14:02 BAUPRAXIS

"Die Stadt lebt vom Vertrauen der Einwohner, auch im digitalen Zeitalter"

Teaserbild-Quelle: zvg

Im Oktober 2017 zog Christian Geiger aus dem deutschen Ulm in die Ostschweiz, um die neu geschaffene Stelle als Chief Digital Officer der Stadt St. Gallen zu übernehmen. Im Interview erklärt der 35-Jährige, wie er den Einstieg in der Schweiz erlebt hat und was in der Stadt St. Gallen in Sachen Digitalisierung und Smart City läuft.

EEvent in St. Gallen

Quelle: Patrick Casutt

Mit über 500 LAN-Plätzen ging die Game-Veranstaltung «EEvent» dieses Jahr in St. Gallen über die Bühne.

Sie sind seit etwas mehr als einem Jahr als Chief Digital Officer (CDO) der Stadt St. Gallen im Amt. Was haben Sie im ersten Jahr erreicht?

Christian Geiger: In der Anfangsphase ging es darum, die Akteure kennenzulernen und zu sehen, wer was macht und in welche Richtung wir gehen wollen. In Sachen Smart City hat sich in dieser Zeit sehr viel getan. Das Thema ist als Vision der Stadt auf der Agenda und wird zunehmend auch als Thema der Verwaltung sichtbar. Das hat aber nicht nur mit mir als Chief Digital Officer zu tun. Die Thematik ist insgesamt aktueller geworden. Nach und nach sehen sowohl die Verwaltung als auch die Politik, dass es ein wichtiges und chancenreiches Thema ist.

Wie zeigt sich denn, dass Verwaltung und Politik das Thema heute anders wahrnehmen?

Der Erfahrungsaustausch gewinnt an Wichtigkeit. Die Stadt St. Gallen pflegt den Kontakt zu Städten in der Nachbarschaft wie Winterthur oder Wil. Zusätzlich zu diesen bilateralen Kontakten wurde der Smart City Hub Switzerland gegründet, dem ich vorsitze. Er soll ein zentrales Austauschgremium für Gemeinden, bundesnahe Betriebe und Vertreter aus der Wissen­schaft sein. Ich glaube, es ist essenziell, dass man über das eigene Gärtchen hinausdenkt. Auch das sieht man heute immer mehr. Denn auch wenn zwischen Städten und Gemeinden gewissermassen ein Wettbewerb herrscht, so sind der Erfahrungsaus­tausch und gemeinsame Projekte sehr sinnvoll.

In erster Linie geht es bei Ihrer Tätig­keit aber um die Stadt St. Gallen. Was bedeutet es für die St. Galler Bevölke­rung, wenn die Digitalisierung und Smart-City-Themen sichtbarer werden?

Als Stadt versuchen wir, neben der Durch­führung von Projekten, diese digitalen Themen für die Bevölkerung greifbarer zu machen. Im 2018 fanden in der Stadt beispielsweise wichtige Veranstaltungen der «IT-Community» wie der «EEvent» im Bereich des E-Sports, die «Opendata.ch»-Konferenz oder die «Wiki­Con 2018», der Treffpunkt für Wikipedia-Autoren, statt. Auch am Digitaltag Ende Oktober waren wir mit einem Stand am Hauptbahnhof St. Gallen präsent, um der Bevölkerung zu zeigen, was Smart City be­deutet und womit wir uns als Verwaltung beschäftigen. Wir möchten aber nicht nur die Bevölkerung erreichen, auch für Unternehmen möchten wir als Stadt ein guter und direkter Ansprechpartner sein und eine «Ermöglichungskultur» schaffen.

Wie gelingt das?

Mit dem Konzept «Testfeld St. Gallen», das wir derzeit ausarbeiten, möchten wir die Stadt, wie der Name schon sagt, als Experimentierlabor positionieren. St. Gal­len soll ein Ort sein, an dem man Dinge innerhalb einer Stadt ausprobieren kann. Unternehmen sind daran interessiert, Ideen und Projekte in Realbedingungen zu testen. Als Verwaltung möchten wir diese Möglichkeit für die Produktent­wicklung und Forschung der Unterneh­men schaffen.

