Strassenbaukunst: Wandern auf historischen Pfaden
Wanderrouten einmal nicht nach landschaftlicher Schönheit, sondern nach Güte der handwerklichen Ausführung der Strasse oder der erschliessenden Ingenieurbauwerke auswählen. Ein Wanderführer des Schweizer Heimatschutzes setzt diese Idee vorbildlich um.
Auf den Pfaden der alten Wegbaumeister die Schweiz erwandern – das ist die Idee hinter der neuen Publikationsreihe des Heimatschutzes. Gleich vorweg: Die Idee ist so ausgereift wie attraktiv und praxistauglich umgesetzt. 35 Routenvorschläge führen durch alle Regionen der Schweiz und lassen staunen, mit welcher Innovationskraft und Beharrlichkeit die Berge erschlossen wurden.
Cornel Doswald hat die Publikation als Sachverständiger für historische Verkehrswege begleitet. An einer der vorgeschlagenen Routen, der Alten Schollbergstrasse (SG), hat er selbst mehrere Jahre als Projektleiter bei der Instandstellung investiert, die 2016 abgeschlossen wurde. Die Schollbergstrasse war Ende des 15. Jahrhunderts das erste gemeinsame Strassenbauprojekt der Eidgenossen. Und sie war ein unerhört kühnes Projekt. Als der Rhein noch ungezähmt durchs Tal floss, reichten seine Wasser nämlich bis an die Felswände des Schollbergs. Die eidgenössische Tagsatzung beschloss 1490, die Schlüsselstelle zwischen Vild und Obertrübbach für kleine Fuhrwerke passierbar zu machen.
Kühne Sprengarbeiten an der Felswand waren nötig. Sprengstoffe standen damals noch nicht zur Verfügung, also bediente sich der Tiroler Baumeister unter anderem einer Technik ausdem Bergbau. Doswald erläutert: «Dafür wurden Taschen im Fels ausgemeisselt, Holzkeile hineingesetzt und diese so lange gewässert, bis sie ihre Sprengwirkung entfalteten.»
Der älteste Teil der Strasse besteht aus einem Spargewölbe, das in die gemörtelte Mauer integriert ist, die nun fachgerecht wieder hergestellt wurde. Es stammt vermutlich noch von der Erstanlage der Strasse. Auf vielen historischen Darstellungen ist diese Ingenieursleistung der Vorväter abgebildet. Durch die Wiederherstellung ist sie nun wieder im Landschaftsbild verankert.
Erst 1822 verlor die Strasse durch eine neue Kantonsstrasse am Hangfuss ihre Bedeutung. Die neue Strasse wurde dem Hangfuss entlang ausgebrochen und gleichsam dem anbrandenden Rhein abgetrotzt. So war sie mangels Unterhaltsarbeiten über lange Zeit an mehreren Orten unterbrochen. Alte Rechnungen der Landvogtei belegen, dass sie schon vor Jahrhunderten fast permanent repariert werden musste, da sie von verschiedenen Runsen durchschnitten wird.
Strassenverbreiterungwie im Mittelalter
Die ursprünglich 2,5 Meter schmale einspurige Strasse mit einigen Ausweichstellen für Gegenverkehr genügte bald nicht mehr. Am Ende betrug die Breite dank bergseitiger Sprengungen und talseitiger Stützmauern drei bis vier Meter. Bei der vor vier Jahren abgeschlossenen aktuellen Restaurierung mussten nach so vielen Jahrzehnten nun teilweise bis zu zweieinhalb Meter Schutt bis zum alten Niveau abgetragen werden. Die Runsen hatten ungehindert fast 200 Jahre lang Strassenteile mit fortnehmen können. An zwei Stellen war der Weg gar einem Steinbruch zum Opfer gefallen. Er konnte nicht auf der alten Steinterrasse erneuert werden, da die Geologen festgestellt hatten, dass der Fels durch die Sprengungen instabil geworden war. «Schliesslich haben wir einen hölzernen Steg aus Eichenbohlen direkt in der Steilwand verankert. Der lokale Förster war begeistert, da wir ihm dafür seinenganzen Vorrat an Eichenholz abkaufen mussten. Die Wanderer waren es ebenfalls, weil sie hoch über dem Tal wie über einen Balkon spazieren können», erinnert sich Doswald schmunzelnd.
Das aufwendigste Stück aber war ein 160 Meter langer Tunnel. «Der kam ziemlich teuer», wie Doswald trocken anmerkt. Dazu muss man wissen, dass nebenan ein Untertage-Steinbruch betrieben wird und der Berg von 22 Kilometern Bergbaustollen durchzogen ist. «Wir aber waren ausgerechnet an eine Stelle zu Gange, an der uns ein acht Meter hoher Firsteinbruch einen Strich durch die Rechnung machte. Den haben wir im fertigen Tunnel dann stehen lassen. Man kannihn beim Durchwandern des Tunnels betrachten. Ist ziemlich eindrücklich», berichtet er weiter.
Die aufwendigste Militärstrasse des Ersten Weltkriegs
Als ein neuzeitliches Pendant zu all den untergrossen Mühen handwerklich geschaffenenWegen bietet sich die Belchensüdstrasse von 1914 als Beispiel für Strassenbau mit Menschenkraft an (Route 15). Sie verdankt ihre Entstehung dem Befehl General Willes, gleich nach der Mobilmachung die bereits bestehenden Pläne der Fortifikation Hauenstein in Angriff zu nehmen. Dabei wurde aus dem Vollen geschöpft: Die Befestigung sollte auf 42000 Soldaten und 8000 Pferde ausgelegt sein.
