14:42 BAUPRAXIS

Yvan Pestalozzi, Erfinder des Lozziwurms: Mit grenzenloser Fantasie

Geschrieben von: Karin Stei
Teaserbild-Quelle: Yvan Pestalozzi

Wer in den 70er- und 80er-Jahren über Spielplätze tobte, kennt den  Lozziwurm. Die Freude am kreativen Spiel zieht sich wie ein roter Faden durch das Werk seines Erfinders, des Plastikers Yvan «Lozzi» Pestalozzi. Unser vor wenigen Wochen geschriebenes Porträt ist auf traurige Weise aktuell: Er ist am 3. Juli  im Alter von 86 Jahren gestorben.

Lozziwurm 1972

Quelle: Yvan Pestalozzi

Das ikonische Spielgerät von 1972, der «Lozziwurm», war bunt und sofort spielbereit.

In einer ehemaligen Walder Spinnerei – dem Lindenhof – hat Yvan Pestalozzi vor einem Jahr sein «Lozzi Museum» eröffnet, unterstützt von ehrenamtlichen Helfern und seiner Stiftung. Rund 150 Objekte des Metallplastikers sind auf 200 Quadratmetern ausgestellt, die Pestalozzi zum Teil in den letzten Jahren wieder zurückgekauft hat. Ein passender Rahmen. Denn nicht nur viel handwerkliche Arbeit steckt in den Werken, sondern auch jede Menge «Ideengespinst».

Poetische Fantasiegebilde

Mit seinem Gehstock drückt Yvan Pestalozzi auf ein Fusspedal am Boden. Strom fliesst und in einer Vitrine entfaltet sich wie von Zauberhand ein kleiner Metall-VW-Käfer in seine 14 Einzelteile und wird wieder zusammengesetzt. Den «Magic Beetle» hat der Künstler 2009 geschaffen, einfach aus «Freude am kreativen Spiel». Zahnräder, Motor, Ketten etc. hat Pestalozzi dazu gekauft, alles andere hat er selbst neu gefertigt, wie er betont. Das unterscheide ihn auch von einem anderen Schweizer Künstler, mit dem Pestalozzi oft verglichen wird: Jean Tinguely. Dieser baute ebenfalls kinetische Maschinen, allerdings aus Schrottteilen und Fundstücken.

Gleichermassen spielfreudig ist auch das Wandmobil von 1976 direkt neben dem Eingang, dass sich viele Jahre am Hauptsitz des Schweizerischen Bankvereins befand. Eine von vielen Auftragsarbeiten, die Pestalozzi für die öffentliche Hand, Private und Unternehmen ausgeführt hat. Das filigrane Wandmobil ist ohne vorherige Zeichnungen oder Pläne entstanden – typisch für seine Arbeitsweise. «Ich habe das ganze Bild, die ganze Konstruktion vor dem inneren Auge und brauche deshalb keine Vorlage», erklärt Yvan Pestalozzi. Vier Monate tüftelte er, bis sich die farbigen Plastikkugeln problemlos über Rollbahnen bis zu einer Abschussvorrichtung bewegten, die sie in einen Trichter katapultiert, bevor alles wieder von vorne beginnt. «Ich bin sehr dankbar für meine handwerkliche Ausbildung als Möbelschreiner», erklärt der Künstler. «Dadurch habe ich räumliches Vorstellungsvermögen und Fingerfertigkeit entwickeln können.»

Biene aus Modelliermasse

Quelle: Karin Stei

Arbeiten, solange es geht. Denn die Ideen sprudeln trotz schwindender Kräfte weiter. Seine neueste Klein-Plastik: eine Biene aus Modelliermasse.

Kritischer Beobachter

So poetisch-fantastisch der «Magic Beetle» oder das Wandmobil sind – Yvan Pestalozzi hat auch eine ausgeprägte politische, gesellschaftskritische Seite. Die «Tritt-in-Arsch-Maschine» von 1976 ist ein Kommentar auf die Fremdarbeiterpolitik Ende der 1970er-Jahre. In einem filigranen Drahtgestell, dessen Haube nicht von ungefähr an das Dach des Bundeshauses erinnert, wird ein Bein mittels eines Rads aufgezogen und tritt kräftig in ein nacktes Hinterteil. «Nachdem die Gastarbeiter uns in Hoch- und Tiefbau, Abfuhrwesen, Gastgewerbe, Fabriken usw. wertwolle Dienste geleistet hatten, wurden sie in der Rezession zu Tausenden in ihr Land zurückgeschafft.» Eine Tatsache, die den Künstler auch heute noch wurmt. 

