Beirut nach der Explosion: Fachliche Hilfe für die Sicherheit von Gebäuden
Nach der Explosion in Beirut war das Schweizerische Korps für humanitäre Hilfe (SKH) rasch vor Ort. Der Einsatz umfasste auch die Beurteilung von Schäden an Gebäuden, denn ein beträchtlicher Teil des Gebäudebestands ist strukturell zerstört. Die Ingenieure Regina Wenk und Michael Büeler berichten über ihre Arbeit in Beirut.
Quelle: SKH / EDA
Die Explosion hat in Beirut die Quartiere rund um den Hafen vollständig zerstört.
Am 4. August explodierten gegen sechs Uhr abends im Hafen von Beirut rund 2750 Tonnen Ammoniumnitrat. Bei der verheerenden Explosion verloren mindestens 190 Menschen ihr Leben, über 6000 wurden zum Teil schwer verletzt und 400'000 Menschen obdachlos. Die Druckwelle zerstörte die an den Hafen angrenzenden Stadtteile sowie die Spitäler Wardieh und Saint George vollständig. Laut der Unesco wurden rund 8000 Gebäude beschädigt. Darunter befinden sich 640 historische Häuser, von denen 60 einsturzgefährdet sind.
Mitte August waren auch die Ingenieurin Regina Wenk und der Ingenieur Michael Büeler für das Schweizerische Korps für humanitäre Hilfe (SKH) in Beirut im Einsatz. SKH-Teams führen unter Leitung der Humanitären Hilfe der Schweiz (HH) während und nach Katastrophen überall auf der Welt Projekte durch. Die HH ist einer von vier sogenannten Bereichen der Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit (DEZA) im Eidgenössischen Departement für auswärtige Angelegenheiten.
Wie haben Sie persönlich die Lage bei Ihrer Ankunft in Beirut erlebt?
Regina Wenk: In Beirut wurden wir von der Botschafterin Monika Schmutz Kirgöz und ihrem Team empfangen. Sie waren selbst von der Explosion betroffen und froh um die rasche und fachliche Hilfe aus der Schweiz.
Michael Büeler: Wir sind am Donnerstagmorgen, anderthalb Tage nach der Explosion, in Beirut angekommen. Wir trafen eine Stadt in kollektivem Schock an. Viele Leute erzählten uns, dass sie im Moment der Explosion dachten, sie würden nun sterben. Die Geschichten dieser Menschen haben uns sehr betroffen gemacht. Beeindruckend war aber auch, dass so kurz nach dem Ereignis bereits sehr viel aufgeräumt war. Die Strassen waren voll von mehrheitlich jungen Menschen, die mit Besen den Schutt beseitigten.
Quelle: SKH / EDA
Regina Wenk (rechts) bespricht die Lage mit den libanesischen Bauspezialisten.
Wie präsentierte sich für Sie die Situation vor Ort? Und ist die verheerende Explosion mit anderen Ereignissen vergleichbar, wenn Sie auf Ihre bisherige Erfahrung beim SKH zurückblicken?
RW: Bei den zum Hafen ausgerichteten Gebäudeseiten gab es Schäden an Fassadenelementen, Fenstern, internen Installationen und dem Mobiliar. Diese wurden durch die Detonation herausgeschlagen und zerstört. Glassplitter und Aluminiumelemente, Fenster und Türen lagen als Trümmerteile innerhalb und ausserhalb der Gebäude. Einzelne alte Gebäude, die zumeist aus Sand- oder Backstein gebaut waren, sind kollabiert oder stark beschädigt worden.
Hier wurden mit Bestimmtheit Menschen unter den Trümmern begraben und hatten wahrscheinlich sogar ihr Leben verloren. In den Gebäuden sahen wir immer wieder die Folgen der starken Wucht der Explosion. Glasscheiben hatten wie Splitterbomben das Innere der Häuser getroffen. Viel Blut an Wänden und Böden wiesen darauf hin, dass hier Menschen durch Glassplitter verletzt wurden.
Beim Erdbeben 2009 in Padang haben die Gebäudestrukturen starke Schäden erlitten. Häuser sind eingestürzt oder teilweise kollabiert. Dort wurden viel mehr Menschen verschüttet und getötet. Die Schadenlagen waren grossflächiger und komplexer, die Anzahl der Opfer um ein Vielfaches grösser. Die Arbeit auf den Schadenlagen in Beirut war für uns einfacher, da wir nicht mit Nachbeben rechnen mussten.
Was war Ihr Auftrag in Beirut?
