ITER: Der grösste Fusionsreaktor der Welt
Das Sonnenfeuer auf die Erde holen, um eine unerschöpfliche Energiequelle zu schaffen – dieses Ziel verfolgen 35 Länder mit dem Bau von Iter, dem ersten Kernfusionsreaktor. Die Baustelle bietet zahlreiche Herausforderungen.
Quelle: Iter Organization
Stand 2010 vor dem Iter-Baustart in Südfrankreich: 42 Hektar Fläche sind gerodet und planiert. Scherzhaft nennen die Mitarbeitenden ihr Werk «den grössten Boules-Platz der Welt».
Woher soll unsere Energie künftig kommen? Erneuerbare Energien werden nicht ausreichen, haben grossen Flächenbedarf und stehen somit in Konkurrenz zur Landwirtschaft. Wind- und Sonnenenergie sind nicht ununterbrochen verfügbar.
Atomkraftwerke werden in zahlreichen Ländern zum Auslaufmodell, Kohlekraftwerke beim Ausstieg aus den fossilen Energien ebenfalls. Irgendwoher wird die Energie kommen müssen, die die Grundlast sichert. Eine Aufgabe, die im Moment noch Kohle-, Gas- und Atomkraftwerke übernehmen. Der Ausstieg aus fossilen Energien erfordert neue Lösungen.
Ein ehrgeiziges Projekt im Süden Frankreichs soll die Lösung bringen: Iter ist der erste Kernfusionsreaktor, der diese Technologie im Kraftwerksmassstab erproben soll. In ihm entstehen wie in der Sonne Helium und freie Neutronen, die hohe Energien freisetzen, die man zur Stromerzeugung nutzen möchte. Der «Brennstoff» sind verschiedene Wasserstoffisotope, die, anders als Uran, in unbegrenzter Menge zur Verfügung stehen.
Iter ist bei weitem nicht der erste Fusionsreaktor. Die Technologie wurde über Jahrzehnte an zahlreichen Forschungsinstituten in kleinen Versuchsreaktoren immer weiter entwickelt. Bernard Bigot, der Generaldirektor von Iter, erklärt: «Es ist ein wenig wie beim Bau einer Kathedrale. Diejenigen, die das Fundament für die Fusionsforschung gelegt haben, werden die Fertigstellung der ersten Kraftwerke nicht mehr erleben.» Iter soll der mit Abstand grösste Fusionsreaktor werden, den es jemals gab. Funktioniert die Technologie bei Iter, wäre das der entscheidende Schritt vor dem Bau kommerzieller Kraftwerke.
Quelle: Iter Organization
Stand Mitte 2019: 73 Prozent der Installationen inklusive der nötigen Verwaltungsgebäude sind fertig. Im Mittelpunkt der Tokamak-Komplex, der bereits fertig betoniert ist. In ihm wird der Fusions-Reaktor stehen. Der exakte Standort wurde nach der Beschaffenheit der Felsen im Untergrund gewählt.
35 Länder auf einer Baustelle
Noch aber ist Iter eine gigantische Baustelle. Der Reaktor soll frühestens in fünf Jahren in Betrieb gehen. Bernard Bigot: «Um die Machbarkeit der Technologie zu beweisen, braucht es eine Maschine, die eine sehr grosse Menge Plasma beherrschen kann. Das Budget und die menschlichen Ressourcen, die für seine Entwicklung nötig sind gehen weit über das hinaus, was eine einzige Nation aufbringen könnte.» Daher wird das ehrgeizige Projekt von fast drei Dutzend Ländern gemeinsam gestemmt.
35 Länder produzieren Komponenten und errichten im Süden Frankreichs die nötigen Gebäude und Infrastrukturen. Die EU (dank eines Kooperationsvertrags inklusive Schweiz) erstellt alle Gebäude und trägt 45 Prozent der Gesamtkosten. Die anderen Länder tragen je neun Prozent bei: China, Indien, Japan, Russland, Südkorea und die USA.
Die Verträge sehen vor, dass die wissenschaftlichen Erkenntnisse und das Wissen über die Produktion der Komponenten unter allen Teilnehmern geteilt werden. Etwa 90 Prozent der Kosten werden nicht in Form von Geld aufgebracht, sondern in Naturalien, also Sachleistungen. Jedes Land trägt durch Entwicklung, Herstellung und Lieferung von Komponenten und Systemen seinen Teil bei. So ist sichergestellt, dass die Industrie überall profitiert und Spezialwissen gewinnen kann.
