Stadtführung in Zürich-Nord: Vom Unort zum Wohnort
Nirgends verändert sich Zürich so rasant wie am nördlichen Stadtrand. Wie lebt es sich zwischen Kehrichtverbrennungsanlage, Design-Schulhaus, Fernsehstudio, Autobahnen, urbanen Neubauten und einer Wunderkammer? Ein Besuch im «Entwicklungsland» von Schwamendingen, Oerlikon, Seebach und Opfikon.
Quelle: Gebietsmarketing Glattpark
Obwohl der Glattpark in Opfikon 7000 Personen einen Wohnort bietet, gibt es hier bis heute keine Schule.
«Herzlich willkommen in der Wunderkammer im Todesstreifen zwischen Zürich und Opfikon», begrüsst Vesna Tomse ihre Gäste. Die Stadtsoziologin und Politikwissenschafterin ist die treibende Kraft hinter einem bunt angemalten und liebevoll eingerichteten Container samt Pizza-Ofen, Aussenbar, Pavillon, Kompost-Toilette und Aussenbühne.
Die Wunderkammer befindet sich auf einem Stück Niemandsland zwischen der 2006 eröffneten Tramhaltestelle Glattpark, auf der Grenze zwischen Zürich und Opfikon gelegen, und den ersten Gebäuden des in den letzten 15 Jahren entstandenen neuen Stadtteils Glattpark auf Opfiker Boden. Das Areal gehört der Stadt Zürich, liegt aber in der Gemeinde Opfikon. «Logisch sind jeweils weder die einen noch die anderen Behörden zuständig, wenn ich ein Anliegen habe», sagt Tomse lachend.
«Kein Stadtquartier»
Ein Zuhause für 7000 Einwohner und etwa gleich viele Arbeitsplätze, künstlicher See inklusive, bietet der Glattpark, dieser urbane Annex Zürichs in der Opfiker Agglomeration. Momentan laufen die letzten Bauarbeiten. Wie lange Tomse die 2016 gestartete Wunderkammer, «etwas zwischen Forschungs- und Kulturprojekt» betreiben kann, weiss sie nicht. Der Container samt Umschwung ist eine Zwischennutzung. Es finden experimentelle Konzerte und Theater statt, «schwere Jungs» aus einer Institution in der Nähe helfen bei den Bauarbeiten für die provisorische Kulturoase.
Quelle: Patrick Aeschlimann
Farbtupfer im «Todesstreifen»: Die Wunderkammer ist Forschungs- und Kulturprojekt und gleichzeitig Quartiertreffpunkt.
«Ansonsten läuft nicht viel im Quartier Glattpark, man kennt sich noch nicht wirklich», sagt Tomse. Sie habe etwa von einem Anwohner gehört, der am Zürcher Weihnachtsmarkt im Hauptbahnhof einen Stand entdeckte, der zu einem Laden im Glattpark gehört, an dem er täglich vorbeiläuft, den er aber noch nie wahrgenommen hatte. «Von der Mentalität her ist der Glattpark eine Schichtung von Einfamilienhäusern, kein Stadtquartier», so Tomse.
Aus Agglo wird irgendwie Stadt
Der Glattpark ist eine Bruchlinie. Auf der einen Seite beginnt mit dem Fernsehstudio Leutschenbach die rot-grün regierte Stadt Zürich. Auf der anderen Seite liegt hinter der Autobahn die Agglomerationsgemeinde Opfikon. Man kann vom Glattpark aus in der Ferne den Kirchturm sehen. Bei den Nationalratswahlen 2015 legten 40 Prozent die SVP-Liste ein, der Stadtpräsident gehört der FDP an.
Doch Opfikon verändert sich: «Mit dem urbanen Glattpark kommt die Stadt Opfikon ruchlos entgegen», sagt Tomse. Opfikon, zu dem auch Glattbrugg gehört, hat rund 20 000 Einwohner, ist also selbst längst Stadt geworden. Der Ausländeranteil beträgt 45 Prozent, die aktuelle Präsidentin des Gemeinderates und somit höchste Opfikerin ist Qëndresa Sadriu (SP).
Begegnungsort ohne Begegnung
Dass sich das neue Quartier noch nicht wirklich gefunden hat, hängt auch mit der Stadtplanung zusammen, sind sich die Teilnehmer der Stadtführung «Daheim in der Metropole Schweiz» des Vereins Metropole Schweiz (siehe Box) einig. Was auffällt: Für die 7000 Einwohner gibt es bis heute keine Schule, obschon bereits über 300 schulpflichtige Kinder im Glattpark wohnen.