Magic Beetle

Quelle: Karin Stei

Der «Magic Beetle» kann sich per Strom zu 14 Einzelteilen auseinanderfalten.

Ähnlich nachdenklich stimmt den Betrachter die Drahtplastik «Abdankungsmaschine für Heuchler und Erbschleicher» von 1976. Der Clou: Auf Knopfdruck sprüht klerikales Tränengas aus einer Spraydose, um die Krokodilstränen fliessen zu lassen. Und angesichts der fortschreitenden Zerstörung natürlicher Ressourcen und des Klimawandels hat seine Skulptur «Noah» von 1984 nichts an Aktualität verloren. Denn wer möchte es dem Treck Tiere verübeln, mittels einer Rakete die Erde zu verlassen. Zwei Seelen wohnen in Pestalozzis Brust. Die Ernsthaftigkeit komme von der väterlichen, schweizerischen Seite, das Fröhlich-Verspielte von der mütterlichen, französischen Seite. «Ich habe eine Welt aus meiner Kunst geschaffen, um die Welt zu ertragen.»

Kunst aus Wortspielen

Die Welt kritisch zu hinterfragen, ist Yvan Pestalozzi ein lebenslanges Anliegen. Aber, so betont er: «Es sollte nie verletzend sein, sondern ins Herz der Menschen treffen.» Und das gelingt ihm mit Witz und Humor. Erfindungen wie die «Heiligenschein-Polier-Maschine», ein «Nasenbohr- und Ohrengrüblerset» oder den «Schulterklopfer», mit dem man sich selbst loben kann, erheitern die Besucher. «Denken wie ein reifer Mensch – sich freuen können wie ein Kind», lautet sein Lebensmotto.

Kleinplastiken aus Draht

Quelle: Karin Stei

Die Ideen zu den Kleinplastiken aus Draht beruhen oft auf Wortspielen.

Bestes Beispiel sind die kleinen Figuren und Objekte aus Modellierton, Draht und Weichmetall, die die Regale füllen. In einer klassischen Zirkusszene erwartet der «Dompteur», dass eine Schnecke durch den Reifen springt. Für Pestalozzi ein Symbol für alle Menschen, die im Beruf und Leben überfordert sind. Was bestimmt vor allem Frauen schmunzeln lässt: Statt des Geschlechtsteils entspringt einer männlichen Figur eine Feder – die so genannte «Triebfeder»… «Deshalb bin ich auch als Kabarettist unter den Künstlern bezeichnet worden», erklärt Yvan Pestalozzi lächelnd. 

Aus den Sorgen, Nöten, Wünschen und Träumen der Menschen nimmt er die Inspiration für seine Werke. Das macht seine Kunst trotz der Doppelbödigkeiten äusserst zugänglich. Eine Tatsache, die ihm vielleicht die Anerkennung bei der Kunstkritik verwehrt habe, mutmasst der Künstler. Hinzu komme die Vielfältigkeit seiner Objektkunst. Und auch sein Rückzug aus der «Cüpli-Gesellschaft», in der er sich in frühen Jahren bewegte, hat seine Popularität nicht gerade gefördert. «Da habe ich den Anschluss verpasst. Aber die Zeit für meine Arbeit war mir wichtiger.»

Windspiel Kanton Zürich 1999

Quelle: Yvan Pestalozzi

Die Eisenplastiken drehen und bewegen sich mit natürlicher Energie. Über 80 Windspiele hat der Künstler für die Schweiz, Europa und Fernost entworfen.