Aktuell sind etwa 1600 Arbeiter und 400 Ingenieure und Projektmanager vor Ort. Bernard Bigot: «Die Geschäftssprache auf der Baustelle ist Englisch. Das ist eine Herausforderung, denn nur für 15 Prozent der Mitarbeitenden ist das die Muttersprache.» An den Helmen kann man schon von weitem erkennen, mit wem man es zu tun hat: Gewöhnliche Bauarbeiter haben weisse, Vorarbeiter rote, blaue Vertreter von Iter von Wissenschaftlern und Ingenieuren über Techniker bis zu Kommunikationsleuten, grüne tragen Gesundheits- und Sicherheitsverantwortliche. Gelb ist den Besuchern vorbehalten, von denen etwa 15 000 pro Jahr den Weg nach Südfrankreich finden.
Quelle: Iter Organization
Der Reaktormantel des Tokamak ist nicht rund, sondern besteht aus 18 geraden Wänden oder Facetten. Die nukleartaugliche Betonstruktur um den Fusionsreaktor enthält 30 000 Tonnen Baustahl und 150 000 Kubikmeter Beton. Die dichtesten Eisengeflechte befinden sich im Fundament unter der Maschine und in der oberen Abdeckung.
Logistik für 35 Länder koordinieren
Extrem grosse Komponenten werden direkt auf der Baustelle hergestellt. Der Rest kommt per Schiff und Schwerlasttransporten aus allen Teilen der Welt Das Chaos scheint programmiert. Bigot sagt dazu: «Unsere Logistik-Spezialisten müssen die Produktionsaufgaben für 35 Länder koordinieren, samt Nachverfolgbarkeit, Verpackung, Lieferung und Lagerung. Die dabei gewonnenen Erfahrungen fliessen bereits in andere internationale Kollaborationen ein.»
Die meisten Teile reisen übers Mittelmeer zum Hafen Fos-sur-Mer. Von dort gelangen sie über eine speziell an die Schwertransporte angepasste Strasse zur Baustelle. Denn der Standort hat einen Nachteil: Er ist 100 Kilometer vom Meer entfernt. Das sorgte lange für Diskussionen, Japan weibelte energisch für einen Standort in seinem eigenen Land.
Bigot räumt ein: «Der Standort war lange ein Streitpunkt. Erst als Frankreich anbot, eine speziell auf Schwerverkehr ausgerichtete Trasse auf eigenen Kosten zu errichten, konnte Jacques Chirac ihn durchsetzen.» Dafür erhielt Japan Sonderkonditionen und durfte auch die ersten beiden Generaldirektoren stellen. Genau das aber brachte das Projekt lange Zeit ins Trudeln.
«Neue Verzögerungen, höhere Kosten»
Noch unter Ronald Reagan und Michail Gorbatschow zu Zeiten des kalten Krieges gestartet, sorgte Iter Jahr um Jahr vor allem durch Kosten- und Organisationschaos für Schlagzeilen. Letztmals 2015 titelt der «Spiegel»: «Neue Verzögerungen, höhere Kosten.» Die Rede war, wieder einmal, von Kostensteigerungen und einer weiteren Verzögerung des Starts um fünf Jahre. «Allein die Errichtung des Tokamak-Gebäudekomplexes sei um bis zu 45 Monate in Verzug und könne sich um bis zu einer Milliarde Euro verteuern», zitierte die Zeitschrift aus einem internen Bericht des deutschen Bundesforschungsministeriums an den Haushaltsausschuss.
Von Anfang an litt das internationale Projekt unter Bürokratie, Problemen im Management und knappem Budget. Die Sowjetunion zerfiel. Russland blieb an Bord. 1999 stiegen die USA aus. Das hätte fast das Aus bedeutet. Als man das Projekt dann auf das absolut Nötigste reduziert hatte, kehrten 2003 auch die USA ins Projektteam zurück.