Es fehlen Plätze, wo man sich begegnen und treffen kann. Dafür wurde der verkehrsberuhigte «Boulevard Lilienthal» als Hauptschlagader des Quartiers gedacht und gebaut. Trotz einigen Geschäften und Restaurants begegnet man hier aber – abgesehen von den nachhause strömenden Pendlern – kaum Menschen und nur wenigen Autos. «Ein Boulevard ist eine belebte Strasse, eine Prachtmeile. Aber da fährt ja nicht mal ein Tram», sagt Tomse.
Wer in den Glattpark ziehen will, findet auf Homegate gegenwärtig knapp 30 Angebote. Für Zürcher Verhältnisse und den neuwertigen Zustand der Wohnungen sind die Preise recht moderat. Für gut 2000 Franken im Monat gibt es 3,5-Zimmer-Wohnungen, Baujahr 2015.
Türme für «Golden Ager»
Auf der anderen Seite der Glattparkstrasse, zwischen World Trade Center, Aldi und dem neu angelegten Leutschenpark sind von 2011 bis 2016 zwei exklusive Wohntürme mit 212 Wohnungen entstanden: The Metropolitans. Auf den ersten Blick scheinen die rund 60 Meter hohen Gebäude imposant, aber auch beliebig und etwas langweilig. Sie könnten in jeder Stadt der Welt stehen, was auch der englische Name suggeriert.
Doch auf den zweiten Blick fallen die das gesamte Gebäudevolumen umhüllenden Ebenen aus Loggien auf. Der zweigeschossige, mondäne Lobbybereich strahlt ebenso Grosszügigkeit aus wie die beiden Dachterrassen, welche von den Bewohnern kollektiv genutzt werden. In der Planungsphase wurde kontrovers diskutiert, ob an dieser peripheren Lage genügend Nachfrage nach hochwertigem städtischem Wohnen bestehe.
Quelle: Patrick Aeschlimann
Gehobenes Wohnen am Stadtrand: Die beiden Wohntürme «The Metropolitans» mit dem Leutschenpark.
Doch die Wohnungen sind begehrt: «Es sind viele ältere Paare in die Metropolitans gezogen, die ihre Wohnung mit dem Verkauf des Einfamilienhauses bezahlt haben», weiss ein Anwohner zu berichten. Nicht nur jüngere Menschen schätzen also das urbane Wohnen, auch viele «Golden Ager» zieht es in städtisches Gebiet. Auch der eine oder andere Promi habe sich einquartiert, so hört man munkeln – das Fernsehstudio Leutschenbach ist schliesslich nur 300 Meter entfernt.
Auf den zwei obersten Stockwerken befinden sich grosse Duplexwohnungen. Laut «NZZ» zahlt man für seine Aussicht bis zu 17'500 Franken pro Quadratmeter, wenn man sich eine solch exklusive Wohnung kaufen möchte. Etwas günstiger sollte man künftig in der unmittelbaren Nachbarschaft wohnen können: Für 175 Millionen Franken will die Stadt Zürich in den nächsten Jahren auf dem Heineken-Areal, auf der anderen Seite des kleinen Leutschenparks, 369 gemeinnützige Wohnungen bauen. Sagt das Stimmvolk ja, wird sich das Quartier also noch einmal stark verändern.
Schub dank Glattalbahn
Dabei konnte man es sich bis vor kurzen kaum vorstellen, dass an dieser Lage überhaupt jemand wohnen möchte. «Bis in die späten 90er-Jahre lebte hier praktisch niemand, Leutschenbach war Industriegebiet, kein Wohnquartier», sagt die Politikwissenschafterin Maarit Ströbele. Alles was laut und störend ist, hatte die Stadt Zürich in der Vergangenheit an ihren nördlichen Rand verfrachtet: Industrie, Kehrichtverbrennungsanlage, Autobahnkreuzungen, Eisenbahnknoten und Flughafen – das Fernsehen gehört offenbar auch in diese Kategorie. «Und in den 50er-Jahren wollte man hier allen Ernstes einen Hafen bauen, um Zürich über den Rhein an den internationalen Seehandel anzuschliessen», so Ströbele. Das änderte sich, als zwischen 2004 und 2008 mit der Glattalbahn zwei neue Tramlinien errichtet wurden, um die nördliche Peripherie Zürichs und den Flughafen besser an den Stadtzürcher ÖV anzubinden.
