12:00 BAUPRAXIS

Korrosion in der Strasseninfrastruktur: Genauere Diagnosen und Prognosen

Wenn im Schweizer Strassennetz an Ingenieurbauwerken der Zahn der Zeit nagt, ist meist Korrosion im Spiel. ETH-Professor Ueli Angst erläutert im Gespräch, weshalb diese mehr als die Hälfte der Instandsetzungskosten verursachen und was Drohnen daran ändern könnten.

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<p>1000 Franken pro Minute kosten die Korrosionsschäden an Ingenieurbauwerken im Schweizer Strassenverkehr.</p>

Ingenieurbauwerke aus Stahlbeton rosten schleichend im Verborgenen. Entsprechend wenig Beachtung findet der Zerfallsprozess in der Öffentlichkeit. Hat der Brückeneinsturz von Genua vor zwei Jahren daran etwas geändert?

Ueli Angst:Nach Genua genoss das Thema Alterung der Infrastruktur effektiv auf einen Schlag grosse mediale Aufmerksamkeit. Leider mussten dafür über 40 Menschen ihr Leben lassen … In der Schweiz waren wir uns aber bereits vor dem tragischen Unglück darüber bewusst, dass der Infrastruktur Sorge zu tragen ist. Das Bundesamt für Strassen (Astra) und die kantonalen Tiefbauämter sind generell schon immer verantwortungsvoll vorgegangen, haben die entsprechenden Themen beleuchtet und Lösungen mit Forschungsmitteln gefördert. Der Brückeneinsturz von Genua führte hierzulande denn auch zu keinem bösen Erwachen. Ob wir nun jedoch weltweit dauerhaft für die Korrosionsfrage sensibilisiert sind, bleibt abzuwarten.

Seit Jahren beschäftigen Sie sich an der ETH Zürich mit der Dauerhaftigkeit von Infrastrukturbauten. Wie gut verstehen wir heute, warum etwa Autobahnbrücken oder Stützmauern zu korrodieren beginnen?

Die grundlegenden Mechanismen, die zur Korrosion bei Stahlbetonbauten führen, kennen wir. Hauptverursacher sind aggressive Chloride aus Tausalzen, welche die Passivschicht des Bewehrungsstahls lokal zerstören. Auf der anderen Seite karbonatisiert der Beton durch die Reaktion des Zementsteins mit dem CO2aus der Luft, was die Alkalireserven reduziert und den pH-Wert absinken lässt. Beides kann zur Bewehrungskorrosion mit schweren Schäden am Bauteil führen. Wir wissen aber noch nicht genau, welche Konzentration der auslösenden Stoffe es braucht, damit die Korrosion beginnt. Seit den 1960er- und 1970er-Jahren versucht man zwar, mit dem Konzept des kritischen Chloridgehalts den Korrosionsprozess zu beschreiben. Einen allgemeingültigen Grenzwert für die korrosionsauslösende Chloridkonzentration gibt es jedoch nach wie vor nicht. Und folglich können wir dort auch nicht ansetzen, um späteren Problemen gezielt vorzubeugen.

Was hat dies zur Folge?

Als Basis für Konstruktions- oder Unterhaltsentscheide werden zumeist konservative Chloridgrenzwerte herangezogen, mit denen man den Grossteil der Fälle abzudecken hofft. Und dies, obwohl bei zahlreichen Bauwerken und Prüfkörpern in Feldversuchen nachgewiesen wurde, dass es auch mal deutlich mehr Chlorid vertragen kann, ohne dass Stahlbeton zu korrodieren beginnt. In den letzten Jahren gelangte die internationale Forschung deshalb zur Erkenntnis, dass das Konzept eines kritischen Chloridgrenzwerts seine Mängel hat. Für die präventive Verhinderung korrosionsbedingter Schäden an unseren Ingenieurbauwerken ist der alleinige Fokus auf die Chloridkonzentration nicht zielführend. Chlorid ist nicht die einzige Ursache. Weltweit versuchen Forscher nun genauer zu ergründen, weshalb die Korrosion innerhalb der Lebensdauer eines Stahlbetonbauwerks einsetzt.

Eine wesentliche Frage ist aber auch, wie schnell dieser Prozess zur Schädigung des Bauwerks führt.