Windplastiken und Kreisel

Aber auch so sind seine grossformatigen Arbeiten vielen Menschen bekannt. Pestalozzis Windplastiken sind nicht nur in Europa und den USA zu finden, sondern zieren auch einen Park in Singapur. Die bunten Installationen sind so konstruiert, dass sich die einzelnen Teile bereits bei sanftem Luftzug bewegen und immer wieder neue Ansichten liefern. Und sturmresistent sind sie auch. Was verwundert: Die Windplastiken bewegen sich lautlos. «Die beweglichen Elemente drehen auf massiven, dauergeschmierten und geschlossenen Kugellagern. Alle Eisenteile sind feuerverzinkt und, wie die Aluminiumflächen der Windsegel, mit einer bewährten Zweikomponenten-Farbbeschichtung behandelt», erklärt Pestalozzi.

Seiner Leidenschaft für die Natur und insbesondere den Insekten als lebenswichtiger Gattung verdanken sich der «Mückenschwarm» auf dem Kreisel Schossacher in Dübendorf und die riesigen Ameisen, Biene, Florfliege und Spinne, die die Nutztierklinik in Zürich zieren. Liegt das letztere eher auf der Hand, erklären sich die Mücken durch die Nähe zum Militärflughafen. «Mücken sind wendig, aggressiv und verteidigen ihren Luftraum», sagt Pestalozzi. Seine kleineren Plastiken und Drahtskulpturen baut er ganz ohne fremde Hilfe, aber die Grossplastiken entstehen in Kollaboration mit Metallbauern und Schlossern, Ingenieuren, Statikern und vielen anderen Fachleuten.

Mücken Kreisel Dübendorf 2002

Quelle: Yvan Pestalozzi

Zum Wahrzeichen in Dübendorf geworden: der Kreisel mit dem «Mückenschwarm».

Der «Lozziwurm»

Weit bekannt ist auch eine andere Grossplastik: der «Lozziwurm». 1972 erblickte er auf dem Spielplatz der Neubausiedlung Benglen bei Fällanden das Licht der Welt. Pestalozzi war beauftragt worden, ein einfach aufzubauendes und veränderbares Spielelement zu entwickeln. «Mir schwebte ein Bewegungs- und Sozialspiel vor und daraus entstand der Lozziwurm.» Die quietschbunte Spielplastik besteht aus mindestens 19 Geraden- und Bogenelementen, die durch Kupplungsringe zusammengehalten werden. Der Durchmesser der glasfaserverstärkten Kunststoffohre beträgt 90 Zentimeter und erlaubt herrliche Versteckspiele mit Freunden, durch Löcher kommt man rein und raus, man kann Schrägen herabrutschen und auf den Rohren entlang balancieren. «Daher kommt auch mein Spitzname Lozzi, die Kinder konnten meinen Namen nicht aussprechen.» In seiner Blütezeit war der «Lozziwurm» an über 100 Standorten in Europa auf Spielplätzen, Park- und Schulanlagen zu finden, 1973 stand er gar vor dem Eingang der Art Basel. 

Heute sind viele abgebaut. Der Zahn der Zeit ist dafür ausschlaggebend, und auch neue Sicherheitsvorschriften für Spielgeräte, die die Beratungsstelle für Unfallverhütung herausgegeben hat – Stichwort Rutschgefahr – wie der Künstler erklärt. «Dabei ist in den 50 Jahren seines «Daseins» kein einziger nennenswerter Unfall passiert!» Als Kunstobjekt und Spielgerät hat der «Lozziwurm» aber noch nicht ausgedient. Seit 2013 steht die Spielplastik zum Beispiel vor dem Carnegie Museum of Art – einem Kunstmuseum in der Nähe von Pittsburgh. Und bestellen kann man ihn bis heute bei der Schweizer Firma Knöpfel Kunststoffe AG, und zwar im Original. Technische Änderungen waren zwar kurzzeitig einmal angedacht worden, aber als zu teuer und zu weit von der Ursprungsidee verworfen worden. «Für einen neuen Standort würden wir von Fall zu Fall nach einer Lösung suchen», so Pestalozzi.

Zeitmaschine 1983

Quelle: Yvan Pestalozzi

So kann Zeit auch aussehen: In der «Zeitmaschine» stürzten ab 1983 24 Kunststoffkugeln in ein Wasserbecken und markierten so den Verlauf der Tageszeit.