RW: Unser Hauptauftrag war, das Botschaftsgebäude auf strukturelle Schäden zu prüfen, um zu entscheiden, ob es weiter verwendet werden und das Botschaftspersonal die Arbeit wieder aufnehmen konnte. Das Gebäude mit 16 Stockwerken musste vom Fundament über das Untergeschoss bis zum obersten Stockwerk kontrolliert werden. Danach haben wir die Appartements der Botschaftsmitarbeiter auf die strukturelle Beschaffenheit und Schäden geprüft. Dies war sehr wichtig, denn die Wohnungen liegen in den umliegenden Quartieren des Explosionsherds.
Die meisten Botschaftsangestellten waren zur Zeit der Detonation mit ihren Familien zu Hause. Sie haben die Explosion selbst miterlebt, einzelne wurden leicht verletzt, andere konnten sich zum Glück im Haus in Sicherheit bringen. Der Schock über das Erlebte sass tief, sie hatten Ängste, in den beschädigten Gebäuden weiterzuleben. Daher war der Besuch durch die Spezialisten eine grosse Erleichterung für sie und ihre Familien. So konnten sie sicher sein, dass sie nach der Instandstellung wieder beruhigt in ihre Wohnungen zurückkehren konnten.
Am dritten Tag konnten wir mit der Regierung und mit zuständigen Stellen des Baudepartements Kontakt aufnehmen. Eine Koordinationsstelle für Such- und Rettungsteams war bereits eingerichtet. Ausserdem nahmen wir die Unterstützung der lokalen Behörden an. Die Teams, welche ihre Rettungsarbeiten in den Gebäuden beendet hatten, konnten danach bei der Prüfung beschädigter Häuser eingesetzt werden. Jedem Team mit Baustatikern wurde ein lokaler Ingenieur zugeteilt. Ihnen wurde dann je ein Sektor zugewiesen, in dem sie die Gebäude beurteilen mussten.
Ziel war es, in einer Erstbeurteilung die Schäden zu erfassen und die Gebrauchstauglichkeit der Gebäude einzustufen. Dabei wurde zwischen drei Zerstörungsgraden unterschieden. Grün waren die untersuchten Gebäude ausgewiesen. Gelb bedeutete, dass eine eingeschränkte Nutzbarkeit besteht. In rot markierten Gebäuden war der Aufenthalt unsicher und gefährlich, sodass die Menschen evakuiert werden mussten. Die Koordinationsstelle sammelte die Daten und leitete diese an die Behörden weiter. Ein Architekt hat dann erste Instandsetzungsmassnahmen in den Gebäuden koordiniert und gestartet sowie Abklärungen vorgenommen für mögliche Projekte der Schweiz. Das betrifft vor allem die Wiederherstellung von Schulhäusern oder Spitälern.
Mit welchen speziellen Herausforderungen waren Sie konfrontiert und was hat die Arbeit zusätzlich erschwert?
MB: Wegen des Coronavirus konnten wir nur mit einem aktuellen, negativen Coronatest einreisen. Vor Ort trugen wir immer Masken. Das war bei den hohen Temperaturen in Beirut eine Herausforderung, wäre aber aufgrund der hohen Staubbelastung in der Luft auch ohne Coronavirus sinnvoll gewesen. Die politischen Unruhen haben uns nur am Rand tangiert. Dank der Erfahrung unserer Spezialisten waren wir sehr gut über die aktuelle Sicherheitslage informiert und mussten die Arbeit nur einmal frühzeitig beenden, um einer Demonstration ausweichen zu können.
RW: Es waren sehr viele Menschen in der Stadt, was unsere Arbeit erschwert hat. Die Gebäude wurden bereits wieder betreten und gesäubert. Wir mussten teilweise Menschen darum bitten, Teile der Gebäude nicht mehr zu betreten. Da wir aber keine Befugnisse hatten, Häuser teilweise oder komplett zu sperren, mussten wir uns darauf verlassen, dass die Behörden eine Regelung fanden.
Quelle: SKH / EDA
Michael Büeler untersucht die strukturellen Schäden und ob Gebäude noch bewohnbar sind.
Inwiefern konnten Sie libanesische Bauspezialisten in die Arbeit einbeziehen?
MB: Es war umgekehrt. Die libanesischen Bauingenieurinnen und- ingenieure haben uns in ihre Arbeit miteinbezogen. Die Koordination und Führung lag bei den libanesischen Behörden. Die lokalen Fachpersonen sind sehr gut ausgebildet. Wir konnten sie durch unsere Erfahrung in der Beurteilung beschädigter Gebäude unterstützen.
Wie hat die Zusammenarbeit mit den libanesischen Behörden geklappt?