Lebendiges Hunziker-Areal als Gegenbeispiel
Bei der Kehrichtverbrennungsanlage Hagenholz treffen die Welten erneut aufeinander: Zwischen 2005 und 2009 entstand unmittelbar angrenzend das architektonisch auffällige Schulhaus Leutschenbach mit der Turnhalle im Dachgeschoss. Dort gehen auch die Kinder aus der benachbarten Vorzeigesiedlung der Baugenossenschaft «Mehr als Wohnen» zur Schule.
1200 Menschen sind auf dem Hunziker-Areal in den letzten Jahren eingezogen und versuchen das Motto «Lebendiges Quartier statt Siedlung» mit viel gemeinschaftlichem Engagement in die Tat umzusetzen. Ein gutes Beispiel einer Siedlung, so der Tenor der Teilnehmer der Stadtführung. Hier sei im Gegensatz zu vielen anderen Neubausiedlungen nicht vergessen worden, dass man Teil einer Umgebung ist. Denn oft endet die Planung an der Arealgrenze.
Trendquartier Schwamendingen?
Bei der Kehrichtverbrennungsanlage beginnt das Quartier Saatlen, Teil von Zürich-Schwamendingen. Spätestens seit Viktor Giacobbos Figur Harry Hasler ist der Zürcher Stadtteil national berüchtigt. Hier endet vorerst die schöne neue urbane Zürcher Hochglanzwelt. In den 40er-Jahren entstand hier die erste städtische Siedlung für Arbeitslose, zehn Jahre später folgte eine Siedlung für arme, kinderreiche Familien. Daraufhin wurde nach dem Konzept der Gartenstadt ein neuer Stadtteil für die Arbeiterklasse gebaut.
Noch heute ist Schwamendingen der Stadtkreis mit dem geringsten Pro-Kopf-Einkommen – aber auch einer tiefen Kriminalitätsrate. Es leben viele Ausländer hier, die Bausubstanz ist alt und die Mieten tief. Rund 40 Prozent der Wohnungen sind im gemeinnützigen Wohnungsbau erstellt.
Quelle: Patrick Aeschlimann
Günstige Wohnungen, kaum Restaurants und Einkaufsmöglichkeiten: Im Schwamendinger Quartier Saatlen ist der Laden geschlossen.
Man sieht Kinder auf der Strasse, aber es gibt hier kaum Läden oder Restaurants. Das Auzelger «Dorflädeli» steht leer. Die Fussballer-Familie Rodriguez ist hier aufgewachsen, es treffen viele Kulturen und Sprachen aufeinander. «Dennoch gibt es hier ein reges Quartierleben», sagt Sandra Schmid, Fachmitarbeiterin im Büro für Sozialraum der Stadt Zürich. Vieles laufe über die Schule, trotz der sprachlichen Barrieren gebe es viele Mitwirkungsverfahren in der Quartierentwicklung, die Bewohner seien engagiert.
Doch auch Schwamendingen wird sich in den kommenden Jahren stark verändern: Es stehen nicht nur viele Sanierungen an, mit der «Einhausung Schwamendingen» wird der Autobahntunnel Schöneich gegenwärtig um 940 Meter verlängert. Damit sollen die Quartiere Schwamendingen-Mitte und Saatlen, die von der Autobahn getrennt werden, näher zusammenrücken. Vor allem soll aber auch die Luftqualität verbessert und der Bevölkerung ein Stück Natur- und Erholungsraum gegeben werden. Grundsätzlich freuen sich die Bewohner auf die Aufwertung ihres Quartiers. Doch wie immer schwingt auch die Angst vor dem Verlust günstigen Wohnraums mit. Was, wenn Schwamendingen plötzlich auch zum Trendquartier wird?
Verein Metropole Schweiz
Die Schweiz ist städtisch geworden. Der Mythos Schweiz jedoch ist ländlich geblieben. Der Verein Metropole Schweiz diskutiert Entwicklungen, liefert Denkanstösse und gibt Impulse. Das Anliegen ist die Gestaltung einer lebenswerten und prosperierenden Zukunft in einer urban gewordenen Schweiz. Die Vereinsmitglieder sind Wissenschaftler, private und öffentliche Planer auf allen Ebenen, Verbände, Publizisten und interessierte Bürger aus allen Landesteilen.
Seit 2015 hat der Verein im Rahmen des Schwerpunkts «Daheim in der Metropole Schweiz» vier Veranstaltungen zu den Themen Diversität, Lebensstile, Natur und öffentlicher Raum in der ganzen Schweiz durchgeführt. Die Stadtführung in Zürich-Nord bildete den Abschluss des Projekts. Das Nachfolgeprojekt «Aggloland Schweiz» wird noch dieses Jahr starten. (aes)