15:51 BAUPRAXIS

Steinschlagschutz aus Holz: Auf den Spuren alter Bautechniken

Geschrieben von: Pascale Boschung (pb)
Teaserbild-Quelle: zvg

Ein Forschungsprojekt der Fachhochschule Graubünden untersucht alte Holzpalisaden auf ihre Schutzleistung gegen Steinschlag. Mittels Belastungstests an unter anderem rund 30 Jahre alten Holzbalken wird die althergebrachte Bauweise auf Herz und Nieren geprüft.

Steinschlagschutzbau aus Holz bei Gruobenwald

Quelle: zvg

Wurde inzwischen rückgebaut: Die Steinschlagschutzverbauung mit Holzelementen beim Gruobenwald ausserhalb von Klosters.

Nicht immer kommt alles Gute von oben: Laut der Eidgenössischen Forschungsanstalt für Wald, Schnee und Landschaft (WSL) sind sechs bis acht Prozent der Landesfläche der Schweiz von instabilem Untergrund betroffen. Hauptsächlich im voralpinen und alpinen Raum drohen Hangrutschungen, Steinschläge oder Felsstürze. Die oft nur begrenzt vorhersagbaren Naturgefahren bergen ohne entsprechende Schutzbauten ein enormes Schadenspotenzial. Und durch den Klimawandel nimmt das Risiko solcher Ereignisse noch zu: Schmelzende Gletscher und der auftauende Permafrost entlassen Steine und Felsbrocken aus ihrem «Eisgefängnis».

Erster Steinschlagschutz aus Holz

Dieser Bedrohung war man sich bereits Anfang der 1900er-Jahre bewusst – zum Beispiel beim Bau der Rhätischen Bahn von Landquart nach Davos. Steinschlag stellte damals wie heute für viele Bergbahnen und Siedlungen im Bündnerland eine ständige Bedrohung dar. Dagegen gewappnet hatten sich die Menschen zu dieser Zeit mit einfachsten Mitteln: Mit Baumaterial, das gerade vorhanden war. «Sie haben alte Eisenbahnschienen als Stützen genutzt, ein Loch gegraben und diese einbetoniert», erzählt James Glover, wissenschaftlicher Projektleiter Naturgefahren an der Fachhochschule Graubünden im Baulabor in Chur. Zwischen die Stützen platzierte man Eisenbahnschwellen aus Eichenholz. «So entstand der erste Steinschlagschutz aus Holz».

Heute finden sich viele unterschiedliche Konstruktionsarten solcher Holzbarrieren. Mit verschiedenen Pfostentypen, Rund- oder Kantholz. «Bei einigen ist das Holz zum Beispiel als Vollschutz direkt aneinandergebaut», erläutert Glover. Andere Schutzbauten weisen  dagegen zwischen den Balken Lücken oder Abstandshalter auf und sind mit Eisenbahnschienen oder HEM-Trägern aus Stahl verankert. Eines haben die Holzbarrieren aber in den meisten Fällen gemeinsam, wie Glover erklärt: «Sie sind starr fundiert.»

Noch immer viele Holzbauten

Waren diese Holzpalisaden früher gegen Steinschläge noch gang und gäbe, werden heute praktisch keine mehr gebaut. Denn vielerorts wurden die traditionellen Schutzbauten inzwischen durch modernere Varianten mit Stahldrahtnetzen oder Beton abgelöst. Wer die Augen nach den alten Holzbarrieren offenhält, wird im Kanton Graubünden aber immer noch fündig, wie Glover betont: «An alten Verkehrswegen, entlang der Bahnlinien der Rhätischen Bahn oder auch bei Forstwegen.» Tatsächlich sind es in der Anzahl auch gar nicht mal wenige: Reiht man alle Steinschlagschutzverbauungen im Bündnerland aneinander, erreichen sie laut dem Forscher eine Länge von insgesamt 69 Kilometern, davon besteht ein Drittel – 20 Kilometer – noch immer aus Holz.

Verdrängt wurden die althergebrachten Schutzbauten vermehrt ab den 1960er-Jahren, als Technologien mit Stahldrahtnetzen aufkamen. «Es wurde viel in die Forschung und Entwicklung solcher Netze investiert», erläutert Glover. Dadurch konnten diese im Laufe der Zeit auch so dimensioniert werden, dass sie höheren Aufpralllasten standhielten. Diese Arbeit kam allerdings nicht den alten Holzpalisaden zugute. Deshalb mangelt es bis heute an grundlegenden Daten über die Bruchschlagarbeit von Holzbalken unter dynamischen Steinschlagbelastungen. Dadurch, aber auch durch die Dominanz der Stahlnetzindustrie, ist die Verwendung von Holzelementen in Steinschlagschutzbauten inzwischen praktisch obsolet geworden. Vielerorts wird auf zertifizierte Stahldrahtnetze gesetzt.

