13:59 BAUPRAXIS

«The Vessel» in New York: Das Treppengefäss

Geschrieben von: Robert Mehl (rm)
Teaserbild-Quelle: Michael Moran

Im Zentrum des neu entwickelten Stadtquartiers Hudson Yards in New York steht eine knapp 50 Meter hohe Treppenskulptur, entworfen vom britischen Heatherwick Studio. Die Stahlkonstruktion besteht aus grossformatigen Elementen, die in Italien vorgefertigt wurden.

The Vessel in New York

Quelle: Michael Moran

Die neue Treppenskulptur steht auf einer nachträglichen Gleisharfen-Einhausung der Penn-Station.

In New York ist Platz so rar wie teuer, weshalb jedes noch so absurd erscheinende Investment lukrativ erscheint. Das neue Stadtquartier Hudson Yards gilt als die teuerste private Immobilieninvestition in der Metropole seit der Fertigstellung des Rockefeller Center im Jahr 1940. Letzteres besteht aus 19Hochhäusern und erstreckt sich über drei Strassenblocks.

Hudson Yards umfasst immerhin fünf Hochhäuser, stellt mehr als 17Millionen Quadratmeter Gewerbe- und Wohnfläche zur Verfügung und nimmt eine Fläche von 14Hektar ein. Der aberwitzige Projektaspekt ist, dass das Areal tatsächlich oberhalb der umfangreichen Gleisharfe eines der beiden New Yorker Hauptbahnhöfe errichtet wurde.

Der zur Penn Station gehörende Rangierbahnhof wurde nicht ansatzweise zurückgebaut und wird weiterhin intensiv genutzt. Er ist nun eingehaust und, obwohl die Gleise nicht angefasst wurden, effektiv in den Untergrund verlegt worden. New-York-Reisende, die am meist günstigeren Newark Airport gelandet sind, mögen sich vielleicht an das sonderbare, lang anhaltende Tunnelerlebnis während ihrer Bahnfahrt vom Flughafen ins Stadtzentrum erinnern.

Von der Stadt New York wurden die beiden Hudson-Yards-Investoren Related Companies und Oxford Properties Group aufgefordert, einen «Beitrag für das bürgerliche Leben in New York zu leisten». Sie beauftragten das Londoner Architekturbüro von Thomas Heatherwick mit der Aufgabe, eine zentrale Landmarke für das neue Quartier an der äussersten Westseite von Manhattan zu schaffen.

Stufenbrunnen als Inspiration

Die Architekten suchten nach etwas Markant-Solitärem, das nicht von der umgebenden Turmgruppe oder der schieren Grösse der neuen öffentlichen Freifläche oberhalb der eingehausten Gleisharfe in den Hintergrund gedrängt wird. Es sollte mehr sein als eine Platzskulptur oder ein Arrangement aus mehreren davon: Eine Art Landmarke wurde gesucht. Auch wollte man kein träges, statisches Element schaffen, sondern einen Ort der Begegnung, einen Platz der Aktivität und der Partizipation, einfach einen, der – so die Architekten – «Spass macht».

Wenn man sich in Städten Orte anschaut, an denen Menschen wie selbstverständlich zusammenkommen, ist die zugrundeliegende Infrastruktur oft eine Treppenarchitektur. Die Planer nennen hier beispielhaft die berühmte Spanische Treppe in Rom. Das Studio untersuchte diese Typologie und erkundete auch die traditionellen indischen Stufenbrunnen, namentlich den berühmten Chand Baori in Rajasthan, knapp 100Kilometer östlich von Jaipur.

Dieser ist geprägt von einem an den Künstler M.C.Escher erinnernden Netzwerk aus Steintreppen, die es ermöglichen, die Wasseroberfläche im tiefen Reservoir allseitig und auch bei niedrigem Wasserstand zu erreichen.