Die Kosten sollten damals auf fünf Milliarden US-Dollar begrenzt werden, Betriebsbeginn 2016 sein. Das konnte für ein Projekt dieser Grössenordnung nicht genügen und war wohl eher politisch motiviert gerechnet. Kurze Zeit später war bereits von 15 Milliarden die Rede. Das ganze Projekt war von Anfang an höchst politisch. Stets wurde darauf geachtet, dass die Interessen aller Träger in gleichem Masse berücksichtigt wurden. Nicht die beste Voraussetzung für effizientes, kostengünstiges Arbeiten. Weder der erste Generaldirektor noch sein Nachfolger bekamen das Projekt in den Griff.
Seit 2015 ist es ruhiger geworden um den Kernfusionsreaktor. Das liegt vor allem an Bernard Bigot. Der Franzose wurde 2015 Generaldirektor, räumte auf und hält die Fäden fest in der Hand. Bigot, Physiker und Chemiker und ehemals Direktor des französischen Kommissariats für Atomenergie, griff mit seiner Managementerfahrung rigoros durch und brachte Ruhe ins Projekt.
«Wir diskutieren jedes Teilprojekt und suchen eine für alle gangbare Lösung. Dann erwarte ich, dass die gefundene Lösung umgesetzt wird. Nachverhandlungen haben keinen Platz», schildert er sein Prinzip. Er kannte die vernichtenden Berichte und hatte vor Amtsantritt die Bedingung gestellt, technische Entscheidungen selbst treffen zu dürfen und sie nicht wie seine Vorgänger durch alle Gremien bringen zu müssen.
Quelle: Iter Organization
Dieses Spezialfahrzeug wurde entwickelt, um die strahlensicheren Türen, die die 46 Galerien abdichten sollen, zu manövrieren. Jedes Tor wiegt bei Anlieferung 30 Tonnen. Weitere 30 Tonnen kommen dazu, sobald es mit Beton gefüllt ist.
Zwei Drittel sind fertig
Der aktuelle Projektstand: 65 Prozent der Anlagen, die es braucht, um das erste Plasma zu erzeugen, sind fertig. Bigot sieht das Projekt nach wie vor bestens im Zeitplan. Der aktuelle Plan kalkuliert mit 20 Milliarden Euro Gesamtkosten.
Das erste Plasma soll im Dezember 2025 produziert werden, und seit mehreren Jahren wurden beide Zahlen nicht mehr nach oben korrigiert. Bigot hat allerdings auch geschickt die ursprünglichen Anforderungen angepasst, um die symbolträchtige Jahreszahl halten zu können.
«First plasma» ist jetzt das Ziel, nicht die komplette Fertigstellung der Anlage. Das ist die Bauphase der Fusionsanlage, in der die zentralen Komponenten der Anlage getestet werden können. Nach dem Iter-Übereinkommen ist dies der Zeitpunkt, an dem die Bauphase offiziell abgeschlossen ist und die Betriebsphase beginnt.
Wichtige Komponenten werden der Anlage erst später zugefügt. Es folgen noch drei weitere Montagephasen, mit denen die Leistung stufenweise erhöht wird, bis ab 2035 dann die volle Fusionsleistung mit Deuterium und Tritium als Brennstoff getestet werden kann.
Trotzdem: Es geht in grossen Schritten vorwärts. Das kannte man lange anders. Der Bericht der EU-Kommission von 2019 hält allerdings fest: «In Bezug auf den Termin für das erste Plasma sind keine Spielräume für unerwartet eintretende Entwicklungen und Risiken vorgesehen, die allerdings bei Vorhaben dieser Komplexität nach vernünftigem Ermessen nicht ausgeschlossen werden können.»
Sie empfiehlt beim Zeitplan einen Spielraum von zwei Jahren und bei den Finanzen einen Puffer zehn bis zwanzig Prozent. Noch aber hält Bigot an 2025 fest, um das ehrgeizige Projekt endlich aus den Negativschlagzeilen zu bringen, was offensichtlich passabel gelungen ist.
Es gibt eine Menge Erfolge zu melden: Die Bauteile für die technischen Anlagen sind zum Grossteil so weit produziert, dass sich der Fokus auf das Zusammensetzen verlagern kann. Im Juli 2019 konnte Bigot festhalten: «Wir haben drei Viertel der Ingenieursarbeiten beendet. Viele Installationen wie der <grösste Kühlschrank der Welt>, unsere Kälteanlage, und die Anlage zur Stromumwandlung werden gerade montiert.»