Beschädigte Rundholz-Palisaden

Quelle: zvg

Eine durch Baumschlag beschädigte Holzpalisade bei Klosters: Viele dieser Bauten wurden in den 1990er-Jahren gebaut. Sie erreichen langsam aber sicher das Ende ihrer Lebensdauer.

Ersetzen oder Instandhalten?

Ein Grossteil der heute noch im Kanton Graubünden bestehenden Holzpalisaden wurde in den 1990er-Jahren errichtet. Glover: «Im Schnitt sollten die Bauten etwa 40 Jahre ihre Schutzleistung erbringen.» Langsam aber sicher erreichen sie das Ende ihrer Lebensdauer. Vor diesem Hintergrund sehen sich Behörden wie das Bündner Amt für Wald und Naturgefahren (AWN) sowie das kantonale Tiefbauamt, aber auch Bahnunternehmen wie die Rhätische Bahn (RhB) mit mehreren Fragen konfrontiert: Was macht man mit den alten Holzbarrieren? Ersetzt man sie durch moderne, aber zertifizierte Schutzbauten? Hält man sie Instand und wenn ja, wie? Muss das gesamte Holz ersetzt werden oder nur ein oder zwei Träger?

Erste Antworten auf diese Fragen soll das Forschungsprojekt «Holzpalisaden als Steinschlagschutz» des Instituts für Bauen im alpinen Raum an der Fachhochschule Graubünden liefern. In Zusammenarbeit mit dem Lehrstuhl für Holzbau des Instituts für Baustatik und Konstruktion (IBK) der ETH Zürich wird mit Hilfe von Steinschläge simulierenden Schlaghammerversuchen die Wissensbasis für die Dimensionierung, Zertifizierung und Weiterentwicklung von Steinschlagschutzbauten mit Holzelementen erarbeitet. James Glover ist Projektleiter der Forschungsarbeit: «Grobes und langfristiges Ziel ist es, die traditionellen Holz-Schutzverbauungen zertifizieren zu können.» Die Branche soll damit eine umweltfreundliche Alternative zur Verwendung von Standard-Steinschlagschutzbauten aus Stahlnetzen erhalten.

Statischer Lastversuch in Chur

Quelle: Pascale Boschung

Statischer Versuch in Chur: Die Balken werden in einem Drei-Punkt-Biegeversuch an zwei Punkten montiert und in der Mitte langsam Schritt für Schritt einer hohen punktuellen Last ausgesetzt.

Die dynamischen Schlaghammer-Versuche an der ETH Zürich im Video. (Quelle: zvg)

3,5 Tonnen schwerer Hammer

Die dafür erforderlichen Daten werden im Rahmen der Steinschlag-Forschung an Holzbalken gesammelt. Zum Einsatz kommen dafür einerseits frisch geschlagene Kastanien-Rundhölzer, andererseits Balken gleicher Holzart, die 30 Jahre lang in einem alten Steinschlagschutzbau beim Gruobenwald ausserhalb von Klosters verbaut gewesen sind. Dieser musste demontiert werden, nachdem eine neue Gefahrenbeurteilung – ausgelöst durch unumgängliche Baumfällungen im alten Schutzwald – eine erhöhte Steinschlaggefahr ergab. Dem Forschungsteam bot sich dadurch die Gelegenheit, die Holzbarrieren genauer zu untersuchen und das darin verbaute Material Belastungstests unterziehen zu können. Wie der Forschungsleiter erzählt, wäre es aber fast nicht dazu gekommen: «Sie wären beinahe beseitigt worden.» Erst auf Nachfrage konnte Glover die Bauten retten. Für die Erforschung sind die alten Hölzer ideal; sie waren drei Jahrzehnte Wind und Wetter ausgesetzt. «Die Fragestellung dabei ist, ob ihre Schutzleistung über die Zeit abnimmt oder nicht.»