Chand Baori in Rajastan

Quelle: Adityavijayavargia, CC BY-SA 4.0, Wikimedia Commons

Die «Vessel»-Skulptur ist inspiriert vom Chand Baori, einem historischen Trinkwasserreservoir im indischen Rajastan.

Begünstigt durch die Wasserverdunstung und den eingegrabenen Charakter, waren die Brunnentreppen immer merklich kühler als die Umgebung, weshalb das Wasserreservoir ein beliebter Treffpunkt und ein Ort der Kommunikation war. Ähnlich einem Amphitheater steht beim Chand Baori zwar die verbotene Wasserfläche – es war einmal Trinkwasser – im Mittelpunkt. Das Studio wollte aber eine vergleichbare Erfahrung schaffen, eine, die sowohl nach aussen wie nach innen gerichtet ist.

Durch das Öffnen der Füllungen zwischen den Stufen wurde in New York hingegen ein halboffenes, dreidimensionales Gitter generiert und mit den umlaufenden Treppen der öffentliche Platz nach oben gestreckt. Auf «The Vessel» kann eine Strecke von bis zu 1,5Kilometern zurückgelegt werden, ohne einen Abschnitt zweimal zu passieren.

Selbsttragende Konstruktion

Um das Stufenbrunnenprinzip auf die optisch durchlässige, vasenartige Skulpturenidee zu übertragen, musste «The Vessel» jedoch selbsttragend sein. Es war also eine Lösung zu finden, bei der die Tragkonstruktion in die 154Treppenläufe und die sie verbindenden Zwischenpodeste integriert war. Stützen oder horizontale Träger wollte man hingegen unbedingt vermeiden.

Dazu erhielt jeder Treppenlauf einen Stahlunterbau, die Elemente wurden konstruktiv in ein Oberteil mit der Verkehrsfläche und ein Unterteil mit dem Tragwerk aus Stahl aufgespalten. Betont wurde der massive Charakter der Unterhälfte durch eine kupferfarbene Blechverkleidung. Dies ergab einen beeindruckenden Farbkontrast zu den typischen silbern-blauen Fassadentönen der umgebenden Hochhausarchitektur.

Grossformatige Maschen

Die netzartige Tragstruktur der vasenartigen, genau 45,70Meter hohen Grossskulptur wurde im Friauler Werk Roveredo des norditalienischen Stahlkonzerns Cimolai vorproduziert und in sechs Lieferungen ab Venedig nach New York verschifft. Die Stahlbauer segmentierten dabei die grossformatigen Maschen des «Vessel» in vier Gruppen:

  • Sockelzone: Man kann diese trapezartigen Volumina, die ansatzweise an Schuhe erinnern, auch als deren Füsse sehen, die verhindern, dass die sich nach oben massiv aufweitende Skulptur nicht umfällt. Obwohl diese insgesamt fünf Elemente übermannshoch sind, wirken sie im Verhältnis zum restlichen Objekt ausgesprochen zierlich.
  • Spezielle Hundeknochen: Wenn man sich vorstellt, die Sockelzone wäre der Strunk eines Salatkopfs, kann man sich diese durchaus knochenartig geformten Elemente als die davon abgehenden starken Äste eines Salatblattes denken, die man noch gerne wegschneidet. Diese «speziellen Hundeknochen» weisen schon Treppenläufe auf ihren Oberseiten auf, weshalb ihre Anordnung in der Skulptur annähernd in Falllinie verläuft.
  • Hundeknochen:Während die anderen drei Baugruppen nur einstellige Stückzahlen aufweisen, gibt es hiervon weit über 120Stück. Tatsächlich erinnern diese Elemente mit ihrem massiven, mittigen Horizontalsteg und den beidseitigen diagonalen «Auswüchsen» nach oben und unten stark an die Comic-Knochen, die gezeichnete Hunde gerne im Maul haben. Bei den erwähnten diagonalen Auswüchsen handelt es sich immer um die obere beziehungsweise die untere Hälfte eines Treppenlaufs. Um im Bild zu bleiben, könnte man auch sagen, «The Vessel» ist eine Vase, die aus versetzt zueinander liegenden Knochen aufgemauert wurde. Oder technisch ausgedrückt: Die Podeste bilden die eigentlichen Einzelelemente, die jeweils in der Hälfte der Treppenläufe aneinander gestossen sind.
  • Wirbelsäule: Eine Skulptur, die sich an alle wendet, die ein kommunikativer Ort mit einer gewissen Anziehungskraft sein will, muss – und es darf auch nicht anders sein – natürlich behindertengerecht sein. Bei einer Treppenskulptur geht das natürlich nur bedingt. Die Lösung war die Integration eines Schrägaufzugs in das Objekt, mit dem acht übereinander angeordnete Podeste angefahren werden, so dass gehbehinderte Mitmenschen von diesen zumindest das sich bietende Panorama geniessen können. Die Elemente der Wirbelsäule sind letztlich Sonderausführungen der Hundeknochen. Sie sind versehen mit einem zusätzlichen Ast, der die Aufzugführungsschiene bildet.

Im Übrigen gibt es im benachbarten Wolkenkratzer «30 Hudson Yards» seit dem vergangenen Jahr die Aussichtsplattform «The Edge», die mit ihren 335Meter Höhe die höchste von ganz New York ist. Durch ihren vorkragenden, pfeilförmigen Charakter konnte sie zudem mit einem Glasboden ausgestattet werden, der einen senkrechten Blick in die Tiefe erlaubt.

Brachiale Ästhetik

Bedingt durch den konischen Charakter des «Vessel» wiederholt sich auch bei den Hundeknochen keines der Elemente. Bis zu den Handläufen ist alles massgefertigt. Die Grossskulptur besteht aus insgesamt 75 vorgefertigten grossformatigen Stahlkomponenten. Vor der Verschiffung wurde ein Teil des Sockels als Mock-up im Werk Roveredo bei Udine testweise zusammengesetzt.

Der projektverantwortliche Architekt des Heatherwick Studio, Laurence Dudeney, gerät immer noch ins Schwärmen über die brachiale Ästhetik dieser seinerzeit noch vollkommen unbehandelten Stahlskulptur. Zu gerne hätte er «The Vessel» in einer Corten-Optik ausgeführt, doch sprachen sowohl die Haltbarkeit der Verbindungen als auch die Rutschsicherheit für die Besucher dagegen.

Nach der Ankunft in New York wurden die Stahlelemente erst per Lastkahn den Hudson River bis auf Höhe der Hudson Yards hinauf transportiert und die letzten Meter per Schwertransport nachts angeliefert. Hier wurden dann die Stahlelemente nach einem dreijährigen Entwicklungs- und Herstellungsprozess vor Ort zusammengefügt. Das Zusammensetzen erfolgte mittels innenliegender Flansche. Das heisst, alle Elemente, insbesondere die Hundeknochen, sind Hohlkörper, die auf der Oberseite eine Schachtöffnung besitzen. In diese steigen die Monteure ein und erreichen so die Flansche für die Schraub- beziehungsweise Schweissarbeiten.

Kostenloser Aufstieg

Trotz seiner Grösse wurde darauf geachtet, «The Vessel» im menschlichen Massstab zu entwerfen. Es soll von seinen Besuchern bestiegen, entdeckt, erkundet und genossen werden. Bemerkenswert ist, dass sein Zugang zwar eine Eintrittskarte erfordert, diese aber umsonst geordert werden kann, sofern man sie im Voraus bestellt. Nur für den Sofort-Zugang wird von nichtbehinderten Besuchern ein Betrag von 10Dollar erhoben.

Stahlelement von The Vessel

Quelle: Cimolai

Die Stahloberflächen wurden noch im zerlegten Zustand gegen Korrosion geschützt.

Geschrieben von

Freier Mitarbeiter für das Baublatt.

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