Luftikus mit Tiefgang

Eine kleine Ecke ist Pestalozzis Leidenschaft der Fliegerei gewidmet. Da-Vinci-artige Flugmaschinen hängen von der Decke, Flug-Fotos aus seiner aktiven Zeit illustrieren den spät verwirklichten Traum. «Schon als Kind habe ich Flugmodelle gebaut. Ich habe mich in der Luft immer wohl gefühlt.» Erst mit 40 Jahren hat er den Segelflugschein gemacht, mit 65 die Motor-Flug-Lizenz, mit 70 einen Ecolight-Motorsegler gekauft und ist damit von Flugplatz zu Flugplatz gehüpft, bis er aus Altersgründen seine Passion aufgeben musste. Ein Traum, der endete. Aber einen anderen, grossen Traum konnte sich Yvan Pestalozzi mit der Gründung des «Lozzi Museums» vor drei Jahren noch erfüllen, trotz einer schweren Krebserkrankung. «Ich musste das Museum realisieren, weil es so vielen Menschen Freude macht und ich weiss, was es ihnen bedeutet.» Diese Freude spiegelt sich in den Gästebucheinträgen wider, die im feinen Humor Pestalozzis Trost angesichts der Widrigkeiten des Lebens finden.

Auch wenn Yvan Pestalozzi weiss, dass er mit seinem Museum vielen Menschen eine Freude macht – das Schwinden seiner Kräfte macht ihm zu schaffen. Über 1000 Objekte hat er in 60 Jahren mit ungebrochener Kreativität hergestellt. Heute kann er nurmehr kleinere Plastiken in seinem Atelier in einem Weiler bei Wald ausführen. Hier lebt er mit seiner Frau und Vertrauten Christine, die seine Arbeit seit 40 Jahren unterstützt, aber auch kritisch begleitet hat. Ein letztes Gross-Projekt – neben dem Erhalt des Museums – möchte Yvan Pestalozzi noch gerne verwirklichen. Die Umsetzung seines «Ökumenischen Traumschlosses», einer Idee von 2009. Eine begehbare Installation soll es werden, die die Gebäude der grossen Religionen monumental vereint und damit einer übergreifenden Spiritualität ein Zeichen setzt. Ein schöner Traum.

Yvan Pestalozzi vor Modell des Ökumenischen Traumschlosses

Quelle: Karin Stei

Yvan Pestalozzi vor dem Modell des «Ökumenischen Traumschlosses». Die Umsetzung der begehbaren Installation ist das letzte Wunschprojekt des Plastikers.

Eisprung 2009

Quelle: Yvan Pestalozzi

So sieht er also aus, der Eisprung.

Facebook 2016

Quelle: Yvan Pestalozzi

Yvan Pestalozzi hat zeit seines Lebens gesellschaftliche Entwicklungen aufgegriffen und humoristisch aufs Korn genommen wie auch «Facebook».

Lozzi Museum

  • Adresse: Lindenhofstrasse 1, Bleiche, 8636 Wald ZH.
  • Webseite: www.lozzimuseum.ch
  • Öffnungszeiten: Mittwoch, Samstag und Sonntag von 13.30 – 16.00 Uhr.
  • Kontakt: Telefon 044 980 10 31 oder 044 980 08 76

Zur Person

Yvan «Lozzi» Pestalozzi wurde am 13. Dezember 1937 in Glarus geboren. Seine Mutter war Französin, der Vater Deutsch-Schweizer. Bereits als Jugendlicher zeichnete Pestalozzi viel und experimentierte mit allerlei Materialien. Er absolvierte eine Lehre als Möbelschreiner, um Innenarchitekt zu werden. Nach einem schweren Unfall bildete sich Pestalozzi fort und arbeitete ab 1964 als freischaffender Künstler. Bekannt wurde er für seine aus Draht geformten Kleinplastiken sowie kinetischen Arbeiten im öffentlichen Raum. Yvan Pestalozzi lebte und arbeitet e in Wald, einer Gemeinde im Kanton Zürich. Er ist am 3. Juli 2024 gestorben.

Geschrieben von

Freie Mitarbeiterin für das Baublatt.

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