Der Bericht der EU-Kommission hält fest, dass das Projekt nun endlich gut genug aufgestellt ist, um den «Übergang zu einem stabilen und nicht von Notsituationen geprägten Zustand zu bewältigen». Er fand aber auch, dass noch erhebliche Fortschritte notwendig erforderlich seien, insbesondere im Blick auf die Auftragsverwaltung und die Beschaffungsverfahren.
Quelle: Iter Organization
Von Oktober bis Dezember wurde 6500 Quadratmeter Boden der Montagehalle mit Epoxidharz beschichtet. Er hält auch den Schwerlasttransportern stand, die Teile für den Tokamak anliefern. Die Montage erfolgt unter möglichst reinen Bedingungen, da jede Verunreinigung die Funktionsfähigkeit der Maschine einschränkt.
Tokamak fertig betoniert
Seit wenigen Wochen sind auch die Betonierarbeiten am Iter-Herzstück, dem Tokamak, beendet. Im Tokamak wird eines Tages die Kernfusion stattfinden. Der letzte Beton des Tokamak-Gebäudes wurde im November 2019 gegossen. Zentrales Element der Arbeiten war der 3,2 Meter dicke Reaktormantel. Er ist eine Art «Ringfestung», die die Maschine umgibt und Mensch und Umwelt von der radioaktiven Strahlung abschirmt.
Das dichte Eisengeflecht liess den Einsatz herkömmlicher Betonrüttler nicht zu. Also musste ein extraflüssiger, selbstverdichtender Beton gefunden und der Giessvorgang an einem originalgrossen Teilmodell geübt werden.
Das schwimmende Fundament des Tokamak ruht auf mehr knapp 500 im Erdreich verankerten Säulen und schwingungsdämpfenden Sockeln und ist erdbebensicher – es kann sich 10 Zentimeter in jede Richtung bewegen.
Im Moment werden die Kräne installiert, die nötig sind, um den Tokamak im Inneren des Mantels aufzubauen. Allein seine Vakuumkammer, in der die Kernfusion stattfinden wird, hat 1400 Kubikmeter und besteht aus neun Sektoren, die vor Ort absolut dicht miteinander verschweisst werden müssen.
Dabei geht es um Präzision auf Zehntelmillimeter. Die Wände der Vakuumkammer müssen extrem viel aushalten, wenn diese erst einmal in Betrieb ist. Bigot: «Das Plasma, aus dem wir die Energie gewinnen, ist 150 Millionen Grad heiss – zehn Mal heisser als im Mittelpunkt des Sonnenfeuers.
Die Vakuumkammer ist von supraleitenden Magneten umgeben, die das Plasma am gewünschten Ort halten. Diese Magneten werden auf minus 269 Grad Celsius gekühlt – wenige Grad über dem absoluten Nullpunkt, damit sie ihre supraleitenden Eigenschaften entwickeln können.» Man mag sich die extreme Beanspruchung der Materialien vage vorstellen.
24 Tonnen Harz auf dem Boden
Insgesamt besteht die Maschinerie des Tokamak aus mehr als einer Million Teilen. Manche haben die Höhe eines sechsstöckigen Gebäudes, andere die Masse einer voll beladenen Boeing 747. Produziert werden sie in Dutzenden Ländern. Dennoch müssen sie auf Millimeterbruchteile genau zusammenpassen. Auch vergleichsweise einfache Arbeiten haben bei Iter spezielle Massstäbe. Um all die Bestandteile des Tokamak möglichst staubfrei montieren zu können, braucht es eine eigene Montagehalle. Sie ist seit Kurzem fertig.
Ihr i-Tüpfelchen ist der Boden. Im Oktober begann man ihn mit mehreren Schichten weissen Epoxidharzes zu versehen. Ende Dezember war diese Aufgabe abgeschlossen. Insgesamt 24 Tonnen Harz wurden auf die 6500 Quadratmeter aufgebracht.