Heute ist es einfacher als vor fünf Jahren, die Digitalisierung und Smart-City-Entwick­lungen politisch voranzutreiben.

Christian Geiger, Chief Digital Officer, Stadt St. Gallen

Christian Geiger, Chief Digital Officer, Stadt St. Gallen

Sie sind für Ihre neue Stelle von Ulm nach St. Gallen gezogen. Welche Auswirkungen hatte diese Veränderung für Sie persönlich?

Durch den Umzug hat sich auf allen Ebenen viel verändert. Es war ein Öko­systemwechsel, ein Wechsel in den be­ruflichen und privaten Netzwerken. Obwohl ich den passenden fachlichen Hintergrund mitbringe, war vieles für mich neu. Ich bin zwar eigentlich nicht weit weg von hier, in Ravensburg, aufgewachsen, aber das Leben und Arbei­ten in der Schweiz ist natürlich anders.

Was meinen Sie konkret?

Durchaus positiv. Die Diskussion über den Service Public zum Beispiel ist eine andere. Die Professionalität in der Ver­waltung nehme ich in der Schweiz als sehr hoch wahr. Demgegenüber muss man technisch etwas umdenken, wenn man in die Schweiz kommt. Man muss sich regelmässig die Frage stellen, wie gross kann beziehungsweise soll eine neue Lösung wirklich sein, um sinnvoll skalieren zu können. Überall gleich ist hingegen die Tatsache, dass der Erfolg der Projekte nicht nur von der Technik oder den rechtlichen Rahmenbedingungen abhängt, sondern von den Köpfen, die dahinter stehen und an der Umsetzung beteiligt sind. Das merkt man vor allem, wenn Menschen mit viel Herzblut bei der Sache sind.

Ist in der St. Galler Stadtverwaltung genug Herzblut vorhanden?

Sehr viel sogar. Ganz allgemein nehme ich hier eine grosse Affinität und Offen­heit für die Thematik wahr. Ich habe mich sehr über die Grundlagen gefreut, die in St. Gallen bereits vor einigen Jah­ren gelegt wurden. Zum Beispiel über das Smart City Lab, die Initiative für den Aufbau eines Kompetenzzentrums für Smart-City-Projekte in der Ostschweiz. Hier gibt es viele Institutionen aus Wirt­schaft und Forschung, die das Thema Smart City pushen wollen. Das ist wich­tig für die Verankerung der Thematik sowohl in der Wissenschaft als auch in der Gesellschaft. In Deutschland bei­spielsweise mussten wir diese Grundlagen erst erarbeiten. Dabei spielt aber natürlich auch der Zeitpunkt eine wich­tige Rolle. Vor fünf Jahren wurde das Thema noch anders wahrgenommen. Heute ist es einfacher als damals, die Digitalisierung und Smart-City-Entwick­lungen politisch voranzutreiben.

Mit St. Gallen sind Sie in eine Stadt gekommen, die mit dem flächendeckenden Glasfasernetz schon eine wichtige Grundlage für die Smart-City-Infrastruktur gelegt hatte. Was raten Sie Gemeinden, die noch nicht so weit sind? Muss zwingend ein lückenloses Glasfasernetz her?

Die Infrastruktur ist ein wichtiger, auch langfristig strategischer, Faktor. Diese Abdeckung ist in St. Gallen tatsächlich sehr gut. Manche Dinge funktionieren aktuell aber sicherlich auch mit weniger Bandbreite. Jede Gemeinde muss für ihre individuelle Situation herausfinden, wo sie anfangen will und was sie nach aussen hin bewirken möchte. Die Bürgerinnen und Bürger wollen mit der Digitalisierung primär einen Mehrwert spüren. Für eine Gemeinde kann es aber durchaus Sinn machen, beispielsweise als erstes den Abwasserbereich mit neus­ten Technologien effizienter auszugestalten. Nur sieht keiner etwas davon.

Was ist denn jetzt besser?

Es gibt unzählige Bereiche, in denen man anfangen könnte. Wichtig ist vor allem, dass man mit den neuen techno­logischen Möglichkeiten existierende, spürbare Probleme löst. Wir sollten wissen, was der Bevölkerung unter den Nägeln brennt.

Kommt hier die gerne erwähnte Partizipation ins Spiel?