Die Holzbalken werden im Rahmen des Forschungsprojekts zwei Versuchen unterzogen. Im Baulabor an der FH Graubünden in Chur führt Glover mit seinem Team statische Tests durch: Die Balken werden in einem Drei-Punkt-Biegeversuch an zwei Punkten montiert und in der Mitte langsam einer hohen punktuellen Last ausgesetzt. «Das entspricht dem punktuellen Lasteintrag, den wir bei einem Steinschlag erleben». Die Maximallast wird zunächst auf Basis einer technischen Konstruktionstabelle und anhand von Umfang, Länge und Gewicht eines Balkens berechnet. Anschliessend wird getestet, wie viel Durchbiegung und Last das Holz tatsächlich aushält, bis es bricht. Glover: «Die alten Träger weisen im Vergleich zu unseren ersten Schätzungen oft eine doppelt so hohe Bruchlast auf.» Neben dem Lasteintrag wird auch der Bruchprozess analysiert, um am Ende die statische Bruchfestigkeit und die Versagensmechanismen der Balken unter Stossbelastung dokumentieren zu können.

Etwas heftiger geht es an der ETH Zürich zu und her. «Hier wird im Grunde ein Steinschlag simuliert», erklärt Glover. Dies in Form eines 3,5 Tonnen schweren Schlaghammers, der in dynamischen Pendelschlägen gegen die Balken schwingt. Der Hammer wird dabei aus vier Metern Höhe fallen gelassen und trifft wie ein Steinschlag mit hoher Geschwindigkeit und Kraft auf das unter dem Pendel montierte Holz. Ohne Hindernis würde der Hammer wie ein Pendel durchschwingen. Für die Forschung dokumentiert wird der Höhenunterschied beim Durchschwingen, der durch den Aufprall entsteht. «Diesen nutzen wir, um die abgegebene Energie in den Balken zu ermitteln.» Anders als beim statischen Test wird hier der Balken in zwei Teile durchschlagen.

Beschädigte Rundholz-Palisaden bei Filisur

Quelle: zvg

Rundholz-Palisaden mit Baujahr 1995 im Sela-Wald bei Filisur: Ein grösserer Felsbrocken hatte vier runde Eichenträger der Barriere gebrochen. Die Forscher rekonstruierten das Ereignis im Labor nach.

Einschlagpunkte Steinschlag in Sela-Wald bei Filisur

Quelle: zvg

Anhand der Einschlagpunkte im Gelände und an Bäumen wurde die Sprungweite und daraus die Geschwindigkeit des grossen Felsbrockens bei der Holz-Palisade im Sela-Wald abgeschätzt.

Vom Feld ins Labor

Den Versuchen im Labor gingen Felduntersuchungen bestehender Holz-Schutzbauten voraus, die Steinschlagereignisse erlebt haben. Zum Beispiel im Sela-Wald bei Filisur. Die hier stehenden Rundholz-Palisaden mit Baujahr 1995 weisen bereits einige durch Steinschläge entstandenen Spuren auf. «Das Gebiet ist ziemlich aktiv», so Glover. Davon zeugen nicht nur mehrere im Laufe der Jahre festgestellten Schäden am Holz, sondern auch der angesammelte Schotter hinter der Barriere. Im Juli 2021 stellte das Team einen heftigen Steinschlagschaden fest: Ein grösserer Felsbrocken hatte vier runde Eichenträger der Barriere gebrochen. Die Holzpalisade hielt den Stein aber zurück. Glover: «Ich nutze solche Ereignisse, um die mögliche Bruchkraft zu ermitteln.»

Der Stein wurde vor Ort 3D-gescannt und die Umgebung analysiert, um den genauen Fall des Brockens nachzukonstruieren. Danach ging es vom Feld ins Labor. Anhand der Einschlagpunkte im Gelände und an Bäumen wurde die Sprungweite ermittelt und daraus die Geschwindigkeit des Steins abgeschätzt. «Daraus haben wir beim Einschlag eine Geschwindigkeit von etwa 14 Metern pro Sekunde mit einem 800 Kilogramm schweren Stein berechnet.» Damit liege man in einem Bereich von 100 Kilojoule – das entspricht einem Kleinwagen, der mit rund 50km/h ungebremst in eine Wand fährt. Die Schutzleistung der Holzzäune wird derzeit aber sehr viel tiefer eingeschätzt: In einer Grafik vom Bundesamt für Umwelt (Bafu) zu Schutzbauwerken gegen Massenbewegungsgefahren werden Holz-Wände im untersten Bereich zwischen 30 bis 50 Kilojoule aufgeführt.

