So werden Elektroautos zu Stromspeichern für Gebäude
Elektrische Fahrzeuge können künftig Strom für Gebäude liefern. Das Schweizer Start-up Sun2wheel hat eine neue Ladestation entwickelt. Damit kann Strom aus der Photovoltaikanlage auf dem Hausdach im Akku des Elektroautos gespeichert und für den Betrieb elektrischer Geräte genutzt werden.
Quelle: Sun2wheel, zvg
Mit der neuen Zweiweg-Ladetechnik kann die überschüssige Batteriekapazität von Elektroautos als Stromspeicher für Gebäude genutzt werden.
Viele Fahrzeuge sind die meiste Zeit nicht unterwegs,
sondern stehen auf Parkplätzen oder in Tiefgaragen. Dies gilt auch für
Elektroautos. Die riesigen Akkus dieser Fahrzeuge haben eine weitaus grössere
Speicherkapazität als im Normalfall für die tägliche Mobilität benötigt wird.
Das Schweizer Jungunternehmen Sun2wheel AG mit Hauptsitz im luzernischen
Obernau will das Potenzial dieser grossen, ungenutzten Batteriespeicher nutzbar
machen. Die Firma um den bekannten Schweizer Elektroauto-Pionier Marco
Piffaretti hat eine neue Ladestation entwickelt, mit der sich E-Fahrzeuge nicht
nur auftanken, sondern auch wieder entladen lassen. Im Fachchinesisch spricht
man von bidirektionalem Laden.
Der Akku eines E-Fahrzeugs kann damit nicht nur Strom für
die nächste Fahrt speichern, sondern auch für alle elektrischen Anwendungen in
Wohn- und Gewerbehäusern angezapft werden. So kann beispielsweise Strom mit
einer Photovoltaikanlage auf dem Dach erzeugt und im Elektroauto in der Garage
gespeichert werden, um bei Bedarf im Gebäude eingesetzt zu werden. Solarstrom
könnte tagsüber gewonnen, im Fahrzeug gespeichert und in der Nacht für den
Betrieb elektrischer Geräte verwendet werden. Auch den für eine Wärmepumpe
benötigten Strom könnte nachts der E-Auto-Akku liefern. «Vehicle to home» –
kurz: V2H – wird diese Anwendung genannt.
Elektromobilität boomt
Mit 23 Prozent Marktanteil erreichten Elektroautos und
Plug-in-Hybride gemäss dem Verband Auto Schweiz im Juni 2021 einen neuen
Rekordwert bei den Neuzulassungen. Es scheint klar: Die Zukunft gehört der
elektrischen Mobilität. Dieser Wandel ergibt nur Sinn, wenn die elektrischen
Fahrzeuge mit erneuerbarer Energie fahren. Dieser Gedanke steht auch hinter dem
System von Sun2wheel: «Mit der bidirektionalen Ladetechnik wird die
überschüssige Batteriekapazität der Elektroautos erstmals als Stromspeicher für
Gebäude nutzbar. Damit lässt sich der Anteil des Eigenverbrauchs der
Photovoltaikanlage im Gebäude deutlich steigern», sagt Dominik Müller, der für Marktentwicklung
und Vertrieb zuständig ist.
Damit das Elektroauto nicht mehr Strom liefert, als es selbst für den Betrieb benötigt, kann ein Mindestladestand der Batterie programmiert werden. Ist das festgelegte Minimum erreicht, ist der Akku für die Entladung gesperrt. Die neu entwickelte Software steuert dazu alle Energieflüsse zwischen Fahrzeug, Solaranlage, Batteriespeicher, Gebäude und öffentlichem Netz. Diese intelligente Integration über eine App gibt es sonst noch nicht auf dem Markt. Das Ladesystem von Sun2wheel lässt sich mit ausgedienten Elektrofahrzeugbatterien ergänzen. Diese Second-Use-Akkus eigneten sich ideal als lokale Stromspeicher und seien eine nachhaltige Alternative zu herkömmlichen Speicherlösungen, zeigen sich die Verantwortlichen des Start-ups überzeugt.
Quelle: Sun2wheel, zvg
Ausgediente Elektrofahrzeugbatterien lassen sich zu nachhaltigen Stromspeichern umnutzen.