Ich spreche lieber von digitaler Teilhabe. Der Bürger soll an Dingen teilhaben können, sei das im politischen Rahmen oder im Verwaltungskontext. Wir sollten die Bevölkerung nicht fragen, wo sie die Stadt in zehn Jahren sieht, sondern die heutigen Probleme abfra­gen. Ich bin beispielsweise ein grosser Fan von Stadtmeldern. Sie vereinen die Digitalisierung, Effizienzüberlegungen und partizipative Elemente. Werden die gemeldeten Beschwerden direkt an die zuständigen Abteilungen weitergeleitet, hat das Ganze auch noch einen Prozess­optimierungscharakter. Und der Vorteil dabei ist, dass die Bevölkerung sieht, wie gut eine Gemeinde in der Mängel­behebung ist. Das kann auch dem Image des Verwaltungsangestellten helfen. Aber Vorsicht: Lösungen für Stadtmelder gibt es schon etliche. Man muss sich genau überlegen, welche man einsetzen möchte. Es soll schliesslich nicht nur eine modern aussehende Software sein, die im Hintergrund aber viel manuelle Arbeit verlangt.

Braucht es für solche Projekte einen Chief Digital Officer?

Wie man diese Koordinationsstelle nennt, ist nicht so wichtig. Viel entschei­dender ist die Unabhängigkeit einer klas­sischen Stabsstelle in dieser Funktion. Es ist eine Querschnittsstelle, die keinem bestimmten Bereich, wie etwa der Stand­ortförderung oder der IT, angegliedert sein sollte. Es ist eine vermittelnde Tä­tigkeit. Ich bin in St. Gallen dem Stadt­präsidenten angegliedert, arbeite aber für alle Stadträte. Der Digitalbeauftragte sollte in der Lage sein, verschiedene Hüte aufzusetzen. Dabei ist eine «Wir als ganze Stadt»-Denkweise essenziell. Im Vergleich zum sehr verbreiteten abtei­lungsweisen Gärtchendenken. In dieser Position muss man zudem ein Gespür dafür entwickeln, wo die Bedenken der Kollegen oder sonstige Schwierigkeiten liegen. Der Digitalbeauftragte muss ein Auge dafür haben, wieso man in gewissen Bereichen oder an bestimmten Stellen nicht vorankommt.

Was kann der CDO oder Digitalbeauftragte tun, wenn er auf Wider­stand stösst, etwa von langjährigen, weniger digitalaffinen Mitarbeitern?

Mit beschränkten Ressourcen sollte man sich genau überlegen, wie man diese einsetzt. So ist es auch in der Digitalisierung. Es geht nicht darum, jemanden zu überreden. Die Mitarbeitenden müs­sen die Mehrwerte selber erkennen. Erst dann macht es Sinn. Erfahrungsgemäss hat der Widerstand aber überhaupt nichts mit dem Alter zu tun. Es gibt auch junge Verbohrte und ältere, die gerne Neues probieren und lernen. Ausserdem bin ich überzeugt, dass einige Mitarbeiter in unserer Stadtverwaltung erst einmal abwarten und beobachten, was ich so mache. Sie müssen mich auch erst kennenlernen und merken, dass sie sich auf mich verlassen können. Ressour­cen sind also geschickt einzusetzen, denn in der Zeit, in der man einzelne Per­sonen zu überzeugen versucht, könnte man mehrere andere Projekte umsetzen.

Gerade aktuell ist das Projekt des neuen Chatbots der Stadt. Dieser läuft seit kurzem in der Beta-Version und soll ab Februar 2019 voll einsatz­fähig sein. Welchen Mehrwert bringt er der Stadtbevölkerung?

Der Chatbot liefert den Einwohnern zu jeder Uhrzeit Informationen über The­men, die sie sonst mühsam auf der Webseite suchen müssten. Im Moment beantwortet er beispielsweise Fragen rund um Einwohnermeldeauskünfte, Be­treibungsauskünfte oder den E-Umzug und informiert über Veranstaltungen. Beim offiziellen Start soll man auch die Frist für die Steuererklärung über den Bot verlängern oder Suchfunktionen im Bereich der Mobilität nutzen können.

Der Chatbot richtet sich nur an eine bereits digitalaffine Zielgruppe. Was ist mit den älteren St. Gallern?

