Gender- und alltagsgerechtes Bauen: Vielfältige Bedürfnisse im Fokus
Ein Gebäude oder öffentlicher Platz dient selten einer einzigen Nutzergruppe. Doch erhalten die Bedürfnisse von älteren Menschen, Frauen und Kindern beim Planen und Bauen genügend Aufmerksamkeit? Ein Schweizer Netzwerk sieht Handlungsbedarf und macht sich für einen Kulturwandel in der Baubranche stark.
Quelle: Spectral-Design – Fotolia
Die ausserordentliche Situation während der Corona-Pandemie hat vielen, die plötzlich von daheim arbeiteten, die Wichtigkeit eines guten Wohnumfeldes aufgezeigt.
Alex und Barbara sind 36 Jahre alt und wohnen in der
gleichen Siedlung. Da hören ihre Gemeinsamkeiten aber schon auf. Alex ist
Single und berufstätig – ausser Haus. Gewöhnlich verlässt er frühmorgens die
Wohnung. Abends trifft er gerne Freunde in einer Bar, dreht bei schönem Wetter
noch eine Runde mit dem Velo oder macht einen Abstecher ins Fitnessstudio. Wenn
er zuhause ankommt, ist Erholung angesagt.
Auch Barbara ist arbeitstätig – aber lediglich an zwei Tagen
pro Woche ausser Haus. Die restliche Zeit betreut sie ihre zwei kleinen Kinder.
Nebenbei kümmert sie sich um den Haushalt und hilft ihrer kranken Mutter, die
ein paar Strassen weiter wohnt. Die Leben von Alex und Barbara könnten verschiedener
nicht sein. Und ihre über 200 Nachbarinnen und Nachbarn haben alle ebenso
individuelle Lebensumstände und unterschiedliche Ansprüche an ihre
Wohnumgebung. Wird die Überbauung ihnen allen gerecht?
Skepsis gegenüber Genderthema
Ein bunter Mietermix geht mit potenziellen
Interessenkonflikten einher. Das gleiche gilt für Parks, Plätze und andere
öff-entliche Anlagen. Damit die unterschiedlichen Bedürfnisse der Nutzerinnen
und Nutzer – von Jungen und Alten, Arbeitstätigen und Betreuungspersonen,
Frauen und Männern – beim Bauen genügend Aufmerksamkeit erhalten, setzt sich
der Verein «Lares» für das gender- und alltagsgerechte Planen und Bauen ein
(siehe Box unten).
«Planerinnen und Planer berücksichtigen stets unzählige
Faktoren bei ihrer Arbeit. So wie sie beispielsweise den Schattenwurf oder die
Aufenthaltsqualität in ihre Projekte einfliessen lassen, sollten sie bewusst
auch die Genderthematik einbeziehen», betont Stephanie Tuggener, Co-Präsidentin
des Vereins mit Sitz in Bern. Dass das neudeutsche Wort «Gender» bei manchen
eine gewisse Skepsis – wenn nicht sogar Abwehrhaltung – auslöst, ist der
Geografin und Raumplanerin bewusst. «Im Grunde genommen streben wir eine gute,
alltagsgerechte Planung an, welche die Vielfalt der Menschen und ihre unterschiedlichen
Aufgaben berücksichtigt. Das hat nicht zwingend mit Mann oder Frau zu tun.»
Vielmehr gehe es um soziale Rollen und den Blick für die Unterschiede.
Alex zum Beispiel möchte sein neues Fahrrad nach der Arbeit in einem geräumigen und abschliessbaren Velokeller verstauen – ohne dass er es auf dem Weg dorthin an Wänden, Türrahmen oder Kinderwagen anstösst und womöglich noch beschädigt. Barbara freut sich über das Vordach beim Eingang, wenn sie mit den Kindern und Einkaufstaschen im strömenden Regen den Hausschlüssel hervorkramt und noch schnell den Briefkasten leeren muss. Und das pensionierte Ehepaar von nebenan ist froh um den grossräumigen Flur. Die zwei über 70-Jährigen wollen schliesslich unfallfrei an der Nachbarin mit ihren zwei Kindern, den Einkaufstaschen und dem Kinderwagen vorbeikommen, wenn sie zu ihrem Mittagsspaziergang aufbrechen.
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