MB: Die Zusammenarbeit hat sehr gut funktioniert. Die Behörden haben mit Unterstützung der internationalen Gemeinschaft sehr schnell eine funktionierende Koordination der Gebäudebeurteilungen auf die Beine gestellt.
RW: Die Behörden waren sehr offen und hilfsbereit. Sie haben die rasche Hilfe von aussen sehr geschätzt. Und durch die Koordinationszellen der internationalen Such- und Rettungsteams konnte die Hilfe sehr rasch und effizient anlaufen, Ressourcen genutzt und somit gute Hilfe geleistet werden.
Die Solidarität im Libanon mit den Menschen in Beirut war gross. Wie haben Sie die Hilfsbereitschaft erlebt?
MB: Diese Solidarität hat mich sehr beeindruckt und wird wohl für mich eines der bleibenden Bilder sein. Tausende Leute reinigten die Strassen, verteilten Getränke, Esswaren und Medikamente oder halfen beim Ausräumen von beschädigten Wohnungen.
RW: Ja, in der Stadt haben viele Menschen einander geholfen. Sie haben Trümmer und Scherben beseitigt und entsorgt oder stark verwüstete Wohnungen aufgeräumt. Vor allem junge Menschen waren mit Besen in der Stadt unterwegs und halfen, wo es nötig war. Pfadi-Gruppen und Schulkinder haben Hilfe geleistet und sich aktiv am Aufräumen beteiligt. Gruppen junger Menschen waren in der Altstadt unterwegs, um heissen Kaffee auszuschenken oder Essen zu verteilen. Auch gab es in der Stadt bereits eine mobile Klinik, die verwundete Personen versorgt hat.
Können Sie dazu ein Beispiel schildern?
RW: Ein älterer Mann war mit zwei jungen Frauen in der Stadt unterwegs. Sie haben die Ärmel hochgekrempelt und versucht, anderen, die alles verloren hatten, tatkräftig beim Aufräumen zu helfen. Der Mann hat uns geschildert, wie es den Menschen in Beirut geht und dass sie keine Arbeit finden können. Die zwei jungen Frauen waren gerührt. Ja, sie haben geweint vor Aussichtslosigkeit und Angst.
Wie hoch schätzen Sie den Anteil der zerstörten Bausubstanz am gesamten Gebäudebestand der Stadt?
MB: Die Schadensintensität nimmt mit zunehmender Distanz vom Explosionszentrum exponentiell ab. Die Gebäude mit strukturellen Schäden liegen deshalb in einem eng begrenzten Bereich um den Hafen. Am stärksten beschädigt wurden ältere Gebäude, die schon vor dem Ereignis in einem schlechten Zustand waren. Neuere Bauten wiesen kaum Schäden an der Tragstruktur auf. Auch bei weit vom Hafen entfernt liegenden Häusern gab es aber Schäden an Fenstern, Türen, abgehängten Decken und Fassaden.
Viele Häuser weisen auch Schäden an der Gebäudestruktur auf. Wie hoch ist der Anteil der Gebäude, die noch als intakt gelten und innerhalb nützlicher Frist wieder hergerichtet werden könnten?
RW: Ich schätze, dass von den betroffenen Gebäuden rund 80 Prozent nicht strukturell beschädigt sind und wieder instand gestellt werden können. Es handelt sich dabei um neuere, meist mehrstöckige Gebäude. Der Rest hat massive strukturelle Schäden und muss teilerneuert oder abgebrochen werden.
MB: Der Grossteil der Gebäude kann nach den ersten
Aufräumarbeiten wieder bewohnt werden. Vor allem ältere Gebäude mit schlechter
Bausubstanz oder historische Mauerwerksbauten wiesen starke Schäden auf, was
eine Instandsetzung kostspielig macht. Es ist deshalb damit zu rechnen, dass
viel wertvolle historische Bausubstanz verloren gegangen ist.
Was müsste für die Instandsetzung der Häuser getan werden?
RW: Vieles. In den meisten Fällen müssen die stark beschädigten Fenster oder Türen ersetzt werden. Dazu braucht es in nächster Zeit sehr viele Baustoffe. Es ist wichtig, Baustoffe wie Glas und Aluminium so rasch wie möglich verfügbar zu machen. Allerdings könnte die Verfügbarkeit im Land an Grenzen stossen. Von höchster Dringlichkeit ist daher Hilfe bei der Beschaffung von Baumaterial.
Ich hoffe, dass nationale und internationale Organisationen dabei Unterstützung bieten werden. Und es muss eine strikte Kontrolle der eingesetzten Mittel eingerichtet werden. Nur so kann sichergestellt werden, dass die Hilfe auch jene erreicht, die sie benötigen. Die wichtigsten wirtschaftlichen Strukturen müssen wieder zum Funktionieren gebracht werden. Das liegt aber in der Verantwortung der Regierung.