Der Chatbot soll nicht die einzige Infor­mationsquelle sein. Als Stadt müssen wir für 100 Prozent der Bevölkerung da sein. Solange es Menschen gibt, die an den Schalter im Rathaus kommen, wird es einen Schalter geben. Es gibt immer einen Teil der Bevölkerung, der eher analog unterwegs ist. Entsprechend muss es für alle einen Weg geben, an die Informationen und Dienstleistungen zu kommen. Man darf nie vergessen, es geht bei Smart Cities ja nicht primär um die digitalen Lösungen, sondern um den Mehrwert für die gesamte Be­völkerung. Die Projekte haben zwar meist einen Bezug zu neuen Technolo­gien, das ist aber nicht zwingend. Es ist sinnlos, über digital oder nicht digi­tal zu diskutieren. Es geht darum, Prob­leme zu lösen, Abläufe für die Einwoh­nenden zu vereinfachen und Ressourcen zu schonen.

Der Bürger soll an Dingen teilhaben können. Wir sollten die Bevölkerung nicht fragen, wo sie die Stadt in zehn Jahren sieht, sondern heutige Probleme abfra­gen.

Christian Geiger, Chief Digital Officer, Stadt St. Gallen

Christian Geiger, Chief Digital Officer, Stadt St. Gallen

An Smart-City-Veranstaltungen wird immer wieder die Frage aufgeworfen, welche Businessmodelle es für smarte Städte mit ihren gesammelten Daten geben könnte. Sie hingegen betonen, dass Städte im Gegensatz zu privaten Unternehmen keine kommerziellen Interessen mit ihren Daten verfolgen sollten. Wieso nicht?

Als Stadt lebt man vom Vertrauen der Einwohner. Dies gilt im digitalen Zeitalter natürlich genauso. Bei der Daten­diskussion muss man deshalb erst einmal die Art der Daten unterscheiden. Es gibt Daten, die komplett privat sind, solche, die schon heute als aggregierte Daten veröffentlicht werden, und schliesslich jene, die man problem­los öffentlich zur Verfügung stellen könnte. Es ist eine Grundsatzfrage, wie weit man die unproblematischen Informationen zugänglich machen will. Ich persönlich bin ein Verfechter von Open Data. Als Stadt sollte man allerdings im eigenen «Geschäftsmodell» nicht darauf angewiesen sein, Daten zu ver­kaufen. Wir haben den Luxus, dass wir nicht auf Quartalszahlen, sondern auf eine langfristig tragbare Lösung schauen müssen.

Aber von Überfluss und komfortablen finanziellen Verhältnissen zu sprechen, wäre vermutlich etwas vermessen.

Wir werden als Stadt von den Einwoh­nern und Unternehmern mit Steuergel­dern bezahlt. Unsere Handlungen müs­sen diesen Zielgruppen zugutekommen, und zwar langfristig.

Ist langfristiges Denken bei unseren Legislaturperioden und regelmässig anste­henden Wahlen überhaupt realistisch?

Auch in der Politik muss es stets um das übergeordnete Ziel gehen, wo die Gemeinde in Zukunft stehen soll. Ich hoffe schon, dass diese Einstellung vor­herrscht. Mit der Digitalisierung haben wir die Möglichkeit, langfristigen Mehr­wert zu schaffen.

Woran denken Sie, wenn Sie an die Zukunft denken?

Ich freue mich darauf, wenn die einzel­nen Projekte sichtbar werden. Derzeit läuft in St. Gallen viel Grundlagenarbeit, etwa für die digitale Roadmap der Stadt St. Gallen oder in Sachen Open Data. Diese Entwicklungen werden je länger je greifbarer.

Zur Person

Christian Geiger ist seit Mitte Oktober 2017 Chief Digital Officer der Stadt St. Gallen und unterstützt in dieser Funktion den Stadtrat im Handlungsfeld «Smarte Stadt». Davor arbeitete der Politik- und Verwaltungswissenschaftler als akademischer Mitarbeiter in der Stadt Ulm, wo er die Stadtverwaltung im digitalen Transformationsprozess begleitete und sich mit den Themen Smart City, Open Government Data, Social Media und E-Government beschäftigte. (nsi)

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