Alle Teile für den Tokamak werden nun erst in einer Vorhalle gereinigt und dann in diesen Raum gebracht. Schmutz und Staub würden die Präzision der hochempfindlichen Geräte gefährden und damit auch die Eigenschaften des Plasmas. Der Boden ist robust genug, auch schweren Maschinen standzuhalten, die die grossen Komponenten zu den Hallenkränen transportieren.
Quelle: Iter Organization
Eines der neun Elemente, aus denen die Vakuumkammer des Tokamak zusammengeschweisst wird. Es besteht aus 300 Teilen und wiegt 125 Tonnen. Hier ist es auf dem Weg zum Test.
Realisierung stets 20 Jahre entfernt
Seit in den 1950er-Jahren in Moskau der erste Tokamak entworfen wurde, rückt die Machbarkeit immer ein Stück weit in die Zukunft. Egal, in welchem Jahrzehnt man die Berichte der Presse liest – stets ist der Moment, in dem die Menschheit ihre Energie aus der Kernfusion bezieht, nur 20 bis 30 Jahre entfernt.
Iter soll nun einen entscheidenden Schritt nach vorn bringen, ob nun 2025 oder (wieder einmal) später – das Ziel ist es, zu zeigen, dass es technologisch machbar ist, aus Kernfusion Energie zu gewinnen. Die Testergebnisse, die man für die nötigen Schlüsseltechnologien wie Plasmaheizung, Diagnostik oder Robotik dank Iter erstmals im Kraftwerksmassstab gewinnt, sollen direkt in die ersten Kraftwerksprototypen einfliessen.
Bigot glaubt fest daran, dass Fusion die Energiequelle der Zukunft ist: «Der Bedarf an Energie wird sich bis 2100 mindestens verdreifachen. Im Moment liegt der Anteil des Stroms dabei bei 20 Prozent, bis 2100 wird er bei 50 Prozent liegen. Um ein Jahr lang ein Gigawatt Leistung bereitstellen zu können, braucht es in einem herkömmlichen Atomkraftwerk 50 000 Kilogramm Uran oder im Kohlekraftwerk acht Millionen Tonnen Kohle. Im Fusionskraftwerk genügen 350 Kilo Wasserstoffisotope.»
Dennoch gibt es zahlreiche Kritiker des Projekts. Als dem «Spiegel» Anfang 2019 interne Dokumente zugespielt wurden, denen zufolge die EU-Kommission plant, die Ausgaben für den Forschungsreaktor demnächst zu 100 Prozent alsKlimaschutz-Massnahmeim Budget zu verbuchen, sorgte das für einige Aufregung. Der Rechentrick soll das erklärte EU-Ziel in greifbarerere Nähe rücken, künftig 25 statt nur 20 Prozent des EU-Budgets für Klimaschutz auszugeben.
Schon mit den 20 Prozent hatte die Kommission erhebliche Schwierigkeiten, wie der EU-Rechnungshof kritisierte. Iter war darin bisher schlicht gar nicht berücksichtigt. Immerhin handelt es sich im Grunde um ein sehr teures Forschungs- und Industrieförderungsprojekt mit ungewissem Ausgang. Es ist durchaus möglich, dass die Technologie nie funktionieren wird. Nicht wenige Umweltverbände fordern dringend Investitionen in andere CO2-neutrale Technologien.
Quelle: Alexandra von Ascheraden
Fahnen am Eingang zum streng gesicherten Baustellengelände zeigen die Internationalität des Bauprojekts.
Kritiker sagen, Iter komme zu spät
Der «Spiegel» zitiert in seinem Bericht ausführlich den luxemburgischen Energieminister Claude Turmes, der die Meinung zahlreicher Kritiker auf den Punkt bringt: «Es ist absurd, dass demnächst mehr als die Hälfte aller Energieforschungsmittel der EU in den Iter-Reaktor fliessen soll.
Wir müssen stattdessen bei realistischen Technologien vorankommen.» Selbst wenn Iter eines Tages Strom liefern sollte, käme das für den Klimaschutz zu spät. «In Zeiten einer zunehmend dezentralen Energieversorgung ist dieses Projekt damit völlig anachronistisch», kritisiert Turmes weiter.
