Grossüberbauung in Baar: Hohe Dichte in der Landschaft
Die Idee, im Weiler Inwil bei Baar eine Grossüberbauung zu realisieren, war in den 1960er-Jahren kühn. Doch sie erwies sich als ein Erfolg. Die Scheibenhochhäuser an der Rigistrasse stehen nun allerdings am Ende ihrer Nutzungsdauer. Gemäss dem Siegerprojekt eines Studienauftrags sollen an ihrer Stelle sukzessive Punkthochhäuser entstehen.
Quelle: Projektteam Studio Märkli/Christophe Girot Landschaftsarchitektur
Vier neue Hochhäuser umstellen den Lindenplatz. Zum Vorschlag gehört auch ein Hallenbau am neuen Rigiplatz, im südlichen Bereich des Areals.
Inwil war lange eine kleine Ansammlung von Bauernhöfen entlang des Grienbachs, am Fusse des nördlichen Ausläufers des Zugerbergs gelegen. Weiter oben beginnt der Wald, der dann jählings ins Tobel der Lorze abfällt. Nach Westen öffnet sich der Blick auf die Ebene der Stadt Zug. Sie liegt Inwil näher als Baar, zu dessen Gemeindegebiet der einstige Weiler gehört. Mittlerweile sind die Siedlungsgebiete nahtlos zusammengewachsen, städtebaulich ist Inwil ein Quartier von Zug.
Bausystem für die Beton-Vorfabrikation
Der Hauptgrund für diese Urbanisierung abseits der wichtigen Verkehrswege ist bei der traditionellen Zuger Baufirma Peikert zu suchen. Jost und Rainer Peikert, die in dritter Generation im Unternehmen tätig waren, entwickelten in den 1960er-Jahren ein «W62» genanntes Bausystem für die Beton-Vorfabrikation. Zwischen 1965 und 1968 errichtete die Peikert Bau AG mit diesem System in zwei Etappen vier fast identische scheibenförmige Wohnhochhäuser an der Rigistrasse, nördlich des Grienbachs und etwas abseits des historischen Weilers.
Die auf Stützen schwebenden, 55 Meter langen und 32 Meter hohen Trakte mit neun Wohngeschossen und begehbaren Dächern wurden schnell ergänzt durch einen ebenfalls von der Peikert Bau AG realisierten Kindergarten und eine Schulanlage. Eine neue Ringstrasse ermöglichte ein weiteres Wachstum dieses Wohn-«Satelliten», der über die Jahrzehnte langsam mit Zugs Stadtgebiet verschmolz.
Quelle: ETH-Bibliothek Zürich, Bildarchiv / Fotograf: Vogt, Jules / Com_FC23-6300-016 / CC BY-SA 4.0
In dieser Luftaufnahme aus dem Jahr 1969 präsentieren sich die vier Scheibenhochhäuser als Pionierbauten im Grünen.
Die einst als fremdartig empfundenen Wohnmaschinen mitten in dem mit Kirschbäumen bepflanzten Weideland sind längst eingewachsen und zur Heimat geworden. «Dass es sich um bedeutende Bauzeugen handelt, wird von niemandem in Zweifel gezogen», schrieb Kunsthistoriker Michael Hanak in seinem 2019 erschienenen Buch «Bewahrt, erneuert, umgebaut – Blick auf die Nachkriegsmoderne im Kanton Zug». Dass die Scheibenhochhäuser nun trotzdem einer Neubebauung weichen sollen, hat da und dort verständlicherweise für Erstaunen und Proteste gesorgt.
Wünsch- und Machbarkeit
Das Areal an der Rigistrasse gehört der Pensionskasse (PK) V-ZUG, der Personalvorsorge des Kantons Zürich (BVK), der WWZ Energie AG und der Urban Assets Zug AG. Die erstgenannten Institutionen sind Eigentümerinnen der vier Hochhausscheiben. Sie erteilten im vergangenen Jahr einen Studienauftrag für die Entwicklung des Areals. Vorangegangen war eine technische Zustandsanalyse. Sie führte zum Entscheid, Ersatzneubauten ins Auge zu fassen und den Studienauftrag entsprechend abzufassen.
Auf der Website des Projektes (www.areal-rigistrasse.ch) beteuern PK V-ZUG und BVK, dass sie sich der architektur-historischen Bedeutung der bestehenden Scheibenhochhäuser durchaus bewusst sind. Entsprechend sorgfältig sei geprüft worden, ob sie renoviert oder durch Neubauten ersetzt werden sollten. Unter Abwägung architekturhistorischer, ökonomischer und ökologischer Gesichtspunkte sowie im Hinblick auf die Bedürfnisse und Ansprüche der heutigen und künftigen Bewohnerschaft entschieden sie sich zugunsten eines Ersatzneubaus.