Tatsächlich schädigt die Korrosion das Bauwerk zu Beginn noch nicht signifikant. Der Querschnitt des Stahls muss dafür zuerst einmal merklich reduziert werden. Entscheidend für das Schadenspotenzial ist deshalb, wie schnell der Korrosionsprozess abläuft. Geht dieser sehr langsam vonstatten, kann es unter Umständen Jahrzehnte dauern, bis sich das negativ auf die Tragfähigkeit oder Gebrauchstauglichkeit eines Bauwerks auswirkt. Nimmt der Prozess hingegen rasch an Fahrt auf, kann es innert weniger Jahren zu unliebsamen Folgen kommen.

Und was entscheidet über die Geschwindigkeit?

Entscheidend ist die Feuchtigkeit. In Bauwerksteilen, die regelmässig feucht sind, läuft die Korrosion viel schneller ab als in zumeist trockenen Abschnitten. Typischerweise oft feucht sind Fugenbereiche, bei denen Wasser durchläuft oder mangelhaft konstruierte Entwässerungen, bei denen das Wasser liegenbleibt. Aber auch Leckagen bei Entwässerungsrohren können dazu führen, dass Wasser in Bereiche eindringt, in die es eigentlich nicht gelangen sollte – etwa den Hohlkasten einer Brücke. Ein weiterer wichtiger Faktor ist die Regenexposition. Westlich ausgerichtete Bauwerksteile sind Wind und Wetter oft viel stärker ausgesetzt als etwa die Südseite der Bauten, die zudem dank der Sonne schnell wieder abtrocknet. Die entscheidende Frage ist aber die der Quantifizierung. Es ist vielen bekannt, dass die feuchten Bereiche tendenziell die Problembereiche sind, aber die Korrosionsgeschwindigkeit zu quantifizieren und damit eine Prognose machen zu können, ist nach wie vor eine Herausforderung. Sowohl hinsichtlich Messtechnik als auch theoretischen Modellen besteht da Forschungsbedarf.

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<p>Korrosion im fortgeschrittenen Stadium: Proaktiver Unterhalt sorgt dafür, dass es nie so weit kommt.</p>

Spielt auch die Qualität, in der ein Bauobjekt ausgeführt wurde, eine entscheidende Rolle?

Diesbezüglich hat die Branche viel dazu gelernt. Bereits seit den 1980er- und 1990er-Jahren ist es im Tiefbau unbestritten, dass die Qualität der Ausführung am Objekt ein zentraler Punkt ist. Dazu gehört insbesondere das Einhalten der Mindestüberdeckung des Bewehrungsstahls. Diese schützende Betonschicht darf nicht dünner ausfallen als nach geltenden Normen vorgesehen. Führt der Baumeister diese entscheidende Arbeit sorgfältig aus, so hat er schon sehr viel richtig gemacht.

Auf eindrückliche 1000 Franken pro Minute respektive 260 bis 510 Millionen pro Jahr bezifferten Sie kürzlich die durch Korrosion verursachten direkten Unterhaltskosten bei Ingenieurbauwerken im Schweizer Strassenverkehr. Was sind die Gründe dafür?

Da wir den Korrosionsprozess noch nicht im Detail verstehen, wie dies das Beispiel des kritischen Chloridgehalts zeigt, arbeiten wir hierzulande tendenziell mit konservativen Ansätzen. Dies führt unmittelbar zu höheren Kosten, weil so einiges zur Ausführung kommt, das möglicherweise noch gar nicht notwendig gewesen wäre. Doch oft wissen wir es in Ermangelung genauer Diagnosen und Prognosen im Moment schlicht nicht besser. Wir Schweizer handeln zumeist sehr proaktiv und setzen unsere Infrastrukturbauten bereits wieder instand, bevor diese einen kritischen Zustand erreicht haben. In vielen anderen Ländern pflegt man hingegen ein eher reaktives Vorgehen. Das wäre meines Erachtens aber nicht das bessere Vorgehen. Mit der Schweizer Strategie sind wir bezüglich Tragfähigkeit der Ingenieurbauwerke auf der sichereren Seite. So oder so resultieren bei beiden Philosophien in etwa die gleichen finanziellen Belastungen: Der Kampf gegen die Korrosion kostet im Moment einfach diese horrenden Beträge.

Ist der Erhalt unserer Infrastruktur-Bausubstanz ohne ausufernde Kosten also eine Illusion?

