Tag des weissen Stocks: Mit Leitsystem gefahrloser unterwegs
Sehbehinderte oder Blinde sind oft nur an ihrem weissen
Stock oder der Begleitung eines speziell gekennzeichneten Hundes zu erkennen.
Zielbewusst bewegen sie sich trotz vieler Hindernisse durch den
Alltag. Damit das funktioniert, hilft ihnen ein Leitsystem aus baulichen
Elementen, den richtigen Weg zu finden.
Quelle: Reto Schlatter
Die hellere, erhobene Abgrenzung am Trottoir dient als Leitlinie, die mit dem weissen Stock abgefahren werden kann. Das gestreifte Aufmerksamkeitsfeld weist auf eine bevorstehende Gefahr hin.
Sehbeeinträchtigte und blinde Menschen benötigen im
öffentlichen Raum sowie im öffentlichen Verkehr besondere Hilfen, die bereits
bei der Planung zu berücksichtigen sind. Es sind eindeutige Zeichen und
Strukturen am Boden, an Barrieren oder Handläufen, die einem Sehenden kaum
auffallen und deshalb wenig Beachtung finden, einem Sehbeeinträchtigten aber
helfen, sich in der Umwelt zu orientieren und bewegen zu können. Dies trifft
dort zu, wo sie sich auskennen, aber im besonderen Masse in Situationen, wo
ihnen die Umgebung fremd ist.
Die vorhandenen Strukturen und Signale sind aber selten
ausreichend und auch nicht immer übersichtlich. Vor allem der Verkehr stellt
eine enorme Herausforderung und ein hohes Gefährdungspotenzial für diese
Menschen dar. Neben akustischen Signalen geben Bodenindikatoren und ihre
Verlegung in Leitsystemen eine wichtige Orientierungshilfe.
Barrierefreie Lösungen dürfen kein Zufall sein. Sie sind
nach Norm zu planen und müssen möglichst harmonisch ins Gesamtkonzept
integriert werden. Darauf verweist der Schweizerischer Blindenbund anlässlich
des «Tages des weissen Stocks». Das bedeute konkret: Trottoir-Randabschlüsse,
Belagswechsel, Wasserrinnen, Pfosten und andere bauliche Elemente, die den
sehbehinderten und blinden Fussgängerinnen und Fussgängern zu
Orientierungszwecken dienen, müssen bei der Planung eines öffentlichen Platzes,
Gebäudes oder Verkehrsweges im Projekt vorgesehen werden. Ansonsten muss ein
Leitliniensystem angebracht werden.
Quelle: Reto Schlatter
Das Aufmerksamkeitsfeld im Strassenbelag wird nicht nur vom weissen Stock wegen des Materialwechsels ertastet. Betroffene mit geringer Sehkraft erkennen die hellere Markierung als Orientierungshilfe, in diesem Fall, dass links abgebogen werden muss.
Diese eindeutigen, intuitiv erkennbaren und standardisierten
Lösungen dienen letztendlich nicht allein den blinden und sehbehinderten Menschen
als Orientierung, sondern sie können Sehenden als Wegweiser behilflich sein und
allgemein zu mehr Sicherheit beitragen. Die Philosophie des «Design for All»
und die damit verbundene behindertengerechte Bauweise haben sich in den letzten
Jahren international durchgesetzt. In der Schweiz legen die Normen SIA 500
«Hindernisfreie Bauten» und VSS SN 640 075 «Hindernisfreier Verkehrsraum» die
Details fest.
«Die Akzeptanz einer hindernisfreien Bauweise ist in den letzten Jahren merklich gestiegen. Neben der Pflicht, die sich aus dem Behindertengleichstellungsgesetz ergibt, hat sich die Einsicht durchgesetzt, dass alle Menschen im Verlauf ihres Lebens von Einschränkungen betroffen sein können», erklärt Eva Schmidt, Geschäftsführerin der Schweizer Fachstelle für Hindernisfreie Architektur.
Alle der Öffentlichkeit zugänglichen Neubauten müssen heute für
Menschen mit Geh-, Seh- oder Hörbehinderung hindernisfrei erstellt werden. In
Abstimmung mit dem Behindertengleichstellungsgesetz und den kantonalen
Baugesetzen erarbeitet die Fachstelle zahlreiche Grundlagen, Richtlinien und
Normen für bauliche Massnahmen im öffentlichen Raum.
Quelle: Reto Schlatter
Die helle Markierung auf dem Pfosten weist Betroffenen mit minimaler Sehkraft auf ein Hindernis hin, noch bevor sie es mit dem weissen Stock berühren.
Nichts dem Zufall überlassen
Das Ziel ist, Funktionalität, Sicherheit und Ästhetik zu
verbinden. Die Bodenindikatoren und ihre Verlegung im Rahmen von Leitsystemen
im öffentlichen Raum sollen ebenso wie die anderen baulichen Elemente möglichst
harmonisch und dennoch gut sichtbar beziehungsweise tastbar sein. Vor allem in
den Städten, im öffentlichen Verkehr sowie an und in öffentlichen Gebäuden
sollten die gestalterischen Elemente inzwischen Standard sein.
Denn die gestalterischen Orientierungselemente sind
besonders wichtig. Trottoirkanten, Grünstreifen und Wasserrinnen sind
bevorzugte Trenner im öffentlichen Raum. Menschen mit einer Sehbehinderung
haben die Möglichkeit, taktile Informationen über den verlängerten Zeigefinger
– die Stockspitze ihres weissen Stocks – aufzunehmen und richtig zu
interpretieren. Die Elemente der Wegführung müssen deshalb eindeutig erkenn-
und ertastbar sein, sie müssen also bewusst in die Planung integriert werden.
Das Behindertengleichstellungsgesetz schreibt vor, dass bei
Fragen der Verkehrstrennung oder Verkehrsmischung die Sicherheit von Menschen
mit Behinderung als einer der sensibelsten Benutzergruppen im öffentlichen
Verkehrsraum berücksichtigt werden muss. In Bereichen, wo Fussgängerinnen und
Fussgänger auf einer Verkehrsfläche nicht vortrittsberechtigt sind, muss
dementsprechend die Trennung zwischen Fussgängerbereich und Fahrbahn taktil
erkennbar sein.
In Fussgänger- oder Begegnungszonen erkennen Sehbehinderte den sicheren Aufenthalts- und Zirkulationsbereich zum Beispiel durch einen ertastbaren Absatz, der den Fahrbereich vom Fussgängerbereich trennt. Ebenso gut eignen sich Grünstreifen und hohe Randabschlüsse für die Abgrenzung verschiedener Verkehrsflächen. Ortskundige erkennen in der Regel auch die Funktion von Wasserrinnen als Orientierungselement.
Auch ein Belagswechsel und Belagsbänder können die Sehbeeinträchtigten oder Blinden mit der Kugel an der Spitze des weissen Stocks ertasten. Für Betroffene mit minimaler Sehkraft hilft zur Orientierung ebenso ein starker Kontrast, welcher beispielsweise mit hellen Betonelementen oder Natursteinen gegenüber Asphaltflächen erreicht wird. Ebenso verbessert eine kontrastreiche Markierung von Hindernissen auf Fussgängerflächen, also von Treppenabstufungen oder Pfosten, deren Erkennbarkeit. Pflanzenkübel oder Mülleimer können auch als Orientierungshilfe dienen, dürfen aber nicht im Zirkulationsbereich stehen.
Für Sicherheit im ÖV
An den Bus- und Tramhaltestellen verhelfen bauliche Elemente zur besseren Orientierung. Auch hier spielen die kontrastreiche Gestaltung und standardisierte Positionierung der Informationsträger eine wichtige Rolle. Die Orientierungshilfen müssen taktil und visuell gut erkennbar sein. So hilft dem Sehbehinderten eine Kennzeichnung der Einstiegsposition an der ersten Tür. Die Leitlinien und Aufmerksamkeitsfelder sind auf Trottoirs weiss, auf Fahrbahnen gelb.
Hohe Haltekanten sind gefährlich und müssen markiert sein. Neben der
sichtbaren Markierung benötigen die Betroffenen weitere Informationen, um sich
orientieren zu können. Hier kommt die Informationsvermittlung nach dem
Zwei-Sinne-Prinzip zum Tragen: Neben visuellen müssen akustische oder taktile
(mit Reliefsymbolen) Informationen geliefert werden.
Die Fahrt mit dem Zug bedeutet bereits für Sehende oft Stress und Suchen. Wie schaffen es Sehbeeinträchtigte und blinde Menschen, sicher und pünktlich ihren Zug zu erreichen? Sicher nehmen sie sich mehr Zeit, und auch hier helfen bauliche Elemente in den Bahnhöfen und auf den Perrons. Zur Gewährleistung der Sicherheit der Reisenden sind Markierungen wie Sicherheitslinien entlang der Gleise, Kennzeichnungen wie «Perronende» und Aufmerksamkeitsfelder «Betreten / Verlassen Perronbereich» taktil-visuell angebracht.
Bauliche Elemente der Führungskette sind die Gestaltung der
Rückseiten von Haus- und Aussenperrons. Die taktil-visuelle Wegführung wird
auch ausserhalb des Perronbereichs im Bahnhof weitergeführt. Treppen und Stufen
in Publikumsbereichen sind markiert.
Quelle: Reto Schlatter
Mit Hilfe der auf den Automaten angebrachten Reliefschrift können auch Sehbeeinträchtigte und blinde Menschen ihre Fahrkarten selber lösen.
Kontraste bevorzugt einsetzen
Starke Kontraste ermöglichen es, ein reduziertes Sehpotenzial optimal zu
nutzen. Wo das schnelle Erfassen von baulichen Elementen, Markierungen und
Signalisationen erforderlich ist, erhöhen visuelle Kontraste die Sicherheit,
und das nicht nur für Sehbehinderte. Auch an Treppenabsätzen und
Geländeabstufungen wird eine kontrastreiche Markierung in weiss oder gelb
empfohlen. Es erhöht die Tritt-sicherheit für alle Nutzer. An Ampeln wird
ebenfalls stark mit Kontrasten gearbeitet. Der gelbe Ampeldrücker und die
taktil-visuelle Markierung erleichtern das Auffinden des Ampelmastes und des
Anforderungsgerätes.
Grosse Glasflächen an Gebäuden sehen gut aus, bergen aber auch Gefahren,
wenn sie sich im unmittelbaren Umfeld eines Fussgängerbereichs befinden.
Sehbehinderte können sie nicht als Hindernis deuten. Um ein unerwünschtes
Dagegenlaufen zu vermeiden, müssen zur Sicherheit in rund 1,50 Meter Höhe über
dem Boden mit nicht transparenten Markierungen versehen werden.
Quelle: Claudia Bertoldi
Das Band mit der gestreiften Struktur hilft auf den Bahnsteigen nicht nur Sehbeeinträchtigten und Blinden zur Orientierung, es warnt alle Passagieren vor den Gefahren an der Bahnsteigkante.
Mit den Händen sehen
Die Bezeichnung von Fahrstühlen, Räumen, Toiletten und
Etagen sollte zusätzlich mit Reliefbeschriftung und / oder mit ertastbaren
Piktogrammen versehen sein. Um längere Bezeichnungen und Textinformationen wie
auf Informationstafeln und Reliefplänen zu lesen, ist Braille-Schrift geeignet.
Werden Beschriftungen spezifisch als Orientierungshilfe für Menschen mit
Sehbehinderung eingesetzt wie bei Gleisbezeichnungen am Handlauf oder für
Raumnummern, ist es sinnvoll, diese taktil-visuellen Tafeln sowohl in Relief-
als auch in Braille-Schrift anzubringen.
Leitlinien, Aufmerksamkeitsfelder und andere
Orientierungshilfen werden unterstützend eingesetzt. Sie sind dort zu finden,
wo die Orientierung mit dem weissen Stock durch bauliche Elemente nicht
gewährleistet ist oder wo sie aus funktionalen Gründen notwendig sind, um für
zusätzliche Sicherheit im Verkehr zu sorgen. Das taktile, weisse
Leitliniensystem ist an Haltestellen, Lichtsignalen oder zum Auffinden von
Querungen unverzichtbar.
Quelle: Claudia Bertoldi
Handlauf an einer Treppe im Bahnhof. Blinde können die Markierungen in Relief- oder Brailleschrift erkennen und sich besser orientieren.
Nachbessern ist teuer
Werden die Massnahmen rechtzeitig in die Planung integriert, sind die Mehrkosten für die gestalterischen Orientierungshilfen meistens nicht hoch. Denn Elemente der Entwässerung, Randabschlüsse und Beläge sind auf Verkehrsflächen immer vorhanden. Werden diese taktil erfassbar gestaltet, geschickt angeordnet und wird zudem gleichzeitig die Anordnung von Bänken, Parkfeldern, Pfosten und Masten einbezogen, können diese baulichen Elemente die Wegführung sicherstellen.
Doch nicht immer ist das Anbringen und Unterhalten
von taktil-visuellen Markierungen für Sehbehinderte ein Muss, es kann an vielen
Orten darauf verzichtet werden. Dabei gilt das Prinzip der
Verhältnismässigkeit. In kleinen Gemeinden mit wenig Verkehr, wo sich die Leute
noch kennen und gegenseitig helfen, kann auf eine auf-wendige Markierung
eventuell verzichtet werden.
Nutzung, Verkehrssicherheit und städtebauliche Gestaltung sollen eine
Einheit bilden. In Zukunft sind die Planer mehr gefordert denn je. Eine gute
Architektur soll allen Menschen dienen. Räumliche Qualität und Komfort bedeuten
nicht zwangsläufig Abstriche bei der Ästhetik.
Weitere Informationen auf: www.blind.ch
15. Oktober 2021 – Internationaler Tag des weissen Stockes
Quelle: Reto Schlatter
Die Wasserrinne kann mit dem weissen Stock ertaste und als Bezugspunkt und Führungshilfe genutzt werden.
Am 15. Oktober 2021 sind anlässlich des «Internationaler Tages des weissen
Stockes» verschiedene Informations- und Standaktionen der Regionalgruppen des
Schweizerischen Blindenbundes geplant:
Zürich: 14. Oktober 2020, 10 bis 16 Uhr, Europaallee,
Sensibilisierungsaktion
Winterthur: 15. Oktober 2021, 10 bis 17 Uhr, Markthüsli beim Untertor bei
der Zürcher Kantonalbank
Thun: 15. Okt. 2021, 13 bis 17 Uhr, Märitstand vor dem Manor
Netstal: 15. Okt. 2021, 15.30 bis 16.30 Uhr, Badistrasse-Sommerweg beim
Schwimmbad-Parkplatz, Strassenüberquerungsaktion mit der Verkehrspolizei