Ziel: Einbindung ins Stromnetz
Das Ziel ist laut Müller die Einbindung der Akkus von Elektrofahrzeugen ins allgemeine Stromnetz. «Vehicle to Grid» oder V2G heisst diese Lösung. Denn die Netzstabilität ist eine wachsende Herausforderung. Solarstrom besitzt einen entscheidenden Makel: Im Sommer und über die Mittagszeit gibt es zu viel Strom, in den Abendstunden und im Winter zu wenig. Steigt die Schweiz aus der Atomenergie aus und baut die Erneuerbaren im grossen Stil aus, werden sich die bereits bestehenden tages- und jahreszeitlichen Schwankungen verstärken.
Am 8. Januar 2021 wäre es im europäischen Stromversorgungssystem beinahe zu einem Blackout gekommen. Den Spannungsabfall verhinderten unter anderem die Akkus von über 2500 Elektrofahrzeugen, die in ihrer zweiten Lebensphase als Batteriespeicher in Gebäuden dienen. «Die Zwischenspeicherung von lokal produziertem Strom in Elektrofahrzeugen wird einen wesentlichen Beitrag leisten, um Schwankungen im Netz auszugleichen», erklärt Pascal Städeli, der sich bei Sun2wheel um den Vertrieb und die Kommunikation kümmert.
«Eine Schlüsseltechnologie»
«Wir alle sind überzeugt: Die Umsetzung der Energiestrategie des Bundes wird vor allem über die elektrische Energie laufen», sagt Müller. «Zudem muss man die Mobilität, Elektrizität, Wärmeversorgung und Verteilung unter einem Hut bekommen, sprich die Sektorkopplung erreichen. Das Verbindungselement von all diesen Themen ist die Speicherung, egal in welcher Form. Wir müssen Energie speichern und Lastspitzen im Elektrizitätsnetz abbauen können. Wir haben das System mit bidirektionalen Ladestationen entwickelt, um diese beiden Dinge zu ermöglichen.» Weil immer mehr erneuerbare Energie erzeugt wird und die Elektromobilität sich im Aufwind befindet, sieht Städeli bidirektionales Laden als «Schlüsseltechnologie, die wir brauchen werden».
Quelle: Sun2wheel, zvg
Der eigene Strom aus der Photovoltaikanlage kann mit bidirektionalen Ladestationen im Elektrofahrzeug zwischengespeichert werden.
Das Sun2wheel-System soll sich für alle Kunden vom
Einfamilienhausbesitzer bis zum KMU oder Industriebetrieb eignen. Durch seinen
modularen Aufbau kann es laufend erweitert werden. Das ist besonders für Mehrfamilienhäuser
ein Vorteil. Besitzer von Wohnliegenschaften und Gewerbebetriebe können durch
die neue Technologie ihren Solarstrom optimal nutzen und damit den Grad der
Unabhängigkeit vom Netz steigern. Industrielle Unternehmen können durch das
sogenannte «Peak Shaving» Lastspitzen im Betrieb brechen, was die Energiekosten
senkt.
Grosse Nachfrage erwartet
Die ersten Zweiweg-Ladestationen hat Sun2wheel ausgeliefert,
Bestellungen für noch mehr liegen vor, und über weitere Lieferungen wird gerade
verhandelt. Betreiber von Fahrzeugflotten interessieren sich genauso dafür wie
Verwaltungen von Mehrfamilienhäusern, Gemeinden und Manager von
Gewerbegebäuden. Im Moment hat das junge Unternehmen laut Müller vor allem
Kunden, die über eine Photovoltaikanlage verfügen und eine Lösung für die
Zwischenspeicherung und Eigenverbrauchsoptimierung suchen, aber nicht in eine
stationäre Batterie investieren möchten. «Wir erwarten eine sehr grosse
Nachfrage nach unserem System in einem Markt, der sich aktuell rasch entwickelt.
Die Zukunft von bidirektionalem Laden hat soeben erst begonnen», sagt
Piffaretti.
Quelle: Sun2wheel, zvg
Eine bidirektionale Ladestation von Sun2wheel im Betrieb.
Tatsächlich ist das Potenzial für solche Ladestationen
in der Schweiz recht gross. Mehr als viereinhalb Millionen PKW sind in
der Schweiz insgesamt unterwegs. Ende 2020 waren in der Schweiz rund
43 000 Elektrofahrzeuge zugelassen – und die Zahl nimmt rasant zu. Gemäss
Prognosen werden bis Mitte des Jahrhunderts zwischen 1,4 und 3,5 Millionen
E-Autos auf den Schweizer Strassen herumkurven. Würden nur 100 000 E-Autos an
ein bidirektionales Ladenetz angehängt, könnten sie eine Leistung von einem
Gigawatt liefern – eine Strommenge in der Grössenordnung eines Atomkraftwerks.