Den drohenden Kostenanstieg können wir nur vermeiden, wenn wir effizientere und genauere Methoden der Zustandsbeurteilung, -prognose und -überwachung entwickeln und flächendeckend einsetzen. Kommt der wissenschaftliche und technologische Fortschritt zu spät, werden wir die steigenden Kosten tragen oder beim Zustand unserer Infrastruktur Kompromisse machen müssen.

Wo sehen Sie in der Schweiz das Verbesserungspotenzial bei der Zustandserfassung und -beurteilung?

Sicher können wir bei der Inspektion von Bauwerken noch wirksamere und wirtschaftlichere Technologien nutzen. In Zukunft gilt es genauer zu diagnostizieren, wo das Problem eines «Patienten» liegt. Denn dann wissen wir, in welchen Bereichen, in welchem Umfang und vor allem zu welchem Zeitpunkt wir etwas tun müssen. Die routinemässige Zustandsbeurteilung wird heute oft nur rudimentär gemacht, da dieser Prozess aufwendig und teuer ist. Aktuell handelt es sich dabei ja zumeist um visuelle Überprüfungen. Für komplexere Untersuchungen wie etwa zerstörungsfreie oder zerstörende Prüfungen vor Ort ist in erster Linie der Zugang teuer. Ohne schweres Gerät, Verkehrssperrungen und viel Personal kommt man beispielsweise kaum an die Untersicht einer Brücke heran. Entsprechend werden solch detaillierten Inspektionen nicht routinemässig durchgeführt, sondern erst dann, wenn ein Unterhalts-Projekt sowieso ansteht. Mithilfe von Drohnen könnten wir viel effizienter, häufiger und reproduzierbarer inspizieren, also etwa einen Bereich mehrmals mit der gleichen Methode aufnehmen. Das würde eine genauere Diagnose des Bauwerkzustands erlauben und sich definitiv dämpfend auf die Instandsetzungskosten auswirken.

An der ETH Zürich arbeiten Sie selbst an einem fliegenden Korrosions-Inspektions-Roboter für Infrastrukturbauten.

Ja, das ist ein wichtiges Projekt unserer Forschungsgruppe. Seit gut drei Jahren entwickeln wir eine Drohne, die nicht nur Luftaufnahmen macht, sondern auch an der Betonoberfläche der Bauten andockt, um dort mittels Sensoren elektrische und elektrochemische Messungen vorzunehmen. Vom fliegenden Inspektionsroboter erhoffe ich mir persönlich viel. Erste Testflüge, die wir letzten Winter durchgeführt haben, stimmen optimistisch. Wir brauchen in Zukunft eine auf die individuellen Bauwerke abgestimmte Diagnose und Instandhaltung. Und hier sind störungsfreie Prüfverfahren unverzichtbar. Wir wollen die Aussagekraft der Prüfmethoden mittels neuer Technologien erhöhen, um so den Zustand von bestehenden Bauwerken besser diagnostizieren zu können. Dank künstlicher Intelligenz, verfeinerter Algorithmen und Robotik werden wir bei der Inspektion einen entscheidenden Schritt vorwärts machen – und unsere bestehenden Infrastrukturbauten besser beurteilen und zielgerichteter instand halten können.

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<p>Teurer Zugang zur Untersicht: Diese erfordert oft schweres Gerät, Verkehrssperrungen und viel Personal.</p>

Damit dies gelingt, braucht es aber auch gute Prognosemodelle.

Den Objektzustand am Tag X zu dokumentieren, ist sicher schon einmal hilfreich. Doch wir sollten als Nächstes versuchen, möglichst genau vorherzusagen, wie sich dieser in Zukunft entwickeln wird. Schliesslich wollen wir wissen, ob der Zustand eines Bauwerks bereits in den nächsten 5, 20 oder 50 Jahren kritisch wird. Aufgrund dieser Einschätzung kann die Instandsetzung eines Bauwerks langfristig geplant und priorisiert werden. Damit kann man sicherstellen, dass das Richtige zur richtigen Zeit getan wird. Sicher werden die politischen und finanziellen Rahmenbedingungen den Instandsetzungszeitpunkt eines Objektes weiterhin entscheidend mitbeeinflussen. Mit treffsicheren Langzeitvoraussagen hätten die Verantwortlichen jedoch die erforderlichen Argumente für längere Wartungsintervalle – nur fehlen diese derzeit leider noch.

Was müssen wir unternehmen, um über mehr Fachleute mit der benötigten Korrosions-Expertise zu verfügen?