Quelle: Projektteam Studio Märkli/Christophe Girot Landschaftsarchitektur
Gemäss dieser Visualisierung werden sich die vier Punkthochhäuser über der Stadt Zug ziemlich diskret in die Landschaft einfügen.
Trotz
mehrfacher Sanierungen in früheren Jahren wären, so argumentieren sie, massive
Eingriffe notwendig, um etwa den aktuellen Anforderungen bezüglich Energie,
Wohnkomfort, Behindertengerechtigkeit, Statik und Brandschutz genügen zu
können. Auch bei einer Gesamtsanierung hätten alle Bewohnerinnen und Bewohner
ausziehen müssen, da eine Erneuerung der Erschliessungskerne unumgänglich gewesen
wäre. Auch der Ersatz wesentlicher, für die Erscheinung prägender Elemente
hätte man vornehmen müssen. Dies sei von unabhängigen Experten, die vom Amt für
Denkmalpflege und Archäologie beauftragt wurden, bestätigt worden.
Fazit der Analyse: Eine Sanierung hätte viele Nachteile für die Bewohnerinnen und Bewohner bedeutet und keine «Vorteile einer zeitgemässen Neugestaltung» gebracht. Als weiteres Argument für Ersatzneubauten werden eine höhere Dichte ins Feld geführt: Der heutige Bestand von 216 Wohnungen könne auf diesem Weg – übereinstimmend mit den Zielen der Gemeinde – um etwa 50 Prozent erhöht werden, was nicht zuletzt auch weiterhin tragbare Mieten begünstige.
Fortschritt mit Workshops
Vor diesem Hintergrund wurden den sechs von den Auftraggeberinnen und der Gemeinde Baar ausgewählten Planungsteams Leitsätze mit auf den Weg gegeben, an denen sich die Entwicklung des Areals Rigistrasse orientieren soll. Sie wurden als Grundlage für das Programm im Rahmen von Workshops unter engem Einbezug von Vertreterinnen und Vertretern der Gemeinde-verwaltung Baar und der Grundeigentümerschaft formuliert. Auch die heutige Bewohner- und Nachbarschaft sowie die interessierten Baarerinnen und Baarer konnten im Herbst 2020 mit ihren Inputs anlässlich von organisierten Gesprächsgruppen ihre Anregungen zur Gestaltung des zukünftigen Wohn- und Lebensraums einbringen.
Die Leitsätze befassten sich mit Identität, Freiraum, Etappierung, Erschliessung und Nachhaltigkeit. Sie gaben dem Wunsch nach einem Bebauungsvorschlag Ausdruck, der auf dem Areal auch in Zukunft ein identitätsstiftendes Ensemble ermöglicht, das primär Wohnraum für diverse Zielgruppen bietet. Bei der Nachhaltigkeit war die Möglichkeit einer Zertifizierung der Neubauten gemäss Standard Nachhaltiges Bauen Schweiz (SNBS) anzustreben. Bei der Ausnützungsziffer galt ein Zielwert von 1,25.
Quelle: Projektteam Studio Märkli/Christophe Girot Landschaftsarchitektur
Die Erdgeschosse der Hochhäuser sind Teil des Parkraums und weitgehend frei zugänglich und nutzbar für Anlässe wie Public Viewing.
Workshops begleiteten auch die Bearbeitung des Studienauftrags, die in zwei Stufen gegliedert wurde. An ihnen traf sich ein Beurteilungsgremium, bestehend aus einem Fach-und einem Sachgremium sowie Vertretern der Auftraggeberinnen. Die Bearbeitungsphase 1 wurde mit dem Zwischenworkshop abgeschlossen. Die sechs eingeladenen Teams präsentierten ein städtebauliches Konzept und erhielten in der Folge Rückmeldungen.
Der Bearbeitungsphase 2 für Vertiefungen und Präzisierungen folgte ein coronabedingt digital durchgeführter Schlussworkshop mit «Live-Kamerafahrten» durch die Gipsmodelle der verschiedenen Teams. Trotz den unüblichen Umständen fand das Beurteilungsgremium aus der Distanz zu einem Konsens, der alle überzeugte: Es empfahl einstimmig den Projektvorschlag von Studio Märkli zusammen mit Christophe Girot Landschaftsarchitektur mit dem Ziel einer Weiterbearbeitung und Überführung in ein Richtprojekt als Basis für den ordentlichen Bebauungsplan.
Die Weite der Landschaft spüren
Das Siegerprojekt will die vier Scheibenhochhäuser in Etappen mit Punkthochhäusern ersetzen, die in einer Parklandschaft stehen. Die Neubauten mit 15 bis 16 Wohngeschossen versprechen Platz für rund 340 Wohnungen, unterschiedliche Grundrisse eignen sich für diverse Wohn- und Arbeitssituationen. Das Entwurfsteam um Oxid Architektur, Hauptkonkurrent im Studienauftrag, hatte mit einem ganz anderen Ansatz einen Teilerhalt des Bestandes und eine fortgesetzte Bebauung mit verlängerten Scheibenhochhäusern vorgeschlagen.