Trotz des mediterranen Klimas sinken im Winter in Beirut nachts die Durchschnittstemperaturen auf zehn bis dreizehn Grad, oft gibt es starke Regenfällen. Was sind zurzeit die dringendsten Massnahmen?
RW: Als Erstes müssen alle losen und hängenden Gebäudeteile entfernt oder gesichert werden. Die Menschen müssen sich wieder nach vorne orientieren können, das ist für einen Neuanfang sehr wichtig. Das Ganze ist aber auch sehr herausfordernd, denn Menschen, welche keine Arbeit haben und bereits vor der Explosion bedürftig waren, können sich keine neuen Fenster oder Türen leisten. Um sich wieder sicher fühlen zu können, ist ein intaktes Zuhause sehr wichtig.
Beirut zählt rund 2,5 Millionen Einwohner. Durch die Explosion wurden 400'000 Menschen obdachlos. Was wird unternommen, um ihnen ein Obdach bieten zu können?
MB: Häufig machen Gebäude auf den ersten Blick den Eindruck, als seien sie stark beschädigt, da viele nichttragende Füllwände aus Mauerwerk, abgehängte Decken, Türen und Fenster zerstört sind. Dabei kann die Tragstruktur aber gleichwohl unbeschädigt sein. Fällt diesbezüglich die Beurteilung positiv aus, können die Reparaturarbeiten sofort starten und die Menschen können zurück in ihre Wohnungen. Das ist die effizienteste Art, das Problem der Obdachlosigkeit zu lösen. Es gab nach der Explosion in Beirut unseres Wissens keine Camps, wie das nach Erdbeben häufig der Fall ist. Viele Leute haben die zerborstenen Scheiben behelfsmässig mit Plastik ersetzt und sind in ihren Wohnungen geblieben.
RW: Viele Familien kamen bei Verwandten oder Freunden unter. Auch haben Menschen, die selbst nicht betroffen waren und zu Hause Platz hatten, anderen Unterschlupf gewährt. Mittelfristig wird dies jedoch nicht einfach sein. Was weiter unternommen wird, kann ich leider nicht sagen. Meine Hoffnung ist, dass die Menschen Hilfe erhalten, damit sie in ihre Häuser und Wohnungen zurückkehren können.
Was schätzen Sie, wie lange der Wiederaufbau dauern wird?
MB: Die Dauer des Wiederaufbaus wird massgeblich durch die Verfügbarkeit von Baumaterialien beeinflusst. Baufachleute sind nach meiner Einschätzung genügend vorhanden.
RW: Das hängt von der möglichen nationalen und
internationalen Hilfe ab. In der heutigen wirtschaftlichen Situation wird
es sehr lange dauern.
Quelle: SKH / EDA
Viele Bewohner wurden durch herumfliegende Glassplitter verletzt.
Regina Wenk und Michael Büeler
Regina Wenk engagiert sich seit 2004 in der Fachgruppe Bau des SKH. Seither war sie für die Deza, das IKRK und andere humanitäre Organisationen bei Katastrophen weltweit und auch in der Schweiz im Einsatz, hauptsächlich für Ausbildungen in Trümmerstatik. Die Bauingenieurin war zuerst Projektleiterin von Tiefbauvorhaben. Danach war sie 15 Jahre als Kreisleiterin im Kanton Aargau tätig. Seit fünf Jahren ist sie Chefin des Werkhofs der Stadt Aarau.
Michael Büeler ist seit 2017 im Expertenpool des SKH. Beirut ist sein dritter Einsatz nach den Erdbeben in Mexiko (2017) und Albanien (2019). Der Bauingenieur ETH arbeitet bei der Walt Galmarini AG in Zürich. (sts)
SKH-SET-Team
Das SKH-Team umfasste neben dem Einsatzleiter auch zwei Baustatiker (Structural Engineers) sowie einen Architekten. Zum Team gehörten auch eine Psychologin, ein Sicherheitsbeauftragter sowie je eine Person für die Telekommunikation, Support und ABC-Schutz. Später folgten Schadensplatzberater zur Unterstützung der Structural-Engineer-Teams. Der SKH-Einsatz dauerte insgesamt rund einen Monat, jener der Baustatiker eine Woche. Mit der ersten Nothilfe sowie der Beurteilung von Gebäuden war die erste Phase abgeschlossen. Die Begleitung des Wiederaufbaus von Schulen und die Zusammenarbeit mit den beiden Spitälern werden aber weiterlaufen. (sts)