Grafik Schutzbauwerke gegen Massenbewegungsgefahren

Quelle: BAFU 2016, Schutz vor Massenbewegungsgefahren

In einer Grafik vom Bundesamt für Umwelt zu Schutzbauwerken gegen Massenbewegungsgefahren von 2016 werden Holz-Wände im untersten Bereich zwischen 30 bis 50 Kilojoule aufgeführt.

Genau hier setzt nun aber das Forschungsprojekt an. Mit den erarbeiteten Daten und Bemessungsgrundlagen könne man in Zukunft bestimmen, ob die Bauweise tatsächlich in einem Steinschlaggebiet mit 100 Kilojoule eingesetzt werden könnte. «Dann werden solche Holzschutzzäune eine Option für die Behörden.» Davon abgesehen werden diese aber auch nach einer Zertifizierung nicht überall flächendeckend eingesetzt werden können. Denn Stahllösungen dürften hinsichtlich der Schutzleistung gegen Steinschlag auch in Zukunft die Nase vorne haben: «Die neusten Stahldrahtnetze mit Bremselementen können mittlerweile bis zu 12'500 Kilojoule stoppen

Mögliche Einsatzgebiete für die althergebrachte Methode mit Holzelementen wären für Glover aber zum Beispiel Wälder, die an sich bereits einen wirksamen Schutz gegen Naturgefahren wie Lawinen, Steinschlag, Rutschungen und Murgänge bieten. «Ergänzt um Holzbarrieren könnten diese Schutzwälder gut wachsen.» Zudem würde ihre Schutzwirkung damit zusätzlich verstärkt.

Nachhaltige Alternative

Die traditionelle Baumethode mit Holzelementen wäre auch eine nachhaltige Alternative. Denn Steinschlagschutzbauten aus Stahl weisen einen vergleichsweise hohen CO2-Fussabdruck auf und werden zusätzlich mit für die Umwelt schädlichen Zinkbeschichtungen vor Korrosion geschützt. «Nachhaltigkeit ist ein wachsendes Thema in der Baubranche», sagt Glover. Zudem haben das Amt für Wald und Naturgefahren sowie das Tiefbauamt und die RhB Interesse am Projekt bekundet. Abgesehen von der Nachhaltigkeit könne die traditionelle Bauweise aber auch wirtschaftliche Vorteile bieten. «In der Schweiz wird relativ viel Geld in den Naturgefahrenschutz investiert.» Das gilt aber nicht für internationale Strassenwege über Berggebiete wie in Nepal, im Himalaya, Afghanistan oder Tadschikistan. «Die Holzpalisaden könnten hierbei eine günstige Variante darstellen».

Bis dahin ist es aber noch ein weiter Weg. Zunächst soll ein Leitfaden zur Bemessung von Holzpalisaden erstellt werden. Für die Zukunft hat sich das Forschungsteam noch weitere Ziele gesteckt, darunter die Erarbeitung eines Leitfadens zur Überprüfung und Instandhaltung bestehender Holzpalisaden oder die Verbesserung der starren Bauweise. Aber auch eine Ertüchtigung der Bauten – etwa durch die Einführung von Bremselementen, Gelenkstutzen oder einem Verspann-Netz. Und das langfristige Ziel ist natürlich die Entwicklung eines Verfahrens zur Zertifizierung. «Das kommt aber alles in einer nächsten Phase», lacht Glover. Die jetzige Forschung liefere dazu die Informationen und Grundlagen. Damit könnte es im Gruobenwald bei Klosters vielleicht irgendwann auch wieder Holzzäune geben – an ihrer Stelle stehen dort heute nämlich Stahldrahtnetze. 

Projektbeteiligte

Lead: Institut für Bauen im alpinen Raum (IBAR), FH Graubünden

Projektleitung: James Glover

Team: Yasin Akkus, Philip Crivelli, Imad Lifa, Dionysios Stathas

ETH Zürich:

Lehrstuhl für Holzbau

Institut für Baustatik und Konstruktion (IBK), ETH Zürich
Experimentelle Forschung (expRES@IBK)

Alex Sixie Cao
Gioele Montalbetti
Andrea Frangi

Geschrieben von

Redaktorin Baublatt

Zeichnet, schreibt und kreiert gerne. Themenbereiche: Bauprojekte sowohl international als auch regional, News aus Wissenschaft, Forschung, Technik, Architektur und Design.

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