In hoch entwickelten Industrieländern wie der Schweiz haben Ingenieure zumeist mit dem Bestandsbau zu tun und nur selten mit dem Neubau. Bei einer Spurerweiterung an einer bestehenden Brücke ist beispielsweise zuerst abzuklären, wie gut die vorhandene Substanz ist. Schweizer Bauingenieure sind im Berufsalltag also regelmässig mit Fragen des Zustands von Infrastrukturbauten konfrontiert. Und wer sich immer wieder mit gealterten Infrastrukturbauwerken befasst, sollte entsprechend ausgebildet sein und über die notwendigen Qualifikationen verfügen, um die Fragestellungen adäquat angehen zu können. Ingenieure sind deshalb unbedingt auch bezüglich Dauerhaftigkeit, Materialtechnologie und Korrosion zu schulen. Heute werden jedoch die meisten Ingenieure nach wie vor mit dem Fokus Neubau ausgebildet. Da besteht Verbesserungspotenzial: Das Thema Bestandsbau ist stärker zu gewichten und besser zu vermitteln.

Sollten Ingenieure nicht auch lernen, wie an unserer Infrastruktur weiterzubauen ist, um die volkswirtschaftlichen Kosten infolge Korrosion möglichst tief zu halten?

Es ist sicher von Vorteil, wenn Bauingenieure bereits bei der Planung die Unterhaltsfrage im Hinterkopf haben. Denken Sie etwa nur an Hohlkastenträger im Brückenbau, die einen genügend grossen Querschnitt aufweisen sollten, um bei der Inspektion einfach begehbar zu sein. Wenn zudem bekannte Problembereiche wie etwa Fugen seltener werden, macht dies unsere Infrastruktur dauerhafter. Weniger Unterhalt fällt insbesondere auch an, wenn bei Entwässerungssystemen das Gefälle richtig ausgestaltet ist. Diese Grundsätze sollten heutige Konstrukteure verinnerlicht haben.

Lassen Sie uns zum Schluss noch etwas in die Zukunft blicken. Was wird sich auf die Konstruktion unserer Verkehrsinfrastruktur auswirken?

Ein Beispiel ist die Entwicklung hin zu selbstfahrenden Autos und Lastwagen. Autonome Fahrzeuge, die eine künstliche Intelligenz steuert, werden sich anders verhalten, als von Menschenhand gelenkte Autos und Lastwagen. Eine Brücke wird zum Beispiel anders belastet, wenn alle Fahrzeuge auf ihr gleichzeitig bremsen. Das wird zu viel grösseren Horizontalkräften führen, als wenn menschliche Lenker verzögert und zeitlich gestaffelt anhalten. Solche und ähnliche Belastungsspitzen müssen wir in der Forschung sicher genauer unter die Lupe nehmen.

Ihnen dürfte es also nicht so schnell langweilig werden?

Davon gehe ich aus.(lacht)Am meisten wird uns sicher der Fortschritt im Materialbereich beschäftigen. Viele moderne Baustoffe sind effizienter und umweltfreundlicher. So wird etwa bei der Produktion neuer Zementsorten viel weniger CO2freigesetzt. Unter dem Strich bringt dies jedoch nur etwas, wenn die Bauwerke dennoch dauerhaft und nicht bereits nach wenigen Jahrzehnten wieder instand zu setzen sind, was mit einem hohen Energie- und Ressourcenverbrauch einhergeht. Aber auch bei den Bauverfahren gibt es spannende Entwicklungen wie den 3-D-Druck von Beton oder die digitale Fabrikation im Bauwesen generell. Da werden ganz neue Fragestellungen bezüglich der Dauerhaftigkeit aufkommen. Solche Systeme verbaut man nicht nur anders als die bisherigen, ihr Verhalten wird auch vom Bekannten abweichen. Deshalb ist vorgängige Grundlagenforschung notwendig, um die Risiken von Anfang an im Griff zu haben.

Zur Person

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Quelle:

<p>Ueli Angst, Assistenzprofessor am Institut für Baustoffe der ETH Zürich</p>

Ueli Angstist Assistenzprofessor am Institut für Baustoffe der ETH Zürich. Seit 2017 leitet der promovierte Bauingenieur und anerkannte Korrosionsexperte die dortige Forschungsgruppe «Dauerhaftigkeit von Werkstoffen». Angst ist zudem Präsident der Schweizerischen Gesellschaft für Korrosionsschutz (SGK), die seit 1923 als unabhängiges Kompetenzzentrum fungiert.(gd)

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