Doch das Beurteilungsgremium hatte dies nicht überzeugt. Sowohl bei den Freiraumqualitäten als auch beim Ortsbezug und der «Weiterschreibung der Geschichte» sah man im Vorschlag des Teams Märkli bessere Perspektiven. Beim zweiten Punkt mag dies überraschen, doch der Schlussbericht argumentiert folgendermassen: «Die bestehende Siedlung hat bei der Erstellung sowohl architektonisch als auch städtebaulich einen neuen Massstab gesetzt und über die Jahre eine herausragende Bedeutung für Inwil erlangt. Das Beurteilungsgremium sieht im Vorschlag von Studio Märkli das Potenzial, die Geschichte des Ortes zukunftsgerichtet weiterzuschreiben.»
Nicht unwesentlich beim Entscheid zwischen «Reset» und Verdichten im Bestand waren wohl auch die Zweifel der Grundeigentümerinnen, ob das Potenzial des Bestands so umgesetzt werden kann, wie es dem Planungsteam Oxid Architektur vorschwebte.
Quelle: Projektteam Studio Märkli/Christophe Girot Landschaftsarchitektur
Der Lindenpark im Zentrum des Areals ist als vielseitig nutzbarer Erholungsraum und Begegnungsort konzipiert.
Das Planungsteam begründete seinen Entscheid für die Punkthochhäuser mit der Wirkung im ländlichen Kontext sowie auch im erweiterten Landschaftsraum, mit der Stadt in der Ebene und dem angrenzenden Seeuferbereich. «Das Hochhaus ist ein Bautyp, in dessen einzelne Wohnungen – im Unterschied zu einer niederen Bauweise – die Weite der Landschaft eindringt», argumentiert es. Die vorgeschlagene Bebauungsart ermögliche anstelle einzelner privater Gärten einen grossen öffentlichen Freiraum mit unterschiedlichen Erlebnisbereichen.
Unterschiedliche Zielgruppen
Im Zusammenhang mit den Bauten in der näheren Nachbarschaft sieht das Planungsteam um das Studio Märkli die Hochhäuser in der weiteren Landschaft als Mittelgrund hinter den Schul- und Kindergartenbauten. Drei der Hochhäuser stehen orthogonal zueinander und zu den Scheiben, die sie sukzessive ersetzen sollen. Das südlichste, das am nächsten beim Schulhaus steht, wird um 45 Grad abgedreht. Es soll der erste Ersatzneubau sein und gemeinsam mit einer Halle entstehen. Letztere erstreckt sich als schmales, eingeschossiges Volumen, als «Vordergrund» entlang der Rigistrasse. Es begrenzt mit einem prägnanten Vordach am südlichsten Punkt den neuen Rigiplatz, bildet ein Portal zur Überbauung, das zum Quartierzentrum prädestiniert ist. Der Hallenbau soll einen Laden, Gewerbeflächen und Veloparkplätze aufnehmen.
Die Erdgeschosse der Hochhäuser mit den zentralen Erschliessungskernen sollen als Teil des Parkraums ausgebildet werden, von jedermann durchschreitbar sein und öffentliche wie auch gemeinschaftliche Nutzungen aufnehmen. Die Bewohnerinnen und Bewohner finden in den leicht aus den offenen Eingangsbereichen in den Aussenraum vortretenden «Eingangshäusern» ihre Briefkästen und Paketboxen. In der Mitte des von den Hochhäusern umstellten Parkraums befindet sich der Lindenplatz. Er ist von einer grosszügigen Promenade umringt, die sich als Begegnungs- und Veranstaltungsort anbietet und ihrerseits von Magerwiesen und einem lockeren Baumbestand umgeben ist.
Die offenen Parkplätze sollen fast vollständig unter den Boden verlegt werden, das Areal wird somit im Endzustand autofrei sein. Die Geschosswohnungen sind nach dem Vorschlag des Projektteams von Studio Märkli um die Erschliessungskerne der Hochhäuser angeordnet. Zwischen den Eckstützen und den im Inneren, in unterschiedlicher Tiefe angeordneten Tragpfeilern sollen pro Geschoss in den frei unterteilbaren Flächen bis zu sechs Einheiten Platz finden. Die Grundrisse entwickeln sich aus der Tiefe zur Fassade, in die unterschiedlich grosse Loggien integriert sind.