Der Grünen-Politiker warnt zudem davor, dass das Iter-Projekt auch der herkömmlichen Atomenergie neuen Auftrieb verleihen könnte. «Sollte Iter zum Klimaschutz-Projekt umetikettiert werden, wäre das ein wichtiger Sieg für die Atomlobby», so Turmes. Die Energiekonzerne seien wirtschaftlich mit der Atomkraft gescheitert: «Der Klimaschutz ist für sie die letzte Chance, die Atomenergie in Zukunft noch zu rechtfertigen.»
Brexit und Trump
Unsicherheiten bleiben. Falls die USA womöglich urplötzlich erst über empörte Tweets des Staatenlenkers Donald Trump und später eine reale Unterschrift unter einem Austrittsvertrag aussteigen, sieht es düster aus. Im Moment hält man die USA mit dem schlagenden Argument bei der Stange, dass sie nur neun Prozent des Gesamtbudgets tragen, aber Zugang zu sämtlichen Forschungsergebnissen und industriellen Anwendungen bekommen, die im Rahmen von Iter entstehen.
Der nächste Wackelkandidat ist Grossbritannien mit seinem Brexit, Die britische Beteiligung an Iter läuft über die EU, und dort hat man grosses Wissen zur Kernfusion gebündelt. In der Nähe von Oxford steht Jet (Joint European Torus). Er ist mit sechs Meter Durchmesser im Moment der grösste in Betrieb befindliche Tokamak. 1991 gelang Jet erstmals die Kernfusion, mit der die Machbarkeit der Technik bewiesen wurde. Die Erkenntnisse aus seinem Betrieb fliessen in den deutlich grösser dimensionierten Iter ein.
Jet hält aktuell den Rekord: Es gelang 16 Megawatt Fusionsenergie zu gewinnen, allerdings wurden dafür 24 Megawatt Heizenergie aufgewendet. Von Iter verspricht man sich 500 Megawatt Energie bei 50 Megawatt Aufwand an Heizenergie. Jet selbst ist zu klein, um Netto-Energiegewinn zu generieren.
Das heisst: Bei Jet wendet man noch mehr Energie auf, als man am Ende gewinnen kann. Iter hat ein zehnmal grösseres Plasmavolumen und somit das Potenzial, erstmals mehr Energie zu produzieren, als für das Aufheizen des Plasmas benötigt wird. Gelingt das, wäre der Weg frei für kommerzielle Fusionskraftwerke. Sofern die Fortschritte bei den erneuerbaren Energien sie nicht überflüssig gemacht haben. Noch ist alles offen.
Die Pressereise zu Iter erfolgte im Rahmen der WCSJ 2019 in Lausanne (World Conference of Science Journalists) und wurde von Sponsoren finanziert.
Iter, Kernfusion, Tokamak und Plasma
Iter
Iter steht für International Thermonuclear Experimental Reactor. Die Abkürzung wurde später beibehalten, nun aber auf das lateinische Wort für Weg, «iter», zurückgeführt. Iter soll als bisher grösste wissenschaftliche Versuchsanlage die Machbarkeit von Kernfusion im Kraftwerksmassstab nachweisen. Die Erfahrungen, die man in ihrem Betrieb sammelt, sollen den Weg für die kommerzielle Nutzung der Fusion ebnen.
Kernfusion
Heutige Kernkraftwerke erzeugen Energie durch die Spaltung von Atomen. Kernfusion gewinnt Energie aus der Verschmelzung von Atomkernen mit ähnlichen Prozessen, wie sie im Inneren der Sonne ablaufen. Dazu werden Wasserstoffisotope (Deuterium und Tritium) durch Aufheizen auf 100 Millionen Grad Celsius zu Plasma und dabei auf so hohe Geschwindigkeiten gebracht, dass sie ihre Abstossungskräfte überwinden und bei Kollision zu Helium fusionieren. Dabei werden Neutronen freigesetzt. Die bei der Fusion entstehende Energie verbleibt zu 20 Prozent im Helium und zu 80 Prozent in den freigesetzten Neutronen.
Neutronen sind elektrisch neutral, also ohne Ladung. Sie werden somit nicht von den Magneten, die das Plasma am Ort halten, beeinflusst. Sie prallen an die Wand der Vakuumkammer, die dadurch aufgeheizt wird. Diese Energie würde im Fusionskraftwerk zur Produktion von Dampf genutzt. Bei Iter jedoch wird die Energie nicht genutzt, sondern nur die Prozesse zu ihrer Entstehung analysiert, daher fliesst die Energie in einen Kühlkreislauf ab.
