von 660 Millionen Franken veranschlagt. Und mit «Grimsel 1E» würde Wasser vom Räterichsbodensee in den Grimselsee gepumpt und anschliessend bedarfsgerecht turbiniert. Das Projekt würde eine zusätzliche Leistung von 150 Megawatt bringen. Der Investitionsbedarf läge in diesem Fall bei 155 Millionen Franken.
Und schliesslich wartet noch das Projekt «KW Trift» mit einem Investitionsvolumen von 387 Millionen Franken auf die Genehmigung. «Von der Planung her wären wir mit allen Projekten bereit», sagt Schwegler. Doch die Realisierung der Projekte hängt auch ab von den wirtschaftlichen Rahmenbedingungen. «Dazu müsste der Strompreis wieder anziehen», gibt Schwegler zu bedenken.
Bisher läuft laut Schwegler, der als Ingenieur die Zeithorizonte von Grossprojekten kennt und ebenfalls beim Bau des Gotthard-Basistunnels im Einsatz war, alles nach Plan. Gleich zu Beginn brachten die Schneemassen des vergangenen Winters den Bauplan Mitte Mai etwas ins Hintertreffen. Drei Wochen beanspruchte allein die Schneeräumung im Bereich der Baustelle. Deshalb sollen die Arbeiten fortgesetzt werden, solange es das Wetter zulässt, wobei laut Bauprogramm jeweils damit gerechnet wird, dass die Arbeiten von Mitte Oktober bis Mitte Mai ruhen. Innerhalb rund einer Woche kann die Baustelle wintersicher gemacht werden.
Pioniertat in der Schweiz
Das Staubecken des Grimselsees fasst ein Volumen von 94 Millionen Kubikmetern. Es ist damit das Kernstück des gesamten Systems der Kraftwerke Oberhasli AG (KWO) mit Produktionsanlagen, Druck- und Pumpleitungen sowie Stollengängen mit einer Gesamtlänge von gegen 200 Kilometern. Den Grimselsee stauen zwei Mauern, die grössere Talsperre Spitallamm und die kleinere Gewichtsmauer Seeuferegg.
Gebaut werden beide Staumauern zwischen 1928 bis 1932. Die Bogengewichtsmauer Spitallamm mit einer Höhe von 114 und einer Kronenlänge von 258 Metern gilt zur Bauzeit weltweit als eine der grössten ihrer Art. Im Sockelbereich ist die Mauer 60 Meter breit, setzt also dem Druck des gestauten Wassers vor allem das Gewicht von 340000 Kubikmeter Beton entgegen. Die alte Mauer hat nach dem Bau der Ersatzstaumauer keine Funktion mehr, und sie wird auch nicht mehr dem Wasserdruck ausgesetzt sein.
Beim Neubau Spitallamm handelt es sich um eine Doppelbogenmauer, die im Sockelbereich 20 Meter und bei der Krone 8 Meter breit ist. Form und Standort sind so gewählt, dass eine Erhöhung um 23 Meter zu einem späteren Zeitpunkt möglich ist. Bei der Mauer Seeuferegg ist kein Neubau erforderlich, diese muss bei einer Erhöhung lediglich verstärkt werden. Mit den höheren Mauern liesse sich das Stauvolumen auf rund 170 Millionen Kubikmeter vergrössern und damit 240 Gigawattstunden Strom vom Sommer in den Winter umlagern. Das entspricht dem Verbrauch von rund 100000 Haushalten.
An der KWO ist die BKW Energie AG mit 50 Prozent beteiligt, die andere Hälfte teilen sich Energie Wasser Bern, die Elektrizitätswerke der Stadt Zürich und die
Industriellen Werke Basel zu je gleichen Quoten. (sts)