Bei ihren Grundrissvorschlägen lieferte das Entwurfsteam auch Anregungen zur Nutzungsart respektive der Sozialkontakte von Bewohnerinnen und Bewohnern untereinander. Die verschiedenen Nutzungarten kommen auch in der Zukunftsvision für die Rigistrasse zum Ausdruck: Wohnen & Arbeiten, Senioren-WG, Paar ohne Kinder, Patchwork Familie – und «Konventionell». Das Beurteilungsgremium hielt die entsprechenden Grundrisslayouts für sehr effizient. Sie zeigten, so schreibt es, dass der Vorschlag Wohnungen für unterschiedliche Zielgruppen zulasse und dass sie als preisgünstige Mietangebote erstellbar seien.
Nachgefragt... bei Christoph Graf
Was hat Sie dazu bewogen, in Inwil zu investieren?
Christoph Graf: Nachhaltige Investitionen und umsichtiges
Portfoliomanagement sind Kernaufgaben jeder Pensionskasse. Drei der grossen
Mehrfamilienhäuser an der Rigistrasse sind seit der Erstellung im Besitz der
V-ZUG, weshalb die Zukunft dieser Siedlung für uns von grosser Wichtigkeit ist.
Kann man als Institution, von der kühles Rechnen verlangt
wird, eine emotionale Bindung an einen solchen Ort herstellen?
Wir betrachten die Überbauung Rigistrasse auch als Teil
unserer Geschichte und sind stolz auf ihre Qualität als erschwingliches
Wohnangebot. Viele Mieter sind aktive oder ehemalige Mitarbeiter und somit auch
Versicherte unserer Pensionskasse. Wie wir aus Workshops und zahlreichen
Einzelgesprächen wissen, schätzen die Bewohnerinnen und Bewohner in erster
Linie die Lage der Überbauung, das ausgezeichnete Preis-Leistungsverhältnis,
die grosszügigen Grundrisse, den umgebenden Freiraum sowie die Fern- und
Weitsicht. Diese Qualitäten sollen auch bei den Ersatzneubauten fortbestehen.
Der Entscheid, die Scheibenhochhäuser sukzessive zu
ersetzen, hat vor Ort auch Protest ausgelöst. Mit welchen Argumenten kann man
die Bevölkerung für seine Ziele gewinnen?
An den Veranstaltungen mit den Bewohnern wurde das Vorhaben
weitgehend mit Verständnis aufgenommen. Für die heutigen Bewohner ist
nachvollziehbar, dass die Gebäude durch zeitgemässe Neubauten ersetzt werden,
und viele würden gerne auch in Zukunft an diesem Ort wohnen bleiben.
Vereinzelte Kritik kam eher aus architekturhistorisch interessierten Kreisen
und von Leuten, die sich um mögliche soziale Folgen sorgen. Wir werden aber auf
jeden Fall wieder einen breiten Mix von Wohnungen in unterschiedlichen
Preissegmenten anbieten. 30 Prozent der Wohnungen werden als preisgünstiger
Wohnraum im Sinne der kantonalen Richtlinien erstellt. Durch die Realisierung
in Etappen wird vielen Mietern ein Umzug innerhalb der Siedlung ermöglicht.
Der Vorschlag des im Studienauftrag siegreichen Projektes
des Teams Studio Märkli schlägt eine sehr prägnante Lösung vor, die ein «Bild
der Zukunft» schon ziemlich präzise skizziert. Aber vieles ist noch offen. Wie
sorgt man dafür, dass sich dieses Bild nicht zu sehr in den Köpfen festsetzt?
Wir zeigen der interessierten Öffentlichkeit phasengerecht
jeweils den Stand der Planung auf, der zum betreffenden Zeitpunkt auch bereits
eine gewisse Verbindlichkeit hat. Jetzt, nach dem Studienwettbewerb, sind das
die Positionierung, die Form und das Volumen der Gebäude, nicht aber zum
Beispiel die konkrete Gestaltung der Fassaden, die ja erst später erarbeitet
wird. Wir wollen weder falsche Erwartungen wecken noch unbegründete
Irritationen auslösen.
Wie ist der aktuelle Stand Ihres Projektes. Wann erwarten
Sie den Bebauungsplan und wann den Spatenstich?
Aktuell wird durch das Team Studio Märkli mit Atelier Girot unter Einbezug der Gemeinde das Richtprojekt erstellt. Anschliessend wird auf dieser Basis der Bebauungsplan erarbeitet. Der Bebauungsplan wird öffentlich aufgelegt, muss von der Gemeindeversammlung beschlossen und vom Kanton genehmigt werden. Der rechtskräftige Bebauungsplan wird voraussichtlich Ende 2023 vorliegen. Das Areal wird über die nächsten 10 bis 15 Jahre in mehreren Etappen überbaut – der detaillierte Zeitplan wird erst erstellt, sobald der Bebauungsplan rechtskräftig ist. Der Baubeginn der ersten Etappe wird frühestens Mitte 2025 erfolgen. (mp)