Tokamak
Ein Tokamak ist eine Anlage, in der Plasma mittels Magnetfeldern in einer ringförmigen Kammer eingeschlossen wird. Die Ingenieure haben verschiedene Methoden entworfen, wie Kernfusion technisch umgesetzt werden kann. Bei Iter hat man sich für eine in den 1950er-Jahren in Moskau entwickelte Variante entschieden.
Der Tokamak hat die Form eines überdimensionierten Donuts. In ihm schliesst man das Plasma, aus dem die Energie gewonnen wird, mit extrem starken Magneten ein und heizt es mit Mikrowellen auf 100 bis 150 Millionen Grad Celsius auf, bis die Kernfusion startet und die im Plasma frei gewordenen Teilchen zu Helium verschmelzen und dabei Energie freisetzen.
Bei der Sonne kommt die Fusion aufgrund ihrer enormen Masse zustande. Sie wiegt 300 000 mal so viel wie die Erde. Unter dem Druck ihrer Schwerkraft werden die Wasserstoffatome so eng zusammengepresst, dass es zur Fusion kommt. Auf der Erde müssen wir den Vorgang künstlich anstossen, indem wir die Teilchen durch Aufheizen beschleunigen, sodass sie mit solcher Wucht kollidieren, dass sie verschmelzen.
Ein Kilo Wasserstoff, das zu Helium wird, liefert so viel Energie wie die Spaltung von vier Kilo Uran. Bräche das Magnetfeld zusammen, das das Plasma im Tokamak am gewünschten Ort hält, würde das Plasma einfach abkühlen und die Fusion erlöschen. Eine von anderen Forschungsteams favorisierte Alternative zum Tokamak ist der Stellarator. Seine Form ist deutlich komplizierter, sie ähnelt einem Möbiusband. Beispiel hierfür ist Wendelstein 7-X in Greifswald (D).
Plasma
Bei extremen Temperaturen trennen sich die Elektronen von den Atomkernen. Dann kommt die Materie in einen Zustand, bei dem die Atomkerne von ihren Elektronen vollkommen getrennt sind. Diesen Zustand nennt man Plasma. Im Plasma herrschen wegen der frei gewordenen geladenen und neutralen Teilchen ideale Bedingungen, unter denen leichte Elemente verschmelzen und somit Energie abgeben können. Es kommt zu einer energetischen Kettenreaktion.(ava)
Quelle: Iter Organization
Schnitt durch den Tokamak-Fusionsreaktor.
Der Tokamak: Zahlen und Fakten
Iter wird seine Energie in einem Tokamak gewinnen. Tokamak ist ein russisches Akronym für «reifenförmige Kammer mit Magnetspule». Die Technologie wurde noch zu Zeiten der Sowjetunion in den 1950er-Jahren entwickelt. Der Iter-Tokamak (die farblich hervorgehobene reifenförmige Kammer in der Mitte) ist mit Abstand der grösste und komplexeste, der je gebaut wurde. In ihm fliessen Erkenntnisse aus Hunderten kleiner Fusionsreaktoren zusammen, die im Laufe der Jahrzehnte bereits zu Forschungszwecken in Betrieb gegangen sind. Die Vakuumkammer ist von supraleitenden Magneten umgeben, die das Plasma am gewünschten Ort halten.
- Gewicht des Tokamak: 23 000 Tonnen
- Höhe: 30 Meter
- Durchmesser 30 Meter
- Plasmavolumen 840 Kubikmeter
- Temperatur im Zentrum des Plasmas: 150 Millionen Grad Celsius
- Leistung: 500 Megawatt
Linktipps
Erklärung der Wissenschaft hinter der Kernfusion:
https://www.youtube.com/watch?v=XNcGpQCX8a0
Drohnenvideo von der Baustelle:
https://www.youtube.com/watch?v=ex5rJjmtLgQ
Aktueller Stand der Baustelle (November 2019):
https://youtu.be/GzfyzBzVEJo
360 Grad Video zum Hineinzoomen in die verschiedenen Bauphasen:
https://www.iter.org/news/mag