Das heisst: 100 000 elektrische Fahrzeuge könnten bei einer gespeicherten
Energiemenge von 30 Kilowattstunden den Tagesbedarf von 200 000
Einfamilienhäusern decken.
CO2-Einsparungen von 35 Prozent
Ein Forscherteam um den Doktoranden Loris di Natale von der
Eidgenössischen Materialprüfungs- und Forschungsanstalt (Empa) und der ETH
Lausanne (EPFL) hat das Einsparpotential importierter Treibhausgasemissionen
berechnet, wenn Elektroautos als Stromspeicher genutzt werden. Werden
Elektrofahrzeug-Batterien so eingesetzt, kann in der Schweiz produzierter Strom
hier gehalten und muss gleichzeitig weniger Strom importiert werden. Für den
Klimaschutz ist dies insbesondere dann wünschenswert, wenn importierter Strom
aus emissionsintensiven Quellen wie Kohle- oder Gaskraftwerken stammt.
Resultat der Studie, die im Fachmagazin «Energies»
erschienen ist: Im Jahr 2050 liessen sich die importierten
Treibhausgasemissionen um rund 35 Prozent senken, wenn Elektroautos als
Stromspeicher genutzt werden. In Kombination mit Speicherseen und
Pumpspeicherkraftwerken könnte gar eine Reduktion von 60 Prozent erreicht
werden. Dabei würden Elektroautos insbesondere die täglichen Spitzen glätten,
die Wasserspeicher die saisonalen Spitzen.
Die Forscher betonen aber, die Schweiz werde selbst bei
vollständiger Ausschöpfung des Elektroauto-Speicherpotenzials die Schwankungen
nicht vollständig ausgleichen können. Die Schweiz bleibe im Winter ein
Nettoimporteur, im Sommer ein Nettoexporteur, schreiben sie. Um die
verbleibenden Überschüsse im Inland zu nutzen, brauche es insbesondere für die
saisonale Speicherung neue Technologien, etwa Wasserstoff oder synthetische
Treibstoffe. Zudem brauche es genügend Elektroautos, genügend Lade- und
Entladestationen sowie die rechtlichen Grundlagen, um Strom aus den
Elektrofahrzeugen ins Netz einspeisen zu können, so Di Natale gegenüber der
Nachrichtenagentur Keystone-SDA.
Akkuabnutzung «kein Thema»
«Gemäss unseren Berechnungen erreichen wir bereits mit dem kleinen Szenario von 1,4 Millionen Fahrzeugen einen deutlichen Stromspeicher-Effekt», so der Forscher. Dabei sei allerdings eine zusätzliche Abnutzung der Batterien spürbar. Ab 1,4 Millionen Fahrzeugen nehme die zusätzliche Alterung der Batterien jedoch immer mehr ab, da sich die Ausgleichsströme auf mehr Fahrzeuge verteilen würden. «Beim Szenario mit 3,5 Millionen Fahrzeugen ist keine zusätzliche Alterung mehr nachweisbar», so Di Natale.
Sun2wheel bestätigt, die Ladungen und Entladungen für die Energiespeicherung und -versorgung würden zu einer rascheren Abnutzung des Auto-Akkus führen, wenn auch nur in geringem Masse. «Mit der Nutzung des Fahrzeuges als Zwischenspeicher wird die Zahl der Ladezyklen erhöht, allerdings auf eine sehr sanfte Art und langsame Art, was bei der Batterie keine merkliche Alterung verursacht», sagt Städeli. Die Akkus seien für bedeutend höhere Lasten ausgelegt, als sie in Haushalten vorkämen. Auch weil die technische Entwicklung schnell voranschreite, sei das «überhaupt kein Thema».
Autohersteller steigen ein
Allerdings gibt es heute noch nicht viele Elektroautos, die das bidirektionale Laden ermöglichen. Grundsätzlich können alle japanischen Elektrofahrzeuge bidirektional laden, weil dies vom Staat vorgeschrieben ist. Möglich ist bidirektionales Laden vor allem bei Fahrzeugtypen mit Chademo-Schnittstelle, in einem Fall auch mit CCS-Schnelladekabel. Nach Angaben von Sun2wheel sind zurzeit E-Autos von Nissan, Mitsubishi, Peugeot und Honda verfügbar, die ein solches Zweiwegladen zulassen. Mehrere Fahrzeughersteller wie VW und Renault hätten für die nahe Zukunft die Markteinführung von bidirektional ladbaren Elektromodellen angekündigt. Bis 2025 könnte eine internationale Norm eingeführt werden, die auch das bidirektionale Laden mit CCS-Ladesteckern verbindlich regeln wird.