Grösses Land-Art-Projekt in Italien: Eine Stadt als «ewige Narbe»
In Sizilien findet man nicht nur Zeugen aus der Kultur- und Architekturgeschichte, sondern auch Kunst. Unter anderem der Cretto di Burri, das grösste Land-Art-Projekt Italiens: Über die vom Erdbeben zerstörte Stadt Gibellina legte der Künstler Alberto Burri eine dicke Betondecke mit Einschnitten, die den ursprünglichen Grundriss der Stadt begeh- und erlebbar machen. Er hatte das Kunstprojekt 1984 in Angriff genommen, fertiggestellt wurde es erst 2015 zum 100. Geburtstag Burris.
Quelle: Filmstill
Eine Betondecke für ein zerstörtes Dorf: Der Cretto di Burri erinnert an Gibellina, der Ort ist 1968 von einem Erdbeben komplett zerstört worden. (Still aus dem Video von Vincenzo Cerasco, siehe unten.)
Auf seinen Irrfahrten landete Odysseus auch auf Sizilien, wo er seltsame Wesen und auch sonst viel Wunderliches antraf. Beim von Homer als Zyklopeninsel bezeichneten Ort handelt es vermutlich um Sizilien, das als Insel mit mysteriösen Geheimnissen dargestellt wurde. Dass das Epos aus vorchristlicher Zeit Sizilien überhaupt erwähnt, zeigt klar: Die Insel ist seit Jahrhunderten von grosser Bedeutung und wurde wegen ihrer strategischen Lage von allen grossen Kulturen besetzt – und bebaut. So finden sich Baudenkmäler von phönizischen, griechischen, römischen, arabischen, normannischen und spanischen Eroberern. Sizilien ist deshalb auch üppig versehen mit Kultstätten und Ruinen.
Ein Leichentuch für eine zerstörte Stadt
Auch der Cretto di Burri ist eine Art Ruine, allerdings eine aus jüngerer Zeit und nicht von historischer, sondern künstlerischer Bedeutung. Wie alle Ruinen steht auch das Landschaftsmonument für die Zerstörung – und für den Wiederaufbau. Genau das wollte der Künstler symbolisieren mit seiner Intervention im öffentlichen Raum: Er wollte eine Art Leichentuch über die vollends zerstörte Stadt Gibellina legen.
Der Ort im Belice-Tal im Nordosten Siziliens wurde 1968 von einem Erdbeben komplett verschüttet. Hunderte Menschen starben, die Überlebenden wurden obdachlos. Der damalige Bürgermeister von Gibellina, Ludovico Corrao, liess danach in 20 Kilometer Entfernung eine neue Stadt bauen: Gibellina Nuova. Er hatte die Vision, gemeinsam mit Architekten, Künstlerinnen und Bildhauern den neu geschaffenen Ort zu bereichern. Seinem Aufruf folgten viele, darunter auch Joseph Beuys und Alberto Burri (1915-1995). Letzterer kam 1981 nach Gibellina Nuova, doch fand er an diesem neu geschaffenen Ort keine Inspiration. Als er hingegen die Überreste von Gibellina Vecchia besuchte, war er angetan von ihnen und eine Idee reifte in ihm. «Ich wollte die Ruinen der alten Stadt in eine ewige Narbe verwandeln, ein Monument des Schmerzes und des Gedenkens», sagte der Künstler.
90'000 Tonnen Beton
Impressionen vom Cretto di Burri, Drohnenvideo von Vincenzo Ceraso.
Das Wort Cretto bedeutet auf Deutsch Riss, Bruch, Kluft. Aus der
Vogelperspektive aus gesehen, sieht man die Risse oder Brüche des
Monumentes deutlich. Sie zeigen den originalen städtischen Grundriss mit
den verwinkelten Gassen. Mit seinen Massen von 270 x 350 Metern, was
ungefähr zwei Fussballfeldern entspricht, ist es nicht nur das grösste
Land-Art-Projekt Italiens. Es sucht auch weltweit seinesgleichen.
Die Menge an verbautem Material ist ebenfalls monumental: Über 90'000 Tonnen Beton. Dies ganz bewusst, wie Alberto Burri argumentierte: «Beton war für mich nicht nur ein Baumaterial, sondern ein Mittel, um die Last und den Ernst der Zerstörung zu vermitteln». Der Beton wurde vor Ort gemischt und in Holzformen gegossen, wodurch die typische labyrinthartige Struktur entstand. Als Unterstützung für das ungewöhnliche Bauprojekt holte Burri den befreundeten Architekten Alberto Zanmatti (*1932) an Bord. Dieser ist bekannt als Architekt im Bereich Renovation historischer Bauten und ist auch als Künstler tätig. Für die Arbeiten an der Cretto di Burri begleitete und überwachte Zanmatti die Arbeiten.
Kunst statt Medizin
Quelle: Aurelio Amendola / Ravenna Tourism
Alberto Burri (1915-1995).
Alberto Burri wurde 1915 in Città di Castello (Perugia) geboren. Er studierte Medizin und diente während des Zweiten Weltkriegs als Militärarzt. 1943 wurde er von den Engländern in Tunesien gefangen genommen und in ein Lager in Texas, USA, verbannt. In Gefangenschaft begann er zu malen. Als er 1946 freigelassen wurde, liess sich Burri in Rom nieder. Zu seinem Arztberuf kehrte er nie wieder zurück, er widmete sich fortan ganz der Kunst. Er malte, experimentierte mit Materialien. So kreierte er Werke aus Jutesäcken, aus verbrannten Materialien, Eisen oder aus geschmolzenem Kunststoff. Was seine Haltung als Künstler angeht, hatte er nichts mit abgehobener Kunsttheorie am Hut, er bezeichnete sich vielmehr als Schöpfer von «informeller Kunst».
Über die Jahrzehnte wurde Alberto Burri zu einem der bekanntesten Künstler Italiens. 1978 gründete er in seiner Heimatstadt Città di Castello die Fondazione Burri im Palazzo Albizzini. Die Stiftung kaufte 1989 schliesslich noch den Komplex der ehemaligen Tabaktrocknerei, die Ex Seccatoi, ganz in der Nähe. Ein riesiger Ort für Kunst in Innen- und Aussenräumen. Die Fassaden dieses Museums wurden nach Burris Tod 1995 tiefschwarz gestrichen.
Von Matera nach Gibellina
Etwa ein Jahrzehnt nach Burris Tod näherte sich ein anderer italienischer Künstler dem Cretto di Burri: Der Fotograf und Art Director Oliviero Toscani (*1942). Bekanntheit erlangt hat er vorwiegend mit seinen provokativen Werbefotografien für das Label United Color of Benetton. Toscani arbeitete einerseits als Auftragsfotograf für Werbekunden und Hochglanzmagazine, andererseits realisierte er freie Projekte und Reportagen. Und vor zehn Jahren fragte ihn Louis Vuitton an für ein Fotobuch der Reihe «Fashion Eye» , in der bekannte Künstler und Fotografen einen bestimmten Ort auf ganze eigene Weise fotografisch interpretieren. Toscani dachte eigentlich an Matera, die Stadt im Süden Italiens mit den berühmten Höhlensiedlungen Sassi di Matera. Die Siedlungen gehören seit 1993 zum Unesco-Welterbe, die Stadt selbst wurde 2019 zur europäischen Kulturhauptstadt. Doch der magische Ort in der Basilicata ist noch etwas anderes: ein Touristenmagnet. Und als Oliviero Toscani für sein Projekt nach Matera kam und sich dem Ort ein paar Tage lang mit seiner Kamera nähern wollte, resümierte er: «Nach einer Woche hat mich der Ort gelangweilt: Es ist eine schöne Stadt, aber sie hat mich auch etwas abgestossen: zu viele Luxushotels, zuviel Hollywood-Feeling.»
So, wie Alberto Burri sich nicht für das neue Gibellina erwärmen konnte und sich für die zerstörte alte Stadt entschied, um dort sein Kunstwerk zu bauen, machte sich auch Toscani auf die Suche nach einem Ort, der ihn mehr interessierte als Matera. Er besuchte den Cretto di Burri, war begeistert, blieb und realisierte das 2018 erschienene Fotobuch «Fashion Eye Cretto di Burri».
Quelle: zvg
In der Cretto di Burri kann man durch die Einschnitte, die die originalen Masse der alten Gassen abbilden, spazieren. An der höchsten Stelle ist der Beton ca. 160 cm hoch. Das gesamte Land-Art-Projekt ist etwa so gross wie zwei Fussballfelder. Die Cretto di Burri wurden 2015, zum 100. Todestag von Alberto Burri, fertiggebaut. 90'000 Tonnen Beton wurden für das Kunstwerk verbaut.
Quelle: zvg
Cretto di Burri (Detail)
Quelle: zvg
Cretto di Burri (Detail)
Quelle: zvg
Cretto di Burri (Detail)
Quelle: zvg
Cretto di Burri (Detail)
Quelle: Franceco Labita, Unsplash
Cretto di Burri (Detail)
Quelle: Francesco Labita, Unsplash
Eine Betondecke für ein zerstörtes Dorf: Der Cretto di Burri erinnert an Gibellina, der Ort ist 1968 von einem Erdbeben komplett zerstört worden.