Im 24-Stunden-Betrieb mussten Wehrmänner 26 Kilometer Militärstrassen errichten. Zwei Millionen Arbeitsstunden später waren sie damitfertig. Doswald: «Die Strasse ist die technisch aufwendigste Militärstrasse aus der Zeit desErsten Weltkriegs und zeugt von der Strassenbaukunst ihrer Zeit.» Obwohl sie nicht nur von Geniesoldaten, sondern auch von zahlreichen gewöhnlichen Infanteristen erstellt wurde, unter denen die meisten wohl nicht vom Fach waren.
Bis heute zieren unterwegs immer wieder farbige Reliefs den Fels am Strassenrand, mit denen sich die beteiligten Kompanien verewigten. In der Umgebung trifft man auf offen liegende Schützengräben, die sich zum Teil noch begehen lassen. Der auf der Belchenflue zurechtgesprengte und über aus dem Fels gehauene Treppen zugängliche militärische Beobachtungsposten wird heute als Aussichtsplattform geschätzt.
All die Mühen hatte man auf sich genommen, um eine Brückenkopfstellung zum Schutz desVerkehrsknotenpunkts Olten zu schaffen. Als sie fertig war, stellte sich heraus, dass die Anlagen den Erfordernissen der modernen Kriegstechnik nicht mehr entsprochen hätten. Glücklicherweise kam es ja ohnehin nie zu Kampfhandlungen.Im Zweiten Weltkrieg wurden die Befestigungen modernisiert. So entpuppt sich unterwegs mancher Fels als Maschinengewehrstellung.
Komplexe Abwicklungder Passstrasse
Wer die Strassenbaukunst verschiedener Epochen aufs Mal erleben will, kann das auf dem Sustenpass (Route 28). Die Wanderroute folgt der 1811 begonnenen, aber nie fertiggestellten Passstrasse mit ihren beachtlichen Natursteinbauten. Das Fügen der vor Ort gewonnenen Steinbrocken erforderte viel Wissen, da auch die Wasserableitungen sehr präzise gesetzt sein mussten, umdie Trockensteinmauern in der alpinen Witterungbeständig zu halten. Beidseitig gemauerte Dammstrassen ermöglichen Steigungsausgleich und das Queren von Feuchtgebieten.
Die komplexe Abwicklung der Passstrasse in der steilen Meienwang zeugt vom Können der Straussenbauingenieure. Doswald erläutert: «Über Jahrhunderte hat sich an der Handwerkstechnik wenig geändert. Erst als man im 19. Jahrhundert das Bedürfnis verspürte, die Alpen mit Fahrzeugen zu queren, musste man lernen, Wendeplatten einzuplanen und Gefällsausgleich vorzunehmen.» Das erste Beispiel dafür sei bekanntlich der Simplonpass, den Napoleon 1805 errichten liess. «Er war eine Sensation und ist daher auf extrem vielen zeitgenössischen Abbildungen zu sehen. Man konnte auf ihm reisen wie im Flachland. Darum haben wir auch ihn als eine weitere Route in den Führer mit aufgenommen.»
Quelle: Schweizer Heimatschutz / James Robert Batten
Route 21, Taminaschlucht: Diese dramatische Strecke bei Ragaz wurde rege mit Postkutschen befahren. Schon 1844 schwärmte der Reiseführer «Baedecker» über «höchst romantische Landschaften», die der neue, in den Fels gesprengte Fahrweg «im Thale der wilden Tamina» zugänglich mache. Bad Ragaz verdankt seine Ruf als internationaler Kurort auch dem Kantonsingenieur, der die heisse Quelle 1838 neu fassen und einen Fahrweg anlegen liess. Eine bei dieser Gelegenheit gleich mit in die Strasse eingelassene Leitung versorgte den «Hof Ragaz» mit Thermalwasser. Um ihn herum entwickelte sich der Kurort. Die bedauernswerten ersten Badegäste im 13. Jahrhundert hatten sich noch in Körben an Seilen zur Tamina-Heilquelle abseilen lassen müssen, um dort tagelang in Felsvertiefungen zu baden.
Heimatschutz unterwegs – Historische Pfade
Quelle: Schweizer Heimatschutz/James Robert Batten
Der Schweizer Heimatschutz hat hier ein besonderes Format lanciert. 35 historische Wege mit exemplarischen Beispielen von Brückenkonstruktionen, alten Saumpfaden, napoleonischen Alpenstrassen und halsbrecherischen Kutschenfahrwegen der Belle Epoque können mit seiner Hilfe erwandert werden. Für jede Wanderung gibt es ein eigenes, herausnehmbares Routenblatt mit dem Routenverlauf samt Varianten,Sehenswürdigkeiten und hervorragendem Bildmaterial. Informative Kurztexte geben Einblick in die Geschichte der Wege und heben interessante Details hervor. Zudem enthält der handliche Schuber eine Übersichtsbroschüre.
Bestellung unter: www.heimatschutz.ch/shop,
Preis: 28 Franken (18